Abenteuerlust

Ein deutschstaemmiges Ehepaar erzaehlte mir ihre Geschichte, die ich hier aufgeschrieben habe.
So lange man denken kann, waren Menschen bereit, ihre Heimat zu verlassen, um irgendwo in der Ferne ihr Glück zu suchen. Oft aus Not, manchmal auch aus purer Neugier oder Abenteuerlust. Dabei ging oft nicht alles so problemlos, wie man es sich erwünscht oder vorgestellt hatte.
In den 50ger Jahren inserierte die Australische Botschaft immer wieder in der regionalen Zeitung, dass sie qualifizierte Arbeiter und Handwerker suchten. Die Ueberfahrt und spaetere Rueckreise wuerde bezahlt, wenn man sich fuer 2 Jahre verpflichtet. Das waere doch etwas fuer uns und direkt nach unserer Hochzeit stellten wir einen Antrag, auf den wir jedoch keine Antwort erhielten. Wir hatten die Sache schon fast vergessen, als nach drei Jahren – es war kurz vor Weihnachten – ploetzlich ein dicker Brief ins Haus geflattert kam mit einer Unmenge von Formularen und einem dazugehoerigen Begleitschreiben: Wenn wir noch interessiert seien, sollten wir die Antraege schnellstens ausfuellen und nach Bonn schicken, damit wir im Maerz, das waren nur noch drei Monate, die grosse Reise nach Australien antreten koennten.

Wir hatten inzwischen einen kleinen Sohn und ich war schon wieder schwanger. Damit hatten wir nicht mehr gerechnet! Aber nach kurzer Überlegung stand fest: Wir fahren! Sehr zum Entsetzen unserer Eltern. Wir beruhigten sie und die restlichen Verwandten: „Wir kommen ja nach zwei Jahren wieder!“ Alles, was uns wichtig erschien, wurde in Kisten gepackt, vor allem die Babyausstattung und die Spielsachen. Die kurze Wartezeit kam uns endlos vor und wir waren froh, als wir endlich das Schiff betreten konnten.
Es handelte sich um den norwegischen Passagierdampfer Skaubryn, der am 14. März 1958 mit über tausend Passagieren, darunter 795 Deutsche, von Bremerhaven aus in See stach. Wir sprachen, wie auch die meisten anderen Passagiere, kein Wort Englisch. Deshalb war es gut, dass an Bord Englischkurse für Anfänger angeboten wurden. Die See war ruhig und die Skaubryn kam gut voran. Es war eine reine Routinefahrt für das Schiff und seine Crew, welche diese Reise schon zum wiederholten Male machte. Dann geschah das Unvorstellbare! Es war in der Nacht vom 31. März auf den 1. April. Wir fuhren gerade durch den Indischen Ozean, als es plötzlich Alarm gab. Im Maschinenraum war Feuer ausgebrochen, das sich in Windeseile ausbreitete. Und es hieß: „Alle Passagiere sofort in die Rettungsboote!“

Nun geschah, was man normalerweise nur aus Horrorfilmen kennt: Es waren bei weitem nicht genügend Rettungsboote vorhanden! Nur die Frauen und Kinder durften in die Boote. Die waren anschließend so überfüllt, dass sie nur eine Handbreit über dem Wasser lagen. Da uns bei dem Alarm keine Zeit geblieben war, konnten wir nichts mitnehmen und trugen nur die Sachen am Leibe, die wir zum Schlafen benutzt hatten, also Nachthemde oder Schlafanzüge.

Es war furchtbar, ich mit meinem dicken Bauch, auf dem Schoß den Kleinen in dem völlig überladenen Boot. Dann der Gedanke, meinen Mann auf der brennenden Skaubryn zurückgelassen zu haben. Es war Nacht und um uns herum wimmelte es vor Haien. Unser männlicher Begleiter, der sehr ruhig und Vertrauen erweckend wirkte, gab uns ständig Tipps, wie wir uns verhalten sollten. Vor allen Dingen rief er immer wieder: „Haltet um Himmels willen nicht die Hände ins Wasser!“ Es war ein Segen für uns, dass die See so ruhig war. Man kann sich das nicht vorstellen, wir in dem kleinen Boot und rundherum nur Wasser. Schemenhaft konnte man die anderen Boote sehen. Noch nie habe ich einen solchen Vollmond gesehen. Er beleuchtete eine grosse Flaeche des Meeres, das silbrig mit ganz zarten Wellen vor uns lag. Diese stille Unendlichkeit brachte mich in einen ganz eigenartigen Zustand. Auch die anderen im Boot muessen aehnliche Empfindungen gehabt haben. Es wurde kaum ein Wort gesprochen. Man hoerte kein Kinderweinen.
Ich weiß nicht, wie lange wir so im Meer getrieben waren. Ich befand mich inzwischen in einem Zustand der Erschöpfung; mir kam alles wie ein Wachtraum vor und ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren: Waren 5 oder 10 Stunden vergangen, als ich plötzlich durch Rufe und Stimmengewirr in die Wirklichkeit zurückgerufen wurde und sah, dass nicht weit von uns ein riesiges, plumpes Etwas auf uns zugestampft kam. Es handelte sich um einen total vergammelten und rostigen Öltanker, auf dessen Seite kaum noch leserlich, fast wie zum Spott, der Name „Stadt Sydney“ zu lesen war.

Es wurden Leitern heruntergelassen und wir krabbelten mit letzter Kraft die steile Reling empor. Die meisten fielen, nachdem sie oben waren, einfach um und sanken in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Nachdem ich die Mitglieder der Crew gesehen hatte, es waren finstere und unheimliche Gestalten sämtlicher Hautfarben, machte ich mir zunächst mal Sorgen um den Kleinen. Aber wie sich herausstellte, waren es herzensgute Menschen, die sich, soweit es ihnen möglich war, liebevoll um uns kümmerten. Ein riesiger abgerissen wirkender Chinese ging unter Deck. Als er zurückkam, hielt er einen schon etwas in die Jahre gekommenen und leicht zerzausten Teddybären in der Hand, den er mit lächelndem Gesicht meinem Sohn überreichte.

Auf jeden Fall hatte der alte Tanker und seine Crew uns sicher im Hafen von Aden abgeliefert. Wir waren froh, dass wir das Schiff verlassen konnten und endlich wieder festen Boden unter den Fuessen hatten. Hier erfuhren wir, dass der Tanker uns gar nicht hätte aufnehmen dürfen. Denn er war nur noch bedingt seefähig und zum Verschrotten auf dem Weg nach Liverpool. Deshalb war die Mannschaft wohl auch ein bisschen anders als üblich. Die Passagiere wurden nun getrennt und vorerst in verschiedene Notunterkünfte gebracht.
Ich bekam – wegen des Kindes und meiner Schwangerschaft – in einem teilweise fertigen Krankenhaus ein freundliches Zimmer. Die Verständigung war schwierig, aber alle waren freundlich zu uns. Leider konnten wir das Haus nicht verlassen. Das war, wie man mir sagte, für Weiße im Moment zu riskant, wegen der Suez-Krise. Wir bekamen jetzt endlich auch etwas zum Anziehen, ich ein kaftanähnliches Frauengewand und mein Sohn einen braunen Kittel und ein dazugehörendes Käppchen. Er sah darin richtig putzig aus.
Damit wir etwas Bewegung hatten, sind wir Hand in Hand stundenlang kreuz und quer durch die Baustelle gewandert. Mit den anderen Geretteten hatten wir keinen Kontakt und keine Ahnung, was mit ihnen passiert war. Alles war sehr trostlos, weil uns niemand sagte, wie es denn nun weiterging. Wer sollte einem auch schon etwas sagen, wo wir sowieso kein Wort verstehen konnten? Dann tat sich doch endlich etwas. Wir wurden von einem Auto abgeholt und zum Flughafen gefahren. Hier trafen wir auch noch einige andere der Geretteten, die uns freudig und mit viel Hallo begrüßten.

Allesamt wurden wir nun in ein nicht sehr großes bereitstehendes Propellerflugzeug verfrachtet und ab ging die Post nach Australien. Am 21. April kamen wir in Darwin an. Nachdem wir alle in einer Sammelunterkunft, die normalerweise als Notaufenthalt für Australier bei Hochwasser in der Regenzeit diente, untergebracht waren, wurde uns als Erstes mitgeteilt, dass alle Männer von der Skaubryn gerettet wurden und auf dem Weg nach Darwin seien. Kein Mensch kann sich unsere Freude und den Jubel vorstellen, den diese Meldung auslöste. Vier Tage später kamen sie an. Die Männer hatten alle überlebt und waren bei bester Gesundheit. Nur ein älterer Mann hatte bei den Strapazen einen Herzinfarkt bekommen und war gestorben.
Ihre Rettung kam in allerletzter Minute. Nachdem wir mit den Rettungsbooten weggetrieben waren, entdeckte ein italienischer Passagierdampfer die Skaubryn. Die stand mittlerweile lichterloh in Flammen, die zurückgebliebenen Passagiere standen dicht gedrängt an der Reling und rechneten nicht mehr mit einer Rettung. In einer Blitzaktion wurden alle evakuiert und in Sicherheit gebracht. Die Skaubryn ist einige Zeit später, nachdem sie völlig ausgebrannt war, durchgebrochen und im Meer versunken.
Die Geretteten wurden mit den nötigsten Sachen versorgt und dann auf dem direkten Weg nach Darwin gebracht. Hier hatte sich auch ihre wunderbare Rettung inzwischen herumgesprochen und sie wurden, wie auch wir vorher, mit allem versorgt, was sie zum Leben benötigten. Wir waren sehr gerührt, denn mit so viel Liebe und Menschlichkeit hatte keiner von uns gerechnet. Wir wurden von Darwin nach Brisbane gebracht (das sind etwa 3000 Kilometer). Damit hatten wir nicht gerechnet. Normalerweise kamen alle Neueinwanderer zuerst in ein Lager. Dort wurden sie registriert und sobald sie Arbeit und Wohnung gefunden hatten, konnten sie aus dem Lager ausziehen. Aber unser „Ruhm“ der Geretteten ging uns voraus und ersparte uns das Lagerleben. In Brisbane bekamen wir ein schoenes kleines Haus in dem unser zweiter Sohn geboren wurde. Er war kräftig und kerngesund. Außerdem hatte mein Mann direkt einen Arbeitsplatz in seinem Beruf bekommen. Es war wunderbar, der Lohn war gut, das Wetter prima und die Lebenskosten niedrig. Wir konnten jeden Monat tüchtig was sparen.
Als die zwei Jahre um waren, kamen wir gar nicht mehr auf die Idee, nach Deutschland zurückzukehren ... Und so erging es auch den meisten anderen, die mit uns angekommen waren. Wenn wir auch zutiefst im Inneren unsere alte Heimat noch sehr lieben, hat uns Australien doch stark in seinen Bann gezogen und lässt uns nicht mehr los.


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Kommentare (9)

nasti verfilmt werden, es ist so spannend, und wie du es beschreibst liebe Koala, bringt mich zum große Bewunderung, du bist ein Talent. So lebendig, keine Sekunde langeweillig.
Habe Dich nur jetzt entdeckt, mein Nomaden Blut und ewigen Sehnsucht nach Unbekannte spielt verrückt, bin auch einne ausgewanderte, aber nur hier in Europa.
Möchte ich gerne auch Deine auswanderung lesen, oder hast du das schon geschrieben? Jetzt lese ich alles durch

Liebe grüße

Nasti

ridi Du weisst ich lese sehr gerne Geschichten von Dir, die von der Abendteuerlust
ist besonders spannend , es erinnert mich daran , dass wir auch fast ausgewandert
wären , aber nur , in die Schweiz, meine Schwester tat es und blieb auch dort
alles Liebe Maria
koala Beim naechsten Treffen werde ich ihnen erzaehlen, dass die Geschichte so gut angekommen ist und ich werde Deine Gruesse ausrichten. Sie werden sich sicher darueber freuen.
Es winkt zurueck
Anita
Britt ganz spannend und intensiv hast du die Geschichte von dem jungen deutschstämmigen Ehepaar beschrieben. Seht ihr dieses Ehepaar noch manchmal? Grüße sie unbekannterweise und dir wink ich auch herzlich zu, Britt
koala liebe immergruen, kann man auch verzichten. Die Versicherung hatte die Entschaedigung sehr grosszuegig gehandhabt. Jedoch noch heute, nach 50 Jahren, sagt die Dame, wenn sie eine Seekarte sieht: "Dort im Indischen Ozean, im Golf von Aden, liegt das schoene Kaffeeservice von meiner Oma". Ein Erinnerungsstueck kann man mit Geld nicht ersetzen.
Herzlich Anita
koala Danke minu, danke girasola. Ich habe zu Anfang der Geschichte einen ergaenzenden Satz geschrieben. Nun weiss jeder, dass es meine Geschichte, aber nicht meine Einwanderung ist. Herzlich Anita
immergruen hatte ich schon einmal geäußert, dass mir für solch ein Unterfangen der Mut gefehlt hätte. Bewundernswert, wer ihn hat.
Die Sehnsucht nach der "alten Heimat" ist verständlich, aber im Zeitalter moderner Kommunikation doch sehr nah gerückt, wie man an eurer Anwesenheit hier im ST lesen kann.
Liebe Grüße von immergruen
girasola und das ist er ja auch.Danke,dass Ihr uns an Eurem Leben teilhaben lasst.
Deine Gabe alles so detailiert zu beschreiben kann ich nur bewundern.
LG Rosemarie
minu Das war sehr mutig von Euch, eine Fahrt ins Ungewisse,
mit glücklichem Ausgang.

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