1945: Eine Familie geht in den Tod


Den Zusammenbruch der Hitler-Diktatur 1945 erlebten viele Deutsche als schwere Demütigung. Aus Verzweiflung darüber, einer grandiosen Illusion und Lebenslüge aufgesessen zu sein (oder weil man lieber an der Lüge festhalten wollte als am Leben), begingen damals zahlreiche Menschen Selbstmord. In K., einem Dorf in der Nähe von Gießen, ereigneten sich drei solche Fälle. Der Spektakulärste davon geschah buchstäblich vor den Augen einer entsetzten Öffentlichkeit, kostete am Ende drei Menschen - Großmutter, Mutter und Kind - das Leben und war noch Jahrzehnte später zuweilen dörflicher Gesprächsstoff. Was geschah da in jenen Tagen Ende März 1945, als der Krieg noch nicht ganz zu Ende war, vorrückende US-Truppen aber bereits das Dorf widerstandslos eingenommen hatten?

Anna Barbara M., eine damals 32 Jahre alte Ärztin, wohnte seit 1942 mit ihrer vierjährigen Tochter gleichen Vornamens, aber Annebärbchen genannt, und ihrer Mutter Anna E. zur Miete in der Mansarde eines Hauses am Rande der Gemeinde K. Vorher hatten die Drei zusammen in Berlin gelebt, wo Frau E. eine Dackelzucht betrieb. Das Dorf hatten sie als Zufluchtsort vor den Bombenangriffen auf Berlin gesucht, da sie nach hier enge verwandtschaftliche Beziehungen besaßen.

Ihr Medizinstudium hatte Anna Barbara in Berlin absolviert, hielt sich aber 1939 wenigstens ein Semester lang in Graz auf. Anfang 1931, also noch vor Aufnahme ihres Studiums, war sie an Lungentuberkulose erkrankt, weswegen sie die Johanniterheilanstalt Sorge in Thüringen aufsuchte. Da in jener Zeit wirksame Medikamente gegen das Leiden noch fehlten, erhielt die junge Patientin statt dessen einen sogenannten Pneumothorax, ein ziemlich brutales Verfahren, um die erkrankten Teile der Lunge stillzulegen.. Sie selbst beschrieb den Vorgang in einen Brief an ihre Eltern ziemlich drastisch: „Ich bekam so’n Ding einen halben Meter zwischen die Rippen gepreßt und dann wurde Stickstoff in die Lunge gefüllt, so viel wie nur reinging. 800 Kubikzentimeter, das war fürs erste Mal sehr viel“. Neben solcher sicherlich nicht angenehmen Behandlung verordnete man Tuberkulose-Patienten alle möglichen Diäten und sogenannte Luftkuren. Einer solchen „Luftkur“ unterzog sich auch Anna Barbara, auf einer Burg oberhalb des Ortes, wo sie Jahre später sterben wird.

Welche der Anwendungen der Patientin auch immer geholfen haben, sie jedenfalls gesundete, studierte und heiratete nach Abschluss ihres Studiums den aus Norddeutschland stammenden Arzt Reinhard M.. Am 24. November 1941 bekam das Ehepaar in Berlin die Tochter Anna Barbara. Nachdem wenig später die Ärztin mit Mutter und Kind ihren Wohnsitz nach K. verlegt hatte - ihr Ehemann war Arzt im Kriegseinsatz -, wurde sie, wie es damals hieß, „dienstverpflichtet“, und zwar als Assistentin eines hier ansässigen Hausarztes. Bald hatte sie sich den Ruf einer besonders tüchtigen und beliebten Ärztin erworben. Hausbesuche in der Umgebung machte sie im Winter auf Skiern, und auf Schieabfahrten den Hang des nahen Berges hinunter nahm sie gelegentlich sogar ihr Töchterchen mit, das ansonsten den dörflichen Kindergarten besuchte. Im Mai 1944 erfuhr die junge Ärztin vom Kriegstod ihres Ehemannes. Ein an ihn gerichteter Brief kam ungeöffnet mit dem Vermerk „gefallen für Großdeutschland“ zurück. Er soll als Begleiter eines Verwundetentransportes umgekommen sein.

Dann kam der Morgen des 29. März 1945. Amerikanische Truppen hatten bereits am Tag vorher das Dorf kampflos eingenommen. Jetzt rollten weitere Verbände heran, diesmal auf der Straße, an der sich die Wohnung der Ärztin befand. Aus den Fenstern der Häuser hingen weiße Tücher, nicht aber aus dem der Anna Barbara M. Statt dessen flatterte aus dem Giebelfenster eine Hakenkreuzfahne. Dieses Symbol der NS-Herrschaft hatte, wie später die Hauseigentümerin berichtete, ihre Mieterin gesetzt. Doch nicht nur das. Die junge Frau hatte - die fremden Soldaten bereits im Blick - die von ihrer Vermieterin an deren Fenstersimsen angebrachten weißen Tücher mit dem Ausruf „Sie Feigling!“ herabgerissen und sie in einen Abflussgraben vor dem Haus geworfen. Das jedenfalls wollen Nachbarn aus gegenüber liegenden Häusern beobachtet haben.

Kurz darauf passierten die ersten Militärfahrzeuge die Ortsgrenze. Da rannte aus dem einzigen mit einer Hakenkreuzfahne versehenen Gebäude eine Person auf die Straße und stürzte sich vor einen der Wagen. Nachbarn und Neugierige, die am Straßenrand die Besetzung ihres Ortes miterleben wollten, erkannten, dass es Anna E. war. Geschehen ist der älteren Dame jedoch nichts, weil der Soldat am Steuer geistesgegenwärtig reagierte und das menschliche Hindernis umfuhr. Etwa zur gleichen Zeit erschien im Giebelfenster des Hauses die Ärztin mit ihrer kleinen Tochter auf den Armen. Unter den Augen der entsetzt nach oben blickenden Menschen hob sie das Kind auf die Fensterbank und versuchte es in die Tiefe zu werfen. Beschwörende Zurufe aber, sie möge das doch sein lassen, veranlasste sie, die Kleine wieder zurück in die Wohnung zu holen. Allerdings nicht, um von ihrem schrecklichen Vorhaben abzulassen. Denn wenig später erschien sie mit dem Kind am Fenster zum Hinterhof des Hauses, wohin man inzwischen ihre Mutter gebracht hatte, wo sie - wie sich eine Augenzeugin erinnerte - mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden lag. Und trotz erneuter Zurufe von unten stieß die Ärztin jetzt das kleine Mädchen in den Hof hinab. Mit dem Ergebnis, dass anscheinend ein Beinchen des Kindes dabei gebrochen war, denn es konnte sich nur noch kriechend fortbewegen. „Nun muss ich mich vor allen Leuten schämen und kann nicht mehr auf der Straße spielen“, soll Annebärbchen geklagt haben. Wenig später packte die Mutter ihr verletztes Kind, trug es zurück ins Haus und soll ihm dort eine Injektion mit einem tödlich wirkenden Gift verabreicht haben, Gift, das sie eigentlich für sich reserviert hatte. Als die Ärztin sich jedoch den Rest der Spritze setzte, blieb bei ihr die tödliche Wirkung aus.

Inzwischen hatten Nachbarn ihre Tante benachrichtigt, die als „Ausgebombte“ damals ebenfalls in K. lebte. Sie besorgte (mit welchen Mitteln auch immer) den Transport der halbvergifteten Nichte und des sterbenden oder bereits toten Kindes in ihre Unterkunft, während Anna E. inzwischen auf Veranlassung der einrückenden Amerikaner mit einem Sanitätsauto nach Gießen gebracht worden war, wo sie starb - vermutlich an Rattengift, das sie bereits vor ihrem Sturz vor das Auto eingenommen hatte.

Was danach geschah, lässt sich, ähnlich wie das Vorausgegangene, eigentlich nur mit Blick auf das allgemeine Chaos jener Tage begreifen: Der Leichnam des Kindes begann sich schon allmählich zu verändern, seine Mutter rang mit dem Tode, konnte jedoch nicht sterben, wollte es aber anscheinend nach wie vor. Ob auf Drängen ihrer Nichte hin oder aus eigenem Antrieb angesichts des Elends machte sich die Tante schließlich auf den Weg zur nahen Apotheke. Und dort soll ihr die Apothekersgattin, mit der sie auf freundschaftlichem Fuße stand, eine weitere Portion jenes Giftes ausgehändigt haben, das die Ärztin bereits in ihrer Wohnung vorrätig gehalten hatte. Allerdings: die halbvergiftete Ärztin war nicht mehr fähig, sich die tödliche Dosis selbst zu verabreichen. Diesen letzten Dienst soll dann eine Bekannte der Familie übernommen haben. Anna Barbara M. starb am 31. März 1945. Alle drei, die Großmutter, die Mutter und das Kind wurden auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt, etwa dort, wo sich heute die neue Trauerhalle der Gemeinde befindet.

Wann immer noch Jahre später das dramatische Geschehen zur Sprache kam, hieß es stets, die Ärztin habe als fanatische Anhängerin des Nationalsozialismus gehandelt. Daran sind aber - trotz der Hakenkreuzfahne im Fenster ihrer Wohnung - Zweifel angebracht. Nach übereinstimmender Auskunft seitens Verwandter und einer guten Freundin war Anna Barbara M. weder Mitglied der NSDAP noch gehörte sie einer der zahlreichen Formationen der Partei an.

Unpolitisch schien sie aber nicht gewesen zu sein. Ihre Mitgliedschaft in einem Verein, der sich für die Rechte von Auslandsdeutschen einsetzte, deutet auf eine eher „deutsch-nationale“ Gesinnung hin. Dass sie dennoch auf den NS-Staat gesetzt hat, ihm also keinesfalls ablehnend gegenüber stand, darauf verweisen überlieferte Äußerungen von ihr, sie beabsichtige für den Fall des Sieges der Alliierten ihren Selbstmord mitsamt der Tötung ihres Kindes. Aber warum? Sie hatte sich, auch aus der Sicht der Sieger, politisch offensichtlich nichts zuschulden kommen lassen und hätte ihren Beruf weiter ausüben können. Mittellos war sie auch nicht. Im Gegenteil. Und das scheint überhaupt der eigentliche Schlüssel zum Verständnis für ihr und ihrer Mutter radikales Handeln zu sein: Beide lebte vermutlich in der Furcht, bei einer Niederlage Deutschlands ihr beträchtliches Vermögen zu verlieren und dadurch zu verarmen. Die Aussicht darauf, dass das Leben auch nach Niederlagen weitergeht, eine Hoffnung eigentlich der meisten Menschen selbst in scheinbar ausweglosen Lagen, hatte der jungen Ärztin offenbar die Stimmungsmache der NS-Propaganda gänzlich genommen. Dass es mit Nazideutschland bald aus sein würde, das konnte ihr als regelmäßige Hörerin des englischen Senders BBC nicht entgangen sein. Aber damit abfinden konnte sie sich am Ende eben doch nicht.

Siegfried Träger




Anzeige

Kommentare (1)

marianne ich schreibe aus dem Bauch raus.
Die Geschichte ist schrecklich!
Aber: wie ist das kleine Annebärbchen erzogen worden, wenn ihm das nur in den Schmerzen einfiel: "..jetzt muss ich mich vor allen Leuten schämen?!"
Es ruhe in Frieden, sage ich 64 Jahre später weinend.
Ich hoffe aber für dich, es habe dir gut getan, das zu erzählen?!-----
...Stauffenberg- "Attentat": Mein Vatersagte mir, der 8-jährigen, "wie jammerschade,
dass es missglückte.." Meines Mannes Großvater- er wuchs bei den Großeltern auf,- sagte in der Familie, Stauffenberg und seine Helfer seien Verbrecher!
Und diese Dinge sind jetzt im Alter deutlicher als jemals...
viele Grüße heute von Marianne

Anzeige