1.250 cm
EintausendzweihundertfünfzigWelch eine ungeheure Zahl! Wenn sie gewusst hätte, welch eine gewaltige Zahl dies ist, hätte sie sicher nicht diesen Gewaltakt begonnen. Sie weiß nichts von Zahlen, kann darum nicht abschätzen, welchen Wert diese Zahl beinhaltet. Sie spürt nur mit ihren Augen, dass dies eine unwahrscheinliche Größe sein muss.
        Bis an den Straßenrand hat sie es nun geschafft, mühselig und mit aller Kraft auch noch die letzte Strecke. Immer wieder musste sie eine Ruhepause einlegen, immer öfter hatte sie sich zwischendurch zurückgezogen, niedergelegt. Ständig aber trieb ihre begonnene Aufgabe sie weiter. Ohne diese Beharrlichkeit wäre sie mit Sicherheit niemals so weit gekommen.
              Nun aber sieht sie sich einer Aufgabe gegenüber, die unvorstellbar groß ist. Das ›Gelobte Land‹ liegt vor ihr im hellen Sonnenschein; diese heiße Sonne macht ihr zwar schwer zu schaffen, doch das satte Grün der Wiesen und das grünblaue Wasser des kleinen Sees auf der anderen Seite lockt mit unwiderstehlicher Kraft. Eine innere Stimme sagt ihr zwar: »Kehre um, das schaffst du nicht!« Doch die magische Anziehungskraft der anderen Seite ist stärker. Seit jeher, seit tausend Generationen, ist es dieses bewusste gelobte Land, dass all ihre Vorfahren jährlich aufsuchen, immer und immer wieder. Es ist eingeprägt in ihre Gene, unlöschbar festgelegt.
        Nun sitzt sie dort am Rande der Strasse, hört das Donnern der vorbeirasenden Autokarawanen. Hier und da dann auch eine kleine Pause dazwischen, bis wieder eins dieser Ungetüme vorbei braust. Sie überlegt nicht, weil ihr Instinkt nicht darauf ausgerichtet ist. Eine kleine Erdkröte hat nun mal keinen Verstand, den sie zum Denken einsetzen kann.
        Sie wird nur von ihrem Trieb geleitet, dessen Erfüllung aber liegt auf der anderen Seite der Strasse. Es sind genau zwölf Meter und fünfzig Zentimeter, die das Tier von ihrem Ziel trennt. Peanuts für einen Menschen. Schier endlose Entfernung für dieses kleine Tier, das seinem Urinstinkt folgen muss; ob es nun will oder nicht.
        Nachdem sie nun eine ganze Zeit lang am Rande der Strasse sitzt, wird es nun ernst. Sie läuft einfach los, langsam, etwas holperig, aber sie läuft. Schaut nicht nach links, nicht nach rechts, geradeaus ist ihr Weg. Der Verkehr fließt an ihr vorüber. Sie bleibt nicht liegen, nein - sie marschiert immer weiter vorwärts. Die Ungetüme der Strasse brausen an ihr vorüber, kleine und große Fahrzeuge, Trucks und Sprinter, Pkws und Motorräder.
              Die kleine Kröte läuft unbeirrt weiter vorwärts. Dann, nach einer endlos erscheinenden Zeit, ist es endlich so weit. Entgegen jeder Erwartung hat sie es geschafft. Sie hat die Strasse überquert! Das verhältnismäßig winzige kleine Tier hat das Glück ihres Daseins, ihr Lebensziel erreicht, hat die technisierte Welt mit sehr viel Glück überwunden, hat überlebt.
        Sie hatte keine Ahnung von der Gefahr, in der sie sich befand. Denn dann, - wenn sie sich dessen bewusst wäre, würde sie niemals den Willen und die Kraft aufbringen, nach einigen Wochen den Rückweg, nun entgegengesetzt, anzutreten. Denn auch das ist vorgegeben: Sie muss wieder in ihr altes Dasein zurückkehren. Gut, dass sie dies selbst nicht weiss.

        Was sagt mir nun dieses unscheinbare kleine Wesen? Kann ich etwas von ihm lernen?  Ja!
Wenn ich etwas Neues anfange, wenn ich etwas nicht Vorhersehbares wage, kann ich gewinnen. Es kann aber auch sein, dass ich verliere.
Aber - wenn ich gar nichts tue, habe ich im Grunde schon verloren! Und sei es auch nur mein Selbstwertgefühl ...


 ©2019 by H.C.G.Lux

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Kommentare (7)

Rosi65

Vielleicht könnte man diesen Motor auch als Lebensmut bezeichnen, der auch in ausweglosen Situationen ein Wesen antreibt, trotz Lebensgefahr, sein Ziel zu erreichen.
Ein gutes Beispiel dafür sind sicher die vielen Flüchtlinge, die sich des hohen Risikos wohl bewusst, in ihrer Verzweiflung alles auf eine Karte setzen. 

Rosi65

Pan

Schiene004.jpg
Ach, liebe Freunde, warum lasst Ihr Euch bei diesem Gleichnis nun auf ein Nebengleis leiten? 
Das Thema war doch ein völlig anderes - es hätte genau so gut ein Nachtfalter sein können, der durch einen Fledermausschwarm hindurch fliegt!
Manchmal muss man halt etwas zweimal lesen, hab ich nicht Recht?

Noch etwas - liebe Via: Über Deinen Einwurf könnte man nun 'stundenlang' diskutieren, 
aber warum soll man Öl ins Feuer gießen, das schon Tausende von Menschen vorher angezündet haben?

Meint mit Gruß
Horst

Via

@Pan  
Hast ja  recht,ich gebe auch schon Ruhe.
LG - Via

Pan

@Via  

Die Welt besteht aus Kompromissen -
und seien sie auch noch so faul!

(von mir!
, oder sollte das schon vorher jemand gesagt haben?😊
Gruezi
mit einem Lächeln ...

Manfred36


Dieses Mitgefühl, lieber Horst, das du so wunderbar wachrufst, beseelt unzählige von uns. Es gibt keine „Rettungsaktion“ an der so viele Ehrenamtliche beteiligt waren wie an der Krötensammlung, vor allem als die Krötenwege noch nicht kanalisiert waren. Heute erstrecken sich 100e km Krötenschutzzäune mit Straßenunterquerungen durch den Pfälzerwald. Ich erinnere mich noch zu gut an unser Einsammeln in Eimern und Säcken.

B.G. Manfred
 

Via

@Manfred36  

Wenn aber KRÖTEN dem Ausbau der überlebensnotwendigen Infrastruktur entgegenstehen, hört bei mir das Verständnis auf. Was ist jetzt wichtiger: Investoren, die Arbeitsplätze schaffen, oder diese Tiere, für die man sicher andere Lebensbereiche finden kann??? Eines von vielen Beispielen: die A39, die seit 20 Jahren dank BUND nicht zu Potte kommt! Und die A14, wo es auch klemmt.
VG - Via

 

Manfred36

@Via  
Bist du schon mal auf einer Straße gefahren, auf der Hunderte von zerquatschen Krötenkadavern lagen? Eklig und grausam, ganz abgesehen von der Rutschgefahr. Vorschlag: die Leitplanken der Straße einfach für Krötenwanderkanäle nehmen, da steigen sie nicht drüber. Und die Menschen können ja aufpassen.

B.G. Manfred


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