1958: Tramp-Fahrt Hamburg, Brüssel, Paris, Madrid, Marokko


Anfang Mai1958 war ich - über Köln, Rotterdam, Amsterdam, Leuwaarden – per Anhalter auf dem Weg nach Skandinavien, kam aber nur bis Hamburg. Dort nämlich, an einem Sonntagmorgen, wurde mir in der Jugendherberge „Am Stintfang“ meine Jacke mit Reisepass und Brille gestohlen. Ich entschloss mich, die Reise solange zu unterbrechen, bis ich einen neuen Reisepass besitzen würde. Ich heuerte, um die, wie ich meinte, kurze Zeit bis zum Eintreffen eines neuen Passes zu überbrücken als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle an, machte danach einem Abstecher nach Berlin und ins „Alte Land“ und trat schließlich in einer kleinen Druckerei eine Arbeit in meinem damals eigentlichen Beruf als Schriftsetzer an. Nach allerlei zeitraubenden Komplikationen schließlich doch wieder im Besitz eines neuen Reisepasses kündigte ich und verließ die Hafenstadt am 25. August wieder so, wie ich gekommen war: per Anhalter. Diesmal aber in umgekehrter Richtung. Ziel sollte diesmal Spanien sein, wofür ich mir am spanischen Konsulat in Hamburg ein damals noch erforderliches Visum besorgt hatte. Von dieser Reise in den Süden existieren Tagebuchnotizen, aus denen ich im Folgenden zitieren möchte. In Klammern eingefügt sind spätere Anmerkungen.

Montag, 25. August: - Wieder auf Fahrt. Hamburg - Leer. - Dienstag, 26. August: Leer - Amsterdam - 27. August: Amsterdam - Brüssel. Nun habe ich Holland wieder hinter mir, über den Deich, Amsterdam, Den Haag, Rotterdam, Breda und Antwerpen kam ich abends um 6 Uhr am Ausstellungsgelände der „Expo“ (Weltausstellung) an. Eigentlich hatte ich nicht vor, hier zu bleiben, aber man riet mir (eine junge Dame, ich glaube es war eine Art „Hostess“ der Expo, mit der ich in der Straßenbahn ins Gespräch kam), die Ausstellung unbedingt zu besuchen, es lohne sich wirklich. -

28. August: Brüssel. Vergangene Nach habe ich in einem großen Raum geschlafen (in „De Kajotterscentrale KAJ, Gare du Midi, Roincavelaan 78 - 79, eine Unterkunft der Christlichen Arbeiterjugend). Das Hauptsächliche, was ich besucht habe auf der Expo: Pavillion UdSSR, USA, Vatican, Verkehrswesen, UNO, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Belgische Kunst, USA (Farbfernsehstudio, Hi Fi-Anlage, Tschechoslowakei. - Durch Holland hatte ich wunderbares Wetter und hier in Belgiens Hauptstadt ist es kaum auszuhalten vor Hitze - und den hohen Preisen. Morgens habe ich 1 Liter Milch getrunken und abends wieder, das war alles, trotz der Hitze. Aber mir verging der Appetit schon, als ich die Preise für Obst mit Holland verglich. In Holland kostete ein Pfund Tomaten 25 Pfennig, hier kostet ein Pfund 1 Mark und mehr. Pflaumen sind viermal so teuer.

29. April: Brüssel - Paris. Mons: Wohl wäre ich jetzt lieber in einer Brauerei oder in einer Milchzentrale, aber ich muß in glühender Sonne stehen und es scheint, als wolle man mich einfach nicht mehr mitnehmen. Soll ich doch lieber mit dem Zug nach Spanien fahren - oder soll ich stur sein und aushalten? - Paris, abends: Nachdem ich obiges geschrieben habe, nahm mich ein junger Franzose mit einem Mädchen in seinem kleinen „Citroen“ mit - bis nach Paris vor die Herberge. Wir luden noch zwei Deutsche ein, die wie ich zunächst versuchen wollten, in der Herberge Rue Victor Massee zu schlafen. Dies hier ist eine echt französische Jugendherberge, ein bißchen verlottert, alt, überall liegen und stehen Flaschen herum, es riecht nach altem Weißbrot. Aber es ist doch irgendwie schön. - Samstag, 30. August: Paris – Blois. Nun stehe ich, nachdem es so gut gegangen ist, nachmittags um 4 auf der Straße nach Tours in einem Dorf. Es ist schon ½ 6 und noch kein Auto hat mich nach Blois gebracht, wo eine JH wäre. - Nun, ein Motorrad hat mich wahrhaftig nach bis Blois mitgenommen. Doch von dort mußte ich noch 6 km zu Fuß hierher laufen. Durchgeschwitzt und naß vom einsetzenden Regen langte ich hier an, nachdem ich mich mühselig durchgefragt habe. Auf dem Weg traf ich drei Deutsche, die mit dem Motorrad und Beiwagen in Spanien waren.

1. September: Blois - Tours. Schon wieder stoppe ich über eine Stunde auf der Straße nach Tour bei dem Dorf Des Grouets, wo die JH ist. 3 ½ Stunden. Heute scheine ich ja alle Rekorde zu brechen. Ich habe keine Lust mehr, ich werde mich wohl doch in den Zug setzen müssen. - Müde und hungrig bin ich in der JH Tours angekommen, die Mademoiselle, die mich von dem verdammten Ch . . . mitgenommen hatte, mußte 6 km vor Tours ihre Fahrt beenden, da sie von Freunden überholt wurde. So klotzte ich nach Tours und dann noch ein paar Kilometer weiter zur JH (de Grandmont). Dort traf ich nur Engländer und Amerikaner. Ich habe nichts zu essen, doch fühle ich keinen Hunger. - 2. September: Tours – Bordeaux. In Saintes, etwa 100 km nördlich von Bordeaux. Nach etwa 1 Stunden stoppen in Tours bekam ich einen Wagen bis hierher. Südfrankreich, heiß. Bald hatte ich einen „403“ etwa 40 km, er setzte mich nach 20 km ab, fuhr jedoch zurück und nahm mich wieder mit. In Mirabeau stand ich vielleicht ¼ Std., dann nahm mich ein Renault bis Bordeaux mit (erinnere ich mich richtig, war dessen Fahrer ein Vertreter für Schmuckwaren, der mich nicht nur zu einem Drink einlud sondern mir auch seine Kollektion zeigte). In B. versuchte ich noch ½ Stunde nach Bayonne zu kommen, gab es jedoch auf und ging in die JH. Dann fuhr ich in die Stadt, lief zur Garonne, durch verwahrloste Gassen, hatte auch noch allerlei Mühe, den Bus G nach Talance zu finden. - 3. August: Bordeaux - Biarritz (Anglet)

4. September: Biarritz (Anglet). Heute habe ich den ganzen Tag am Strand von Biarritz verbracht. Gestern Abend war ich mit einer Elsässerin, die ich schon in Bordeaux ein bißchen kennengelernt hatte, „weg“. Gleich nachdem ich mit ihr zurückkam, saß sie neben einem Franzosen. - 5. September: Biarritz - San Sebastian. Zwischen 11 und 1 bin ich mit dem Zug über die Grenze gefahren, zusammen mit einem Engländer namens Anthony. Jetzt sitze ich in einem teuren Restaurant und habe einen Eierpfannkuchen verzehrt. - Im Zimmer einer spanischen Familie. Die JH war überfüllt, so mußten wir den Preis von 35 Peseten akzeptieren (1 DM = 12 Peseten). - 6. September: San Sebastian – Irun. Heute Morgen sind wir von S. Sebastian nach Irun zurückgefahren, um uns hier eine Rundreisebillet (ein sogenanntes „Billete Kilometrico“, ein Gutscheinheft mit einer bestimmten Anzahl von Kilometern, meines war - glaube ich - gut für 3000 km und kostete 673 Peseten, also etwa 56 Mark) zu kaufen. Es ist alles so umständlich. Wir (der Engländer und ich) sitzen in Kneipen herum, wo es stinkt, und trinken Coca Cola, wovon mir nicht ganz gut wird. Ich glaube, mir gefällt Spanien nicht. Das Spanien hier, Irun und S. Sebastian macht immerhin einen recht ordentlichen Eindruck. Der Bahnhof wird ausgekehrt, durch die Straßen Iruns gehen Männer mit Körben und Eisenstäben, um das herumliegende Papier einzusammeln, das sogar zwischen den Schienen im Bahnhof. - Hier sieht man Nonnen und Priester - sie gehören einfach zum Bild Spaniens. - Im Expreß 3. Klasse von Irun nach Madrid: Er ist statt um 19 Uhr um 19.55 Uhr abgefahren. Es machte mich ärgerlich, sicher weil ich diesen Hang zur Unpünktlichkeit nicht verstehen kann. Im Wagon sind 38 Nonnen. Ich weiß nicht, wo wir sind, verwegene Gestalten steigen in den Zug ein, hinter mir plappern die Nonnen. Was ist das für ein Katholizismus in Spanien. Man leiert Litaneien herunter, lacht dabei. Die (Rosen)-Kränze sind keine Symbole sondern Fetische. Sie werden geküßt - Nun fahre ich schon 7 Stunden fast ununterbrochen, gerade habe ich ein wenig geschlafen. -

Sonntag, 7. September: Madrid erreicht 8.40 Uhr. - In Madrid Placa del Toro. Die Arena ist noch fast leer. Ich habe mich kurz entschlossen hierher gemacht, auch auf die Gefahr hin kein Abendessen (in der Jugendherberge im Park Casa del Campo) zu bekommen. Für den Eintritt habe ich 48 Peseten bezahlt, für ein Päckchen Kaugummi 12 Peseten. Ich glaube, Spanien ist doch recht teuer. Die Arena füllt sich langsam. Ich sitze auf der billigen Sonnenseite. - 8. September: Die Stierkämpfer von gestern: Juan Mejias Bienvenida, Jose Maria Record, Rafael Pedrosa. - Dienstag, 9. September: Gestern lief ich den ganzen Tag mit einem bärtigen Deutschen in der Stadt herum, aß Melonen und Weintrauben, daß ich mich nachher recht elend fühlte, bestaunte die spanischen Mädchen, die von einer wunderbaren Schönheit sind. - Jetzt sah ich (auf dem Hof der JH) gerade jene Zeremonie der falangistischen Jugend, die sich hier jeden Morgen kurz vor 9 Uhr abspielt. - Mittwoch, 10. September: Ich trinke Bier, esse nicht viel, fläze mich auf den Betten herum. Gestern Nachmittag stronzten wir, wieder der Bärtige und ein anderer Deutscher, durch Madrid. Wir sprachen mit zwei Männern, dessen eine Uhr wir lobten, so daß er ganz stolz wurde. Abends gegen ½ 8 sind wir, angeregt durch einen Artikel in der Welt, die ich mir für 10 Pst. als Luftpostausgabe gekauft habe, nach Vallecas, dem Arbeiterviertel von Madrid. Dort hausen die Menschen zum Teil in Verhältnissen, die man sich, hätte man sie nicht selbst gesehen, nicht vorstellen könnte. - 11. September: Geldstand: 1539 Peseten und 300 Mark. - Anthony, der Engländer, mit dem ich eine zeitlang unterwegs war, ist gestern nach Malaga abgefahren, Zunächst wollte ich auch dorthin, man riet mir aber ab, wenn ich nach Marokko wolle. - Ich dachte, die Übelkeit, von der ich vor ein paar Tagen nach dem Genuß von Melonen befallen wurde, habe sich wieder verlaufen. Mir scheint aber, als komme sie wieder. Ich habe keinen Appetit und Bauchschmerzen. Ich kann nichts Festes essen ohne Ekelgefühl davor zu haben. - Madrid ab: 20.35. Ich hoffe, daß meine seltsame Übelkeit verflogen ist. - Der Zug steht, es scheint, als warte er auf einen anderen. Ich habe wieder Bauchschmerzen. Dann wieder leichte Übelkeit. Wieder ist aller Appetit verschwunden., ebenso mein Unternehmungsgeist. - Freitag, 12. September: Algeciras - Nach 19 Stunden Bahnfahrt (über Aranjuez und Algazar de St. Juan) gelangte ich ans Tor nach Afrika. Hier sitze ich nun dreckig und mit einem Gefühl der Ungewißheit. - Nun fahre ich in der Straße von Gibraltar (Kosten: 200 Peseten). Wenn man aufpaßt, sieht man fliegende Fische. Zunächst dachte ich, es sei eine Bachstelze gewesen. - Tanger - Um 18.40 Uhr afrikanischer Zeit - 19.40 MEZ - ging ich an Land und betrat damit zum erstenmal afrikanischen Boden. - 13. September: Tanger. Gestern Abend streifte ich durch die engen Gassen Tangers. Hier gefällt es mir, besser als in Spanien. Auf der Straße traf ich einen Deutschen, der sagte, ich solle noch hier bleiben. So ging ich mit in sein Hotel und sagte, ich wolle 3 Tage bleiben. - Jetzt habe ich wohl einen Blödsinn gemacht. Ich kaufte von einem Araber ein Tuch, für das er 70 Pesten haben wollte, für 50. Ich bin tatsächlich in Afrika mitten unter Mohammedanern, deren Frauen z. T. noch verschleiert gehen und die statt eines Anzuges einen langen Kaftan mit Kapuze tragen. Man fällt immer auf als Deutscher, aber außer von einigen jungen Burschen, die sich durch Hotelzimmervermittlungen ein paar Peseten verdienen wollen, wird man kaum weiter beachtet. Ich traf viele Deutsche, die (in Marokko) bis 300 km hinuntergetrampt sind und, dazu bin ich aber wohl zu faul, aber das werde ich noch sehen. Mir scheint, Tanger ist schon eine typische Araberstadt. Das Wasser läuft natürlich nicht, so muß ich mit samt dem Schmutz, der sich nach einer 19stündigen Bahnfahrt auf mir gesammelt hat, zu Bett gehen. Ich schlafe in einem Hotel, dafür zahle ich 25 Peseten, das sind etwa 2,10 Mark. Ein kleines Zimmer mit einem sauberen Bett und „fließendem“ Wasser. Sogar ein Spiegel ist vorhanden, ein Sessel und ein Nachtisch, auf dem ich dieses schreibe. Am Boden stehen schon zwei Flaschen Bier. Es ist ungeheuer, welchen Bier- und Cola-Konsum ich hier habe. Zum Brot trinke ich Bier, es kostet etwa 30 Pfennig, Coca- oder Pepsi-Cola trinke ich in den Geschäften, eiskalt und durststillend, ich bin geradezu schon süchtig geworden. - Sonntag, 14. September: Tanger. Ich habe ein schlechtes Zimmer, dafür muß ich 25 Peseten bezahlen. Ich kaufe eine Flasche Milch, und die Milch ist sauer. Ich kaufe ein Tuch und zahle entscheiden zuviel dafür. Ich liege den ganzen Tag herum, schlafe und grüble, darüber nach, ob ich nach Rabat oder Fez fahren soll. Den Abend verbrachte ich in einer Kneipe im ersten Stock über einer spanischen Bar. In der Kneipe lagen ein paar junge Marokkaner und rauchten Haschisch, dazwischen tranken sie Pfefferminztee aus frischem Kraut, ein herrliches Getränk. Ich fühlte mich sehr wohl dort. Wir, zwei Hamburger Jungs, die ich schon in Algeciras getroffen hatte, unterhielten uns mit einem Marokkaner, der sich selbst Englisch beigebracht hat. Wir wurden behandelt wie ihresgleichen. Aber wie sehen diese Menschen aus, alt und abgetakelt, die Spur des Rauschgiftes, ein fad-grünes trockenes Kraut, das in einer langen Holzpfeife mit kleinem Kopf geraucht wird, hat sich schon in ihre Züge gegraben. Man schätzt sie viel älter ein, als sie in Wirklichkeit sind. - In einem Basar kaufte ich ein Paar Lederpantoffeln für 100 Peseten, bei einem fliegenden Händler zwei Lederbrieftaschen für zusammen 80 Peseten. Die zwei Deutschen verstanden es zu handeln. - 15. September. Ich sprach mit einem jungen arabischen Arbeiter. Er redete voll Haß über Franzosen und Juden. - Ich kann vor Hautjucken nicht einschlafen (vermutlich eine Folge von Flohstichen). - 16. September: Tanger - Tetuan. Hier stehe ich in Tanger auf der Straße nach Tetuan, durstig, ausgedorrt in der sengenden Sonne Afrikas. Es kommen kaum Autos. - Tetuan: Mit dem amerikanischen Konsul von Tanger (?) kam ich um ¼ nach 10 in Tetuan an. Jetzt befinde ich mich auf der Höhe eines Bergrückens bei einer Ruine. Ich sah sie von der Stadt aus. Mit einiger Anstrengung, die Jacke über den Kopf zugeknöpft, kletterte ich den steilen, aus zerrissenem Stein bestehenden Berg hinauf. Auf der Hälfte des Weges glaubte ich aufgeben zu müssen, aber ich schaffte es mit Herzklopfen und heißem Kopf. Es ist genau 12 Uhr. Unter mir liegt Tetuan. Von einem schmalen Tal breitet es sich gegen Osten in eine breite Ebene aus. Links und rechts die afrikanischen Berge. Hier ist man schon weit von Europa entfernt, von den schattigen Wäldern Deutschlands. Zwar weht ein angenehmer Wind, trocken und dürr streichelt er die grünen Büschel. Die braunen Hügel Afrikas. (Die Ruine) gleicht einer zerfallenen kleinen Burg, bestimmt war sie es auch einmal so etwas ähnliches. Von hier kann ich nur das westliche Tetuan sehen, einen schmalen Fluß und gegen Süden wieder die in schmutziges Grau gekleideten Berge. Der rechts von mir aufsteigende Bergrücken ist gerillt, als habe ihn Menschenhand bearbeitet. Wie ein bebauter großer Acker liegt er unter mir. Es ist mir ein Rätsel, wie diese gleichmäßigen Rillen in den Berg gegraben wurden. - Ich wundere mich, wie die Menschen in einem solch unbeschreiblichen Schmutz und Gestank leben können. Die modernen Viertel sind wunderbar sauber und darum dieser Unterschied ein paar Schritte weiter. Man geht durch ein Tor und befindet sich in all dem Unrat, dem Abfall. Straßenkehrer versuchen dem Schmutz Herr zu werden, man wirft die Abfälle einfach wieder in die Gasse. - Es kann unmöglich die Armut sein, daß sich die Menschen nur oft in Fetzen hüllen. Wie schön sind die Arabermäntel, aber man achtet nicht darauf, wenn Löcher drin sind. Schlampiger noch als die Männer sind die Frauen. Man sollte es nicht glauben, wie abgerissen und zerfetzt sie umher laufen. Ob man diese Menschen jemals dazu bringen kann zu verstehen wie niedrig sie leben. Aber es ist schwer hier Geld zu verdienen. Sie schreiben das Jahr 1378. Gäbe es hier keine Autos und Stahlbetonbauten, könnte man diese Zahl als das afrikanische Mittelalter gelten lassen. Ich könnte mir vorstellen, daß es bei uns im Jahre 1378 nicht sauberer war und die Menschen ebenso heruntergekommen. - Jetzt bin ich wieder in der Stadt, ich habe mich genau 2 Stunden bei der Ruine aufgehalten. Ich sitze unter einer Palme auf einer Steinbank auf dem Hauptplatz der Neustadt. Das Bier müßte bei uns so billig sein wie hier. Ich glaube, in meinem Herzen ist doch ein wenig das Heimweh eingezogen.

Mittwoch, 17. September: Tetuan - Ceuta – Algeciras. Jetzt sitze ich an der marokkanischen Grenzstation nach Ceuta. Hier scheinen ziemlich seltsame Grenzverhältnisse zu herrschen. Spanische Soldaten in Tetuan und hier eine Grenze. Schon wieder eine Kontrolle. - Um 16.20 Uhr MEZ habe ich Afrika wieder per Schiff verlassen und erreichte Europa um 17.55 Uhr MEZ. - Algeciras: Ich habe einen großen Wein verlangt, um dazu etwas Kuchen zu essen, und man hat mir ein winziges Gläschen, dazu ein paar Krabben aufgetragen. Der Wein und die Krabben kosteten 3 Peseten. Und die Krabben schmeckten fein.

Donnerstag, 18. September: Algeciras. Vorhin traf ich ein deutschsprechendes kleines Mädchen. Ich ging über den Marktplatz, da sagte jenes Mädchen, das mir schon kurz vorher durch ihr hellblondes Haar aufgefallen ist, „Auf Wiedersehen“. So kam ich mit ihm ins Gespräch. Niemals vorher habe ich so ein sympathisches, bedauernswertes kleines Mädchen kennengelernt. Nach ihrem Erzählen ist ihr Vater Spanier und ihre Mutter Deutsche angeblich aus Kassel, sie ist in der Nähe von Hamburg geboren und kam vor 2 Jahren nach Spanien. Ihr Vater liegt krank im Spital, und da ihre Mutter jetzt Spanierin ist, kann sie sich an keine deutsche Stelle wenden. Sie (das Mädchen) trug einen Eimer mit Futter (Marktabfälle) für ein kleines Schwein, das angeblich eine kranke Frau hat, auf dem Kopf. Sie wäre gern in Deutschland, sagte sie. - Um 16.45 Uhr losgefahren. Jetzt sitze ich wieder im Zug nach Madrid, Es dämmert, keine Wolken sind zu sehen, nur der blaue Himmel mit dem rötlichen Rand. Wir fahren entlang eines Tals. - 20. September: Gestern um 10.45 Uhr erreichte ich Madrid. In der JH traf ich wieder fast nur Deutsche - eine kleine deutsche Kolonie. Abends saßen wir bis spät in die Nacht unter der Tür zum Schlafraum und diskutierten über alles mögliche, besonders aber - wie immer wenn ein paar Jungs zusammensitzen - über die Schwulen, über die verschiedenen Arten, wir nannten Namen, und einige berichteten von eigenen Erlebnissen. Später sprachen wir über den spanischen Faschismus. Anfangs jedoch, den Grundstein sozusagen, bildete das spanische Volk. Besonders wurde von dem Elend der breiten Schicht des Volkes gesprochen, andererseits muß man eine Schicht bemerken, die auf Kosten dieses Volkes in Geld schwimmt. Auf diese Weise fanden wir viel Gesprächsstoff - und doch, die tiefe Wurzel konnten wir nicht erfassen, es wurde stets an etwas vorbeigeredet, wie etwa über die Einstellung der jungen Spanierin zur „Liebe“, d. h. zum Schlafen mit einem Mann, ohne mit diesem verheiratet zu sein. Ich weiß darüber nichts. Irgendwie interessiert es mich auch nicht. - Heute ließ ich mir nach genau 2 Monaten wieder die Haare schneiden - 22 Uhr: Ein Deutscher hat mich mit seinem DKW-Motorrad von der JH zum Bahnhof gefahren. Mir war wirklich ein bißchen wehmütig zumute, als ich die Madrider JH verlassen mußte (ich hätte sie eigentlich noch gar nicht verlassen müssen), ich habe diesen Ort wie einen Hafen empfunden, im Herzen Spaniens, wo sich alle Tramps treffen, 2000 km von der Heimat entfernt bildeten wir eine Bastion, ein Stück Heimat. Jetzt, da ich Spanien zu lieben beginne, muß ich es verlassen. Losgefahren um 22.45 Uhr.

Sonntag, 21, September: Ich glaube nicht, daß ich vergangene Nacht viel geschlafen habe. San Sebastian 11.30 Uhr - Irun 12.00 Uhr. - Hendaye: Ich stehe schon wieder 1 Stunde. Kein Wagen hält. Ich bin ausgepumpt - Montag, 22. September. Bayonne (ich weiß nicht mehr, wie ich von Hendaye nach Bayonne in die JH kam). Ich halte es bald nicht mehr aus vor Kopfschmerzen. Es ist wohl eine schreckliche Erkältung, die ich mir während der Zugfahrt zugezogen habe. Die Schmerzen werden immer größer, so daß ich schon eine ganze Zeit nach jeder körperlichen Bewegung zu jammern beginne. - 23. September: Anglet/Biarritz. Hierher kam ich auf Schusters Rappen von Bayonne, da meine Kopfschmerzen so stark wurden, daß ich es für unmöglich hielt, weiterzutrampen. Noch den ganzen Tag schmerzte mich der Kopf, ich fror dabei, brachte es aber fertig, etwas zu essen, so daß ich mich doch schließlich etwas wohler zu fühlen begann. Als ich heute Morgen erwachte, spürte ich eine große Erleichterung, die Schmerzen machen sich nur noch beim Schütteln des Kopfes bemerkbar, der Schmerz bei Drehen der Augen hat aber noch kaum nachgelassen. - Gestern Abend zog ich mit 6 Deutschen, bewaffnet mit einer Gitarre, einer Balalaika und einer Ukele, durch die Straße von Biarritz (und wir sangen in einigen Lokalen Wanderlieder, wofür wir mit Getränken „entlohnt“ wurden). - 24. September: Am Flughafen von Biarritz. Es ist seltsam, hier war mein Vater als Soldat vor 15 Jahren (zur Instandsetzung von Militärflugzeugen; diese Kenntnis hat mich überhaupt veranlasst, über Biarritz nach Spanien zu fahren). Jetzt liegt alles friedlich unter der Sonne Südfrankreichs. - 25. September: Anglet/Biarritz. Gerade komme ich von einem baskischen Ballspiel, Pelote Basque (Cesta Punta). Es spielen 4 oder 2 Spieler gemeinsam. -

26. September: Biarritz - Lourdes - Mit drei Wagen kam ich nachmittags um ½ 2 hier an. Jetzt stehe ich vor der Grotte unter der Kirche der Bernadette. Ein spanischer Priester spricht, etwas weiter entfernt singen Frauen Lieder. Vor mir, auf dem Platz vor der Grotte, stehen die Wagen der Kranken. Mir ist noch nicht ganz klar, was mit ihnen gemacht wird. Die Menschen ziehen hin und her. - Ich habe mir eine Wiese gesucht, um etwas Brot, Käse und Schokolade zu essen, das ich mir in der Stadt gekauft habe. nun erhebt sich langsam die Frage, wo ich nachts mein Bett aufschlagen soll. - Ich habe das Camp gefunden, das mir der Fahrer, mit dem ich bis hinter Pau gefahren bin, aufgeschrieben hat. Von hier aus kann man fast ganz Lourdes übersehen. - Samstag, 27. September: Lourdes - Die Dame, die mich gestern vom Büro dieses Camps hierher geschickt hat (Cité-Secours Lourdes) oder besser: sie schickte mich diesen Weg, meinte aber, ich wollte in ein Jugendlager gehen, wollte noch gestern Abend Schwierigkeiten wegen meiner Aufnahme in dieser Herberge machen, da sie wahrscheinlich glaubte, ich hätte ihren Vorschlag umgangen und nur diese völlig kostenlose Herberge ausgesucht, als Tourist natürlich. Unter anderem mußte ich dann noch angeben, aus welcher Stadt ich gerade kam - leider, und dazu war es noch falsch, schrieb ich Biarritz auf. Daran blieb sie haften, und sie wollte nicht zulassen, einen Tramp, der wer weiß wo herumgefahren ist und dann noch aus Biarritz kommt, in diesen Herbergskomplex aufzunehmen., der, wie mir immer wieder versichert wurde, nur den ärmsten der armen Pilger vorbehalten ist. Mir scheint jedoch, diese Vorschrift wird bestimmt nicht beachtet - und zuletzt: war es etwa meine Schuld, hier hereingetrudelt zu sein? Woher sollte ich wissen, ob ich richtig oder falsch bin, da man mir sagte, ich könne hier bleiben. - Schon am frühen Nachmittag habe ich versucht, als Helfer (der Kranken) unterzukommen, man wies mich an, bis ½ 6 zu warten, aber auch dann blieb mein Anerbieten erfolglos, der Chef der deutschen Pilger ist in die Pyrenäen gefahren. So muß ich nochmals heute Abend fragen, bleibt auch das fruchtlos, gebe ich es auf. - Nun bitte, wenn es mit derartigen Schwierigkeiten verbunden ist und mir auch jetzt nicht helfen konnte. Ich werde mich nicht länger aufdrängen. - 28. September: Meine Zweifel und Anstrengung gegenüber dem, dessen Zeuge ich hier bin, die Pilgerfahrten vieler Tausender an einen Ort, dem durch die Erscheinung der Bernadette große Gnade zugesagt wird. Aber Gnade ist für mich en Begriff, den ich nicht ganz verstehe. Was ist Gnade? Wenn einem Kind eine Weiße Frau erscheint, diesem aufträgt, in der Erde zu graben, um eine Quelle freizulegen? Ich scheue mich davor, meine Zweifel laut auszusprechen.

Montag, 29. September: Lourdes – Toulouse. Nun lifte ich am Stadtausgang von Lourdes schon 1 ½ Std.. Tramperpech. - Nun stehe ich in Tarbes auf der Straße nach Toulouse. Kaum Autos. - Jetzt wird es fatal, 4 Uhr und noch kein Lift. Anmerkung: Trotzdem erreichte ich Toulouse noch an diesem Tag. Dort erlebt ich zum erstenmal, wie Franzosen auf der Straße tanzen, erinnere ich mich richtig anläßlich einer Straßenkirmes und eines Wahlausgangs zugunsten von de Gaulle. Zusammen mit einem deutschen JH-Genossen gewann ich eine Flasche Sekt, den wir gleich konsumierten. - Dienstag, 30. September: Toulouse - Brive 50 km nördlich von Toulouse. Ich glaube, hier sitze ich fest. Regen, wenig Autos. . . . Nun werde ich wohl kein Auto mehr bekommen, es ist schon 10 vor 6. - Nun bin ich doch tatsächlich noch in Brive gelandet. Ein junges Paar nahm mich in seinem kleinen Citroen mit und brachte mich bis zur Jugendherberge. - 1. Oktober: Jetzt fahre ich los in Richtung Clermont-Ferrant. - Am Stadtrand von Brive. Schon wieder stehe ich über eine Stunde. Es ist kalt. - Zwei Stunden und noch kein Schwein hat gehalten. - Ich habe mich auf die Straße nach Limoges gestellt und gleich einen Wagen bekommen. Nun stehe ich wieder in Limoges, um nach Bourges zu kommen. - Mir ist ein Irrtum aufgefallen. Ich will nach Bourges und gerade sehe ich, daß ich über eine Verbindungsstraße muß. Nun stehe ich schon wieder Stunden hier. Und ich befinde mich noch im Süden. - Jetzt ist die Sache hoffnungslos. Hätte ich genug französisches Geld, würde ich (mit dem Zug) zur französischen Grenze fahren. - Ein Autofahrer hat mich mitgenommen und der setzte mich in einem Kaff ab, wo ich nicht mehr weiterkomme, wo auch bestimmt kein Bahnhof ist. - Ich werde marschieren. - Donnerstag, 2. Oktober: Das war eine schreckliche Nacht. Ich bin vollkommen am Hund. Ich habe keinen Hunger und keinen Durst, nur das Bedürfnis zu schlafen. Ich bin viele Kilometer marschiert und bis zur nächsten Stadt wären es noch über 20 (km), also lifte ich wieder.

Samstag, 4. Oktober: Paris. Am Donnerstagmorgen, kurz nach obiger Eintragung, nahm mich ein Renault bis Paris mit. Hier wurde ich zunächst von der JH in der Rue Victor Massee in eine andere geschickt und von dort hierher nach Boulogne (Maison des Jeunes et de la Culture, 37, Rue Anna-Jaquin, Boulogne-Bilancourt, angeblich) eine kommunistische Jugendherberge am Stadtrand. Gestern besuchte ich mit einem Kieler und einem Berliner die Stadt. St. Germain-de-Pres. - 5. Oktober: Paris - Nachmittags war ich im Louvre. Danach spazierte ich zur Notre-Dame, von dort zum Platz der Bastille. Hier begann ein Markt, der am Flohmarkt endete. Jetzt sitze ich in der Metrostation St. Ambroise. - 6. Oktober: Paris. Am Samstag besuchte ich (mit dem Berliner, von dem die Anregung kam) die Pariser Katakomben, wo die Gebeine von etwa 300 000 Parisern aufgestapelt sind (dabei wollte mein Begleiter, der vor hatte, Medizin zu studieren, einen Schädel, versteckt unter seinem „Duffel-Coat“, mitnehmen, gab dieses Vorhaben aber schließlich auf). - Der Berliner und ich gehen in Paris spazieren, um zu stehlen. Er will für sich Schallplatten abstauben und für mich - ich bot ihm 1/3 des aufgeschriebenen Preises - antiquarische Bücher. Gott-sei-Dank ist es nicht dazugekommen, er hat es sich überlegt, ist zur Überzeugung gekommen, daß das Risiko in keinem Verhältnis zum Wert der Beute steht. - 7. Oktober: Chalon s. M. Über Reims bin ich heute von Paris hierhergekommen. Es ist ½ 2. - 8. Oktober: Gestern bin ich mit einem Deutschen, den wir aufgelesen haben noch bis Saarbrücken gekommen. Heute Morgen bekam ich nach zwei wenig ergiebigen Lifts meinen ersten großen Citroen bis hierher nach Frankfurt. - 10. Oktober: Gestern Mittag kam ich in Krofdorf an. Mit dem Zug bin ich von Frankfurt nach Gießen und von dort hierher gefahren.

Siegfried Träger



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