Alles nur noch Dunkelheit!


Alles nur noch Dunkelheit!

 
Diese Dunkelheit erschien mir völlig schwarz. Kann man sich vorstellen, was wirklich schwarz ist? Nein, niemand kennt diese Farbe Schwarz wirklich. Man kann sie nicht sehen, sie kann nur erlebt werden! Gewiss, völlige Finsternis erscheint schwarz, sehr ähnlich diesem Fehlen an Farbe, dennoch bleibt es auch in finstersten Nächten immer russfarben, dämmergrau in der Welt ›Übertage‹.
Die Schwärze jedoch, die hier eingetreten war, schien das vollkommene Nichts zu sein, der finsterste Zustand, den eine Umgebung annehmen kann.
Da war kein Schatten, keine Silhouette eines Gegenstands, da war nicht einmal eine Ahnung von etwas Vorhandenem. Das vollkommene »Nichts« hatte sich aufgemacht, um mich, den jungen Bergmann an diesem Ort festzuhalten. Es hatte mich eingefügt in ein Mauerwerk von Stein und Kohle, ohne dass ich dessen Konsistenz annahm.

Dieser Istzustand machte mich nun zu einem Faktum totaler Abhängigkeit, ohne Möglichkeit zu einer Änderung des Zustands. Ich lebte, zweifellos, gleichwohl schien mein Körper dazu verurteilt, sich in dieses Gefüge von Kohle, Steinen, Holz und Metallteilen eingliedern zu lassen! Musste ich das hinnehmen? Mein Herz sagte mir, dass ich ruhig bleiben müsse, während mein Verstand alle möglichen Situationen durchspielte, die sich dadurch ergaben, dass ich nichts tun konnte, um meine Lage zu ändern. Nichts? Nein, das ist doch nicht genug, das konnte es doch nicht sein. Mit geschlossenen Augen durchwühlte ich dann den staubigen Untergrund meiner kleinen Enklave. Säge, Beil, alles lag direkt neben mir - auch der Abbauhammer. Würde mir sicherlich nichts nützen, da die Leitung ja geborsten war. Dann aber fand ich den größten Schatz des Tages:Die halb geleerte Trinkflasche mit Tee! Ich nahm einen kleinen Schluck - welch eine Kostbarkeit können doch ein paar Tropfen Flüssigkeit sein!

Ich forschte danach weiter in meiner kleinen Höhle, in der ich gefangen war. Wo war das Rohr, das mir ständig kalte Luft auf den Körper blies? Eigentlich war es über der Schüttelrutsche angebracht; ich versuchte, den Ursprung dieses Gebläses zu ertasten. Da, gefunden, das war die Quelle der Luft, die ich zum Atmen brauchte und die mir gleichzeitig Kälte auf den Körper schickte. Mit meinem Halstuch verringerte ich den Zustrom der kalten Luft. Dadurch wurde es etwas angenehmer, ich konnte somit die Temperatur der Umgebung etwas steuern.

Der Staub schien sich inzwischen gelegt zu haben. Nach einer kurzen Ruhepause nahm ich dann das gefundene Beil und schlug mit der stumpfen Seite vorsichtig gegen das Rohr. »Klopf-Klopf-Klopf-Klopf«!
Vier Schläge, aus dem Seilfahrtsrepertoire entliehen, bedeutet »Personenbeförderung«! Nun gut, zu befördern war da nichts, aber als Erkennungssignal reicht es. »Klopf-Klopf-Klopf-Klopf«!
Dann wieder Pause, ich horchte, ob irgendwoher eine Antwort kam. Nichts. Unentwegt schlug ich gegen die Rohrleitung, dann wieder Pause, klopfte wieder und so fort! Da - plötzlich ganz laut, ganz nahe die gleichen Klopftöne! Ich rief, schrie ganz laut in die Dunkelheit hinein: »Juuupp!«
Es klang wie in einer Höhle, ohne Schall, ohne Echo. »Joseeeph!« Nichts, kein Ton, nur meine eigene verstaubte Stimme quälte sich aus mir heraus. Ich klopfte wieder, wieder und immer wieder, mit Pausen dazwischen. Dann kam eine Antwort, zweimal der Viererschlag!
Mein Herz klopfte jetzt genau so laut wie die Schläge dort an der Rohrleitung. »Klopf-Klopf-Klopf-Klopf«.
Ich lauschte wieder - deutlich, aber etwas leiser, gerade noch hörbar, diese Antwort! Kurz darauf wieder das erste Klopfzeichen, lauter als das vorige! Vor Freude rief ich in die Dunkelheit hinein: »Ja!«

Da waren mindestens zwei Kumpel, die mir antworteten. Ich schrie meine Erleichterung in die Finsternis hinein, brüllte schon fast tonlos, mit beiden Fäusten schlug ich wieder und immer wieder gegen die steinerne Wand, die mich von den anderen trennte. Erst als mir die Hände schmerzten, erkannte ich, dass es natürlich völlig unsinnig war. Diese Gesten der Unzulänglichkeit bewiesen mir nur, dass ich eingeschlossen war. Doch ich war nicht mehr allein hier unten! Aber was heißt das denn schon: Nicht allein? Die Kumpel waren getrennt und doch allein. Jeder für sich. Mir fiel der Titel eines Romans von Hans Fallada ein: ›Jeder stirbt für sich allein!‹
Sterben? Was dachte ich denn da? »Hey!« schrie ich dann noch einmal laut in diese gesichtslose Dunkelheit hinein, »wer redet denn so einen Quatsch? Das wollen wir doch erst mal sehen, ja?«
Wie kam ich eigentlich auf solch eine Idee? Sterben. Pah, da gehen noch einige tausend Wochen Zeit ins Land, nicht wahr? Da woll’n wir doch erst noch mal was erleben, nicht? Sonntag geht’s zur Borussia und abends wartet Ursula mit den Bratkartoffeln, die immer so wunderbar schmecken! »Wäre doch gelacht, nicht wahr, Jupp?«

Schon wieder ertappte ich mich dabei, wie ich mit den Menschen Zwiesprache hielt, die zwar auch da waren und doch nicht bei mir! Aufpassen, Horst! Immerhin brachten Selbstgespräche etwas Abwechslung in dieses namenlose Dunkel. Wieso eigentlich Selbstgespräche? Machten das nicht nur Verrückte und Spinner? Neulich hatte ich gelesen, dass mehr als 90 Prozent der Menschen in Gedanken mit sich selbst reden. Und das wäre auch gut so, denn Selbstgespräche hätten großen Einfluss auf das Wohlbefinden und die innere Zufriedenheit.
Dann kam es plötzlich wie ein Schock über mich: Alles, was ich bisher an klopfenden Geräuschen hörte, hatte die Ursache oben aus dem Streb, aus den Lagen über mir. Doch weiter unten im Streb, da waren doch auch noch vier Leute. Von denen hatte ich noch nichts, rein gar nichts gehört. Ich klopfte also wieder meine vier Schläge. Wieder und immer wieder. Alles was danach als Antwort kam, waren die Geräusche von meinen Kumpeln über mir, die darauf antworteten. Ich konnte lokalisieren, dass diese Laute aus der oberen Richtung kamen.

Ich schlug einen kurzen Schlag an das Rohr. Das Zeichen für HALT. Alles war sofort still! Dann mein neues Signal: »Klopf-Klopf-Klopf-Klopf«!
Die Freunde hatten es kapiert! Sie mussten gespürt haben, dass ich Versuche in die andere Richtung unternahm.
Aber es war vergeblich, von den Leuten dort unten war kein Laut zu hören. Nach einiger Zeit gab ich wieder das Halt-Signal und die Stille kehrte wieder ein. Es schien eine lautlose Dunkelheit zu sein, diese Nacht ohne jeden Ton zerrte doch unablässig an den Nerven.

Wie spät mochte es sein? Ich holte meineTaschenuhr aus ihrer staubdichten Tresortasche. Erkennen ließ sich nichts. Natürlich nicht. Aber sie tickte. Sie brachte urplötzlich ein wenig Leben in die einsame Dunkelheit.
Ich betätigte den Aufzug. Ritsch-ratsch-ritsch-ratsch. Hielt dann die Uhr wieder ans Ohr. Welch ein wunderbares Geräusch, sie tickte unverdrossen vor sich hin, teilte die Zeit in festgelegte Abschnitte ein und gab sie dann weiter. Leider verstand ich diese Sprache nicht, ich war doch darauf getrimmt, sie zu sehen! Das Gehör ist da nicht geeignet und mein Röntgenblick war anscheinend ausser Gefecht gesetzt. Dennoch beruhigte mich das kleine Ding mit ihrem Ticktack, Ticktack, zeigte mir, dass meine Zeit noch da war, diese Zeit, die meine ureigene ist.
Diese Zeit wollte ich mir nicht einfach wegnehmen lassen! ›Niemand hat das Recht dazu, mir die Epochen meines Lebens zu kürzen‹, dachte ich. Sicher, so weit war ich mit meinen Gedanken im Klaren.
Dann aber kam die Frage: Woher hatte ich denn diese Zeit? Wer gab sie mir, wer schenkte mir die Möglichkeit, dass ich denken konnte, denken und leben, denken und leben und protestieren? Wer also? Meine Eltern etwa? Gewiss, sie hatten ihren natürlichen Anteil daran, dennoch konnte das nicht die letzte Erklärung sein. Da blieb schließlich nur eine Möglichkeit übrig: Gott!
Na sieh mal an, nun glitt ich doch schon ins Übernatürliche ab, immer wenn nichts Fassbares mehr vorhanden ist muss also Gott herhalten. Wie oft hatte ich das schon angeprangert. War ich nun selbst in dieses Fahrwasser gelangt? »Ich will das nicht!« Ich schrie das laut in die Finsternis hinein!

Meine Zeit-Gefährtin verstaute ich wieder in ihrer Tasche, wollte mich nun den realen Dingen zuwenden. Da war zuerst ein winziger Schluck Tee aus der Flasche, leider vermehrte sich dieser Tee dort nicht so, wie damals das Brot bei der Bergpredigt.
‚Wunderbare Vermehrung‘! Solche Märchen waren einfach nicht mein Ding. Irgendwelche Naturphänomene, die man nicht erklären konnte, wurden einfach einem göttlichen oder übernatürlichen Wesen zugeschrieben. Und dieses hatte dann das Wunder bewirkt!
Ich überlegte: »Wenn ich hier wieder lebend herauskomme, werde ich gern an Wunder glauben!«

Zur Abwechslung klopfte ich mal wieder an mein Signalrohr, versuchte, die Kumpel über mir zu erreichen. Sie antworteten sofort, schien also alles in Ordnung zu sein. Es beruhigte doch das innere Gefühl. Aber was war mit den Anderen, die im Streb unter mir arbeiteten? Ich hatte immer noch nicht das Geringste von ihnen gehört. Was war mit Mats dem Holländer und Dieter, dem kleinen Berglehrling? Was mit Toni von der Alm und dem immer lustigen ›Icke‹? Was war mit ihnen?
Hoffentlich war da …? Nein, so weit durfte ich nicht denken. Das konnte einfach nicht sein, so unbarmherzig konnte der da oben doch nicht sein!

Nein, solche Gedanken zogen mich in eine depressive Phase hinein. Das durfte nicht geschehen. Ich versuchte deshalb, an ein Gedicht zu denken. Die lyrischen Zeilen, an die ich mich erinnern konnte, fuhren im Kopf Karussell. Ein wüstes Durcheinander von Goethe, Rilke und Stefan Zweig trafen sich in meinem Kopf zu einem traulichen Miteinander.
... vom Mädchen reisst sich stolz der Knabe
und stürmt ins Leben wild hinaus …
… Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben!
… So war, was ich, ein Kind, ein Träumer nahm das Leben schon? 

Wie - wie ging das denn weiter? Alles wieder verschwunden, untergegangen im Kohlenstaub des Vergessens?
Alles fort? Alles …


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Kommentare (5)

Humorus

Hallo Horst, ich kann nur eines zu Deiner Geschichte sagen - lebensnah und realistisch nachvollziehbar aufgeschrieben.  Ein Erlebniss , welches keiner von uns so richtig nachvollziehen kann. Die Geschichte hat mich gefesselt und ich werde den zweiten Teil bestimmt nicht auslassen.
Danke dafür.

Einen lieben Gruß
Klaus

Rosi65

Toll geschrieben, lieber Pan!!! Ich bin sehr beeindruckt.

Bei meinem letzten Besuch im Bochumer Bergbaumuseum ließ ich mich mit dem Lift nach unten in den Stollen fahren. Er liegt nicht sehr tief und ist auch beleuchtet.Vorbei an der alten Dahlbuschbombe, an der Attrappe eines Grubenpferdes lief ich kreuz und quer durch die Gänge.Plötzlich bemerkte ich, dass ich dort ganz alleine war.Wo waren die anderen Besucher?
Mich überfielen gleichzeitig Grusel und Platzangst.Ich eilte zurück zum Lift und schellte eilig nach dem Fahrstuhlführer, denn ich wollte da nur noch raus.
Welch eine Horrorvorstellung, dass einige Bergleute es real erlebt haben.

Viele Grüße
Rosi65

Dnanidref

Lieber Horst auch ich danke Dir für den I. Teil Deines einsamen, dunklen und höchst dramatischen Erlebnisses - es hat mich fasziniert - und freue mich voller Spannung auf den II. Teil!

Lieben Gruß
Ferdinand

Manfred36

Ich denke wie Brigitte.
Als wir die "wilden"  Silber- und Kupfergruben am Donnersberg erkundeten (damals noch möglich und mit "Bergmannsausrüstung" und Seil) dachte ich auch manchmal an die Situation, eingeschlossen zu sein; aber man kann sich nicht wirklich hinein versetzen.

Roxanna

Ich hoffe doch sehr, Horst, dass es eine Fortsetzung gibt. Auch, wenn ich weiß, dass du gerettet worden bist, denn sonst könntest du hier nicht schreiben, kann das so nicht enden. Du hast so spannend geschrieben, dass sich die Beklemmung auf mich übertragen hat. Wenn ich mir vorstelle, unter der Erde eingeschlossen zu sein, dann ist das doch ein einziger Alptraum.

Herzlichen Gruß
Brigitte


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