Ab morgen bin ich in Rente


Ab morgen bin ich in Rente - das ist doch falsch, oder? Es klingt wie: "Ab morgen bin ich in Fulda". Aber ich bin ja nirgendwo anders. Also, ab morgen bin ich Rentnerin. Auch komisch, "werde ich sein", müsste es heißen, sagt nur keiner mehr, vor allem, wenn es zeitlich so naheliegt.
 
Aber erstmal hatte ich gestern Geburtstag, den dreiundsechzigsten. Eigentlich zähle ich die Jahre nicht mehr, aber dieser Geburtstag ist der letzte vor Renteneintritt, also schon irgendwie bemerkenswert, natürlich nur für mich, dachte ich ...

Dennoch wollte ich den Tag nicht ohne meinen Mann verbringen der zurzeit montagemäßig unterwegs ist und bei seiner Schwester wohnen kann. Also teilen wir uns eine mehr oder wenig bequeme Couch für ein Wochenende.

Vorgestern ruft Fedja seine älteste Schwester an: "Wir treffen uns morgen ab 18 Uhr im Chin-Thai, du kommst auch!" (Liebevoller Umgangston zwischen Geschwistern).
Sie: "Aber wieso, wir können morgen nicht weggehen, Via hat doch Geburtstag".
AdÜ: Geburtstage werden in der Familie zuhause gefeiert, wobei das Geburtstagskind sich doppelt schlägt mit Einkaufen, Kochen, Backen, Vorbereiten, Gäste empfangen und Bedienen, um dann völlig erschöpft weit nach Mitternacht vor dem GAC (größtes anzunehmendes Chaos) zu sitzen und zu denken: Im nächsten Jahr mache ich alles anders …
Fedja: "Genau deshalb!"
Schwester: "Ach so, ja dann, ja ...". "Wir sollten vielleicht einen Tisch bestellen".
"Ist schon erledigt".
"Aber ich sehe doch, dass du den Laptop gar nicht eingeschaltet hast".
"Ich habe ein auch noch ein Handy ..."
 
6:30 Uhr am Morgen des denkwürdigen Tages. Glückwünsche von meinem "kleinen" Bruder (48). Ist er schon oder noch auf? Wahrscheinlich noch, wie ich ihn kenne. Ich antworte: "Wenn ihr Lust habt, kommt heute Abend zum Chin-Thai, wir treffen uns dort um 18 Uhr". Am liebsten hätte ich geschrieben: "Ihr habt doch nicht etwa Lust, auch zu kommen ..." Alles nochmal gut gegangen, seine Frau hatte eine Zahn-OP und wollte sich so nicht in der Öffentlichkeit zeigen.
AdÜ: Mein Bruder mit Frau und Fedjas russlanddeutsche Familie sind nicht wirklich kompatibel.
 
Nach erfolgreichem Toilettengang will ich ins Zimmer zurückschleichen, um niemanden zu stören. Mein Schwager läuft mir in die Arme, gratuliert mir etwas verwirrt ob der frühen Stunde, zieht sich Sneakers an, um seinen täglichen Lauf zu absolvieren. Seit einigen Monaten raucht er nicht mehr und läuft bzw. marschiert zweimal täglich ca. 6 - 8 km, nachdem sein Hausarzt eine ernste Warnung ausgesprochen hat. Er ist unser Jahrgang.
 
Später am Morgen: Olga, Schwager und Fedja fasziniert vor dem Fernseher, russischer Sender, Übertragung aus St. Petersburg, die bisher größte Marineparade. Ich setze mich dazu und meckere: "Dass es erlaubt ist, an einem so hohen Feiertag die Wäsche draußen aufzuhängen, verstehe ich nicht". Fedja und Schwager grinsen, Olga entrüstet sich:" Aber das sind doch Flaggen ..."
 
Später Brunch mit langjährigen Freunden. Normale Gespräche unter Gleichgesinnten, bei angenehmen Temperaturen im Freien, einfach nur schön! Viel Lachen, viel Nachdenkliches, gemeinsame Erinnerungen und Spaß. Einen der Freunde hatte ich seit über 11 Jahren nicht mehr gesehen und habe in kaum wiedererkannt. Seine Kinder spielten früher sehr gerne mit unserem Kater, wenn es bei uns Frühstück gab, und erinnern sich heute noch daran. Die Tochter ist 24 und schon ausgezogen, der Sohn mittlerweile fast mit der Ausbildung fertig. Zwei Paar feuchte Augen schauten sich an ...
 
Mein Handy störte ab und zu die Idylle, Fedjas Kinder gratulierten mir, seine Nichten ließen ihre Babys Happy Bithday singen, die Kleinste schaute ins Nirwana, wo Mama wahrscheinlich soufflierte, und popelt dabei an ihren Zehen herum, die Größere kaute beim Singen einen Keks und schnappte sich nach erfolgreicher Gesangsdarbietung gleich noch einen. Einige Gleichaltrige hießen mich im Club der Rentner willkommen, was ich abstritt: Erst übermorgen!
 
Gegen 14 Uhr zurück bei Olga. "Was wollt ihr essen, da sind ..."
"Nichts, wir haben bis eben gegessen".
"Aber noch nicht zu Mittag".
"Olga, bitte ..."
"Ja, aber ..."
"NIX!"
 
Am Nachmittag Kaffee und Kuchen, ich hatte eine gemischte Tortenplatte gekauft (Tiefkühlware).
Fedja und ich teilten uns ein Bonsai-Törtchen, um den Schein zu wahren. Unser Fitness-Freak nahm eins mit Obst, Olga griff dreimal bei Creme & Co. zu. "Ich weiß gar nicht, wovon ich so dick bin, ich esse doch ganz normal ..."
Olga: "Wir können auch eine Flasche Sekt aufmachen ..."
Ich denke, lieber nicht, mit Asti Spumante vom Aldi kannst du deinen Töchtern die Haare wunderbar stylen, aber mir klebt er die Magenwände zusammen, sage aber:" Ach, das lohnt nicht für uns beide, die Männer trinken doch sowas nicht". So unteralkoholisiert kann nicht mal ich sein ...
 
17:30 Uhr, warten auf den Schwager, der einen neuen Kunden kontaktieren musste. Er erledigt Gartenarbeiten, meist im Dunkelgraubereich.
17:45 Uhr, wir stehen an der Straße, um ins Auto springen zu können, wenn es denn auftaucht.
17:50 Uhr, Auto auf, rein und ab. Olga der personifizierte Vorwurf: "Du hättest fragen müssen, ob der Termin passt. Du weißt doch, dass wir heute ..."
"Ja, ja!"
17:55 Uhr Anruf von der Schwester: "Wo bleibt ihr denn?"
"Alles dicht in Limburg, da ist Weinfest, aber wir sind gleich da".
Weinfest??? Mit kommen gleich die Tränen .............
 
Tisch für 6 Personen, wir sind 5, die Sonne knallt kraftvoll durchs Fenster. "Oder Sie nehmen den hier (Vierer-Tisch), dann stellen wir einen Stuhl dazu". Schattig, aber der 5. Stuhl stünde voll im Gang. "Ach, das geht schon, die Sonne ist eh gleich weg". Kaum sitzen wir, tauchen verstohlen die Tempos auf, mit denen wir uns unauffällig den Schweiß von der Stirn tupfen.
 
Festliche Getränkebestellung: Wasser, zweimal Apfelschorle, ein Spezi und der Schwager bestellt mutig ein Bier. Olga: "Aber du musst doch noch fahren!" Ich liege schon fast unter dem Tisch vor Entbehrung.
 
Das Buffet ist hoffnungslos überbevölkert. 18:00 bis 18:30 Uhr ist nun mal die Zeit für ein deutsches Abendessen. Ich fange mit dem Dessert an, an der Theke ist noch nichts los. Die Diskussion über mein Sortiment aus Obst, Eis und Erdbeersoße möchte ich hier nicht niederschreiben.
 
Olga kommt mit einem überbordenden Teller voll Pommes, Nudeln und kleinen Frühlingsrollen.
Fedja: "Ein asiatisches Essen würde ich auch unbedingt immer mit Pommes beginnen". Olga schmollt. Fedja hat Shrimps ergattert und ist in seinem Element. Die älteste Schwester, kaut unlustig an Eisbergsalat und geschmacksneutralem Lachs herum, gesundheitsbewusste ca. 90 Kilo Lebendgewicht – die Schwester, nicht der Lachs ...
 
Die Sonne verzieht sich allmählich hinter das Gebäude von Rofu-Kinderland, auf das wir eine fantastische Aussicht genießen. Slogan: Wir wissen was gespielt wird! Die Atmosphäre wird etwas entspannter. Jetzt wage auch ich mich an die Futtertröge und hole mir wunderbare Leckereien, ohne Gedrängel und Geschubse, das findet jetzt am Schokobrunnen an der Dessert-Theke statt.
 
Olga kommt mit durchgeschwitzten Haaren und einem erbeuteten Dessertsortiment aus Tiramisu (wie schmeckt asiatisches Tiramisu? Möchte ich eigentlich nicht wissen) und Eis mit Schokosoße zurück. Die andere Schwester hat 3 Stückchen Ananas auf dem Teller. Die Männer haben sich für Wackelpudding mit Vanillesoße entschieden, wahrscheinlich das Kind im Manne.
 
Ein Gespräch kommt nicht so recht zustande, dafür ist es viel zu laut. Ich bin froh darüber, denn Fedja hatte mich schon vorgewarnt, dass seine älteste Schwester strikt dagegen ist, dass er einige Monate über die Rente hinaus weiterarbeiten will, mit meinem Einverständnis. Ich weiß zwar nicht was sie das angeht, aber da sie unser Familiengrab mitpflegt, bin ich ihr gegenüber zu äußerster Höflichkeit und ausgesuchter Freundlichkeit verpflichtet, was mir nicht immer ganz leichtfällt.
 
Punkt 20 Uhr will keiner mehr irgendetwas und ich bitte um die Rechnung, die mit den obligatorischen Glückskeksen überreicht wird. Keiner versteht seinen Spruch, da die deutsche Übersetzung wahrscheinlich von einem Programm erstellt wurde. Auf der Rückseite steht der Spruch in halbwegs brauchbarem Englisch und ich dolmetsche. Der Schwager trinkt heimlich an der Bar noch schnell ein Bier und einen Wodka. Ich beneide ihn!
 
Wir gehen noch ein paar Schritte, da Olga uns zeigen will, wo ihr Schwiegersohn jetzt arbeitet, was niemanden interessiert. Die Schwester sagt, wenn sie einen Mann wie den Schwager hätte, würde sie jeden Tag mit ihm laufen. Es geht leicht bergan und sie muss als einzige stehen bleiben, weil ihr die Luft ausgeht. Fedja will sie ein bisschen ärgern, aber ich boxe ihn in die Seite, der Tag soll friedlich ausklingen.
 
Zuhause bei Olga sitzen wir auf unseren Klappstühlen vor der Eingangstür und rauchen noch eine vorletzte Zigarette. Die große Terrasse ist leider unbewohnbar, da die teure Rattan-Garnitur, die man heutzutage haben muss, unter Schutzhüllen verpackt auf den nächsten großen Einsatz wartet. Für den täglichen Gebrauch ist sie einfach "zu schade".
 
Olga holt sich einen weiteren Klappstuhl aus der Küche und setzt sich zu uns. "Eine Kleinigkeit könnte ich jetzt noch essen, und ihr?" Entsetzen macht sich breit in unseren Gesichtern, Essen??? Ich sage ihr, dass ich gute Weinbergpfirsiche und kleine dunkle Weintrauben mitgebracht habe, die liegen auf der Anrichte. "Ach nein, ich denke, ich mache mir noch ein Wurstbrot. Wollt ihr wirklich nichts?" Wir wollen wirklich nichts ...
 
Montagmorgen 4:30 Uhr. Ich werde wach und stelle fest, dass mein Göttergatte schon bewaffnet mit Kaffee und Zigarette draußen sitzt. Ich leiste ihm Gesellschaft, nicht zuletzt wegen Koffein und Nikotin, und beschließe kurzerhand, gleichzeitig mit ihm aufzubrechen, er (leider) zur Arbeit, ich (alleine) nach Hause. In wenigen Minuten bin ich reisefertig - duschen usw. will ich sowieso lieber zuhause, da die Duschtüren hier undicht sind und das Bad regelmäßig überschwemmt wird. Bis ich das aufgewischt habe bin ich schon wieder durchgeschwitzt.
 
Eine kurze Danksagung und Gruß auf eine Serviette gekritzelt und schon sitze ich in meinem schmerzlich vermissten Audi. Es ist halb sechs und schon leidlich hell. Gedankenverloren fahre ich altbekannte Wege und stelle fest, dass es überhaupt keine Beschilderung gibt zur B49 Richtung Gießen/Kassel. Wir haben uns früher schon darüber lustig gemacht: "Man weiß das eben ..."
 
Gegen halb neun verspüre ich einen sanften Druck auf der Blase und ein leichtes Hungergefühl. Ich erwerbe für 70 Cent die Berechtigung, eine Toilette zu benutzen, und damit einen Gutschein über 50 Cent. Cappuccino (klein, mittel oder groß? - mittel ist immer gut) und Croissant kosten 5,99 €, was ich zähneknirschend zahle. Dank meines Pipi-Gutscheins sind es nur 5,49 €, was meine Laune minimal - um genau 50 Cent - hebt. Während ich meinen Cappuccino schlürfe, betrachte ich das Tassensortiment. Mittel ist eine normale Tasse, was ist jetzt klein und groß? Becher sehe ich, OK, das ist groß. Aber klein?? Nur Espressotassen ...
 
Bei der Weiterfahrt schweifen meine Gedanken ziellos durch Vergangenheit und Zukunft. Vor mir fährt in LKW mit der Aufschrift "Action - Heel veel A-Marken". Beim Überholen sehe ich den Spruch in Deutsch: Sehr viele Markenprodukte. Ich erinnere mich, dass es irgendwo einen Supermarkt ähnlichen Namens gibt, der sehr schöne Deko-Artikel führt. Ich hatte mir vorgenommen, dort einzukaufen, wenn unser Umbau jemals eines fernen Tages abgeschlossen sein sollte ...
 
Ein weiterer LKW ist von einer mir sehr gut bekannten Spedition aus Hessen. Ich frage mich, was sie so weit vom Stammsitz aus zu transportieren haben, sie waren früher einmal Zulieferer für Buderus (für Russlanddeutsche: Buderùs, Betonung auf der letzten Silbe).
 
Vorbei führt mich mein Weg an Leineholz, und mir fällt mein Lieblingsreporter Luten Leinhos ein, der sicher wegen seines Namens in seiner Kindheit sehr gelitten hat. Wann wurden aus Journalisten (Sch) eigentlich Journalisten (Dsch)? Ich kann mich nicht daran gewöhnen.
 
Fast hätte ich die Abfahrt zur A39 verpasst. Der Verkehr wurde zuvor schon spärlicher und spärlicher. Wer fährt freiwillig an einem Montagmorgen nach Nordosten? Auf der A39 ist es ganz aus. Drei Fahrzeuge bewegen sich dort. Man grüßt sich freundlich und verabredet sich auf dem letzten Parkplatz vor Nimmerland. Dort tauschen wir Telefonnummern aus, falls jemand liegenbleibt, vergewissern uns, dass alle genug Wasser und ein paar Kekse an Bord haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass vor Ablauf von zwei bis drei Monaten noch einmal jemand diese Strecke passiert, ist äußerst gering. Der Erste verlässt die Autobahn unter Hupkonzert, der Zweite fährt bei Wolfsburg ab. Ich bin den Tränen nahe - sollte ich wirklich den Rest der einsamen Strecke allein und schutzlos bewältigen müssen?
 
Und schon bin ich auf der Bundesstraße, die Autobahn hört einfach auf! Bis vor einigen Jahren war dies noch ein unberührter Fleck auf der Landkarte, unerforschtes Gebiet mit seltsamen Eingeborenen. Weder Christoph Kolumbus noch Magellan drangen jemals in diese unwirtliche Gegend vor. Die Navis gerieten völlig außer Kontrolle und meldeten pausenlos: Wenn möglich, bitte wenden ...
 
Bei unserem ersten Besuch hier haben wir uns hoffnungslos verfranzt. Auf die Frage, wo es nach ... geht, erhielten wir die Antwort: Ganz einfach geradeaus bis zur Kreuzung im Wald und dann rechts.
Kreuzung im Wald ??? Da war tatsächlich eine, die heute zum Kreisverkehr ausgebaut ist, und die Navis melden stolz und selbstbewusst: Im Kreisverkehr die zweite Ausfahrt ...
 
Ich passiere das Schild zwischen Brome und Mellin: Bis zum 19. November 1989 war Deutschland hier geteilt ... Und denke mir: Die waren aber spät dran. Auf der Webseite hatte ich mal gesehen, wie viele sehr junge Leute hier zu Tode kamen bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren. Mit meinem Vater hatte ich in jungen Jahren die Diskussion, ich hätte es auch mit aller Gewalt versucht. Er sagte völlig abgeklärt: "Du hättest doch gar nichts anderes gekannt!" Ich werde nie erfahren, wer Recht hatte.
 
In der nächsten Ortschaft lockt mich ein Lidl zum Abkühlen und Proviant bunkern. Und wieder fällt mir ein, dass ich an einem Mangel von C2H5OH leide, seit TAGEN!!! Also landet zum belegten Brötchen auch ein kleines rosafarbenes, kohlensäurehaltiges Getränkefläschchen auf meinem Beifahrersitz.
 
Endlich holpert mein PKW über Kopfsteinpflaster - ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich bald zuhause bin. Meine Güte, wie kann man sich so freuen über einen Wohnsitz am A... der Welt, auf einem gottverlassenen Dorf mitten in der Pampa! Aber es ist mein Zuhause, hier steht mein Bett, hier kann ich duschen, ohne hinterher die Überschwemmung beseitigen zu müssen, hier wartet eine Katzenfamilie auf mich ... Hier bin ich zuhause!
 
Und ab morgen bin ich in Rente!!!
 


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Kommentare (2)

silesio

   Nachträglich auch von mir die besten Wünsche für die Zukunft!
          Christoph

Via

Vielen Dank, den Artikel habe ich vor ca. 1,5 Jahren geschrieben. 
Mittlerweile ist neben meinem Mann auch der gesundheitsbewusste Schwager verstorben.
Einer der Gründe, warum ich mich über jeden Sonnenaufgang freue wie ein kleines Kind ...


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