Als man noch "schwarz" über die Grenze ging


ja, der Krieg war zu Ende, die Sektoren aufgeteilt und wir saßen im Sowjet-Sektor. Im Herbst 1947 wurde ich dann auch eingeschult und konnte endlich zur Schule gehen. Der Klassenraum wirkte hell und freundlich, die Lehrerin auch und so nahm ich das langweilige ABC hin und las meinen Klassenkameraden alles vor, was an der Tafel stand. Meine Lehrerin maßregelte mich und ich mußte die Klappe halten. Der Winter kam, die Schule konnte nicht beheizt werden (aus Kohlenmangel) und wir zogen in die Sakristei der kleinen ev.Kirche um, in der ein riesiger Bullerofen stand. Man brachte nicht nur Stift und Tafel in die Schule mit, sondern auch Holz und wer konnte, auch Kohlen. Wir machten oft Ausflüge und sammelten Knüppelholz, damit es im "Schulraum" etwas wärmer wurde. Jeder war eingemummelt bis zur Unkenntlichkeit. Und eines Tages hörte ich nicht mehr auf zu frieren. Ich legte den Kopf auf die Tischplatte, bibberte vor mich hin, die Lehrerin zog mich hoch, gab mir eine Ohrfeige und ich fiel, fiel und fiel und blieb liegen.
Zu Hause wurde ich wieder wach und lag im Bett.
Es war kein Traum, nein, ich hatte Fieber und einen Schüttelfrost. Meine Mutter machte Umschläge und Wadenwickel, mein Durst wurde mit abgekochten Wasser gestillt und das erzeugte sofort einen Brechreiz. Meine Mutter bückte sich nach dem Nachttopf und würg...ihr alles auf den Kopf. Die Nacht verging irgendwie, man erzählte, daß ich die wildesten Fieberphantasien gehabt hätte, und meine Mutter und Tante M. verpackten mich in die Federdecken und schnürten mich auf den Gepäckträger vom Fahrrad fest. Zeitweise kam ich zu Bewußtsein und erkannte auch, daß ich auf dem Gepäckträger saß und Mutti wie verrückt strampelte und fuhr. Ich hörte sie manchmal auch meinen Namen rufen und meinte auch zu antworten. Im Krankenhaus angekommen, hatte ich wieder einen lichten Moment, ich saß auf einem Bett und die Schwester herrschte mich an: zieh dich aus. Ich fiel wieder um. Dann war Mutti da und puhlte mich aus den Klamotten und ich schlupfte unter die kuschelige Decke. Von den Untersuchungen des Arztes weiß ich nichts mehr, jedenfalls wurde ich wohl am nächsten Tag wach und mir ging es besser. Das Bild war wieder klar. Die Schwester war rührend um mich besorgt, ließ mich auch auf die Füße stellen und ein paar Schritte gehen. Die Welt hatte mich wieder. Mutti kam, nahm mich in den Arm und erzählte mir, was ich alles erzählt hatte und ich müßte nun ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Wie lange das war, weiß ich nicht mehr, jedenfalls kam Opa und Omi, Opapa und Omama und Tante Anna und und und...das dürfte schon eine ziemlich lange Zeit gewesen sein. Nur meine Freundin, die andere Monika, die durfte nicht rein. Komisch. Der Schlag kam, als man mir erklärte oder versuchte zu erklären, daß ich eine doppelseitige Lungenentzündung mit Verdacht auf Tuberkulose hatte. Aha, davon hatte ich schon was gehört, das hatte ein Freund von meinem Vater auch gehabt. Das mußte ganz schlimm sein. Meine Husterei wurde strengstens überwacht und jedesmal mußte ich in einen Lappen ausspucken und man schaute sich das ganz genau an. Eines Tages kam der Arzt, ein grauses Männlein, gab mir die Hand und verkündete, daß ich nach Hause dürfe. Ich konnte mein "Taxi" kaum erwarten, Mutti kam mit Fahrrad an und verschnürte mich wieder mit den Federbetten auf dem Gepäckträger und ab ging die Fahrt nach Hause. Diesmal ging es leichter für sie, ich konnte mitbalancieren, denn es lag noch immer Schnee. Und dann war es schön - im kleinen Wohnzimmer auf der kleinen grünen Couch und der grüne Kachelofen, der in voller Hitze stand. Tante M. schlachtete sogar ein Huhn und ich bekam Hühnersuppe, bis ich sie nicht mehr riechen konnte. Ich durfte stundenweise aufstehen und kam langsam wieder zu Kräften. Meine Mutter schmiedete einen Plan, ganz geheim natürlich - sie sagte nur: wir fahren zu Tante Elschen! Aha, die war aber im Westen. Wie soll das gehen? Weihnachten kam genauso wie die Großeltern, mein Opa schenkte mir ein Paar Rollschuhe mit Kugellager und Gelenk zwischen den Vorderrädern. Eine Sensation, die nicht zu übertreffen war. Ja, nun aber Gas, der Schnee mußte weg, die Straßen mußten frei werden, ich mußte Rollschuhlaufen. Und endlich, endlich war es soweit, ich war wieder gesund und durfte auf die Straße. Meine dickste Freundin, die andere Monika, erblaßte vor Neid, denn ich hatte nur noch Rollschuhe im Kopf. Sie hing sowieso ein bißchen hinterher, mit dem Schlittschuhlaufen war es auch nicht besonders bei ihr. Unsere Freundschaft zerbrach daran nicht. Naja, die war ja auch ein Jahr jünger als ich! Die lernt das schon noch.
Aber der Plan......der war äußerst interessant. Tante Elschen, letztmalig in Prerow gesehen, mit Hollie, meinem Cousin, damals war er gerade knapp 1 Jahr alt, das wäre eine Geschichte. Mutti ging auf Hamstertour um Strecken auzukundschaften und machte sich auf den Weg nach Hamburg. Sie tat das nicht nur einmal - immer wieder. Und sie brachte immer so wunderbaren Bückling mit und mir gehörte der Rogen. Der schnurbste so herrlich zwischen den Zähnen und es schmeckte. Meistens war sie immer so 4 Tage weg und Tante M. hatte 2 Augen auf mich. Die Großeltern durften davon nichts wissen und ich schwieg und freute mich auf den Bückling. Zuhause spielte ich Hausfrau, kochte mein morgentliches Mehlsüppchen alleine, kippte einen Schuß von der Erdbeersiruppampe drauf, weil sich alles so schön in pink verfärbte, ging in die Schule und hielt alles streng in Ordnung. Wenn einer meiner Großeltern auftauchte, ja, Mutti ist hamstern.
Irgenwann flog der Schwindel natürlich auf und ich wurde dann in der Schule "krank" gemeldet und verbrachte diese Tage bei Omi und Opa.
Aber der "Plan" reifte in Mutters Gehirn, der Tag kam, ich wurde mit Rucksäckchen ausstaffiert, Klamotten zum Wechseln und einer emaillierten, grau/weiß-gespränkelten Trinkflasche mit Schnappverschluß. Die Fahrt ging nach Osterode per Zug. Das war die letzte Anlaufstelle der Reichsbahn im Sowjet-Sektor. "Alles aussteigen, hier endet der Zug" oder die Welt? Blicke der Mitreisenden flogen hin und her, keiner sprach und trotzdem fand man zusammen. Mutti marschierte stramm auf einen stämmigen Mann zu, der gab ein Zeichen und wir liefen weiter. Es folgten noch mehrere von den Zuginsassen, aber alle mit Abständen und auseinandergezerrt. Wir erreichten ein Sägewerk und Mutti ging ganz selbstverständlich in diesen großen Holzbau rein, setzte sich hin und wartete. Ich auch, sowas kannte ich noch nicht. Nach und nach kam einer nach dem anderen, die wir schon im Zug gesehen hatten und alle schwiegen. Der große Mensch kam, legte die Finger auf die Lippen und wies einem nach dem anderen die Liegeplätze zu. Wir bekamen eine Art von Zimmer, jedenfalls stand ein Bett darin. Völlig erschöpft schliefen wir ein..........und wurden in der Nacht ganz sanft und leise geweckt: "es geht los, schnell". Der Trupp versammelte sich wieder dort, wo diese riesige Säge stand und in Minutenabständen wurden wir in die richtige Richtung geschickt. Mit Information über Orientierungspunkten und Zeitvorgaben. Wir waren so in der Mitte des Wegschleichens. Und liefen und liefen, immer Ausschau haltend nach "Figuren" rechts und links, die nicht zu uns gehörten. Ein Pfiff und alles lag am Boden, platt mit der Nase im Dreck. Der Weg wurde länger und länger, die Abstände fingen an zu schrumpfen, bis letztendlich doch alle zusammen waren. Aber dort waren die drei Weiden, da müssen wir hin. Es dämmerte schon und es wurde allerhöchste Zeit, nur dieser Wassergraben noch und wir sind drüben. Mutti schnappte mich, riß mir meinen Rucksack runter, schmiß ihn rüber und fauchte mich an: spring rüber". Ich nahm Anlauf und sprang und landete im Westen. Mutti schmiß ihren Rucksack, nahm Anlauf und landete im Wassergraben. Und jetzt ging die unkontrollierte Springerei los und auch das Geschreie. Alle wollten nur noch ans andere Ufer. Es gab noch einige unfreiwillige Bäder, aber das machte überhaupt nichts. Man saß erst mal da, leckte seine Wunden und redete über das nächste Ziel. Aber wir sind jetzt im britischen Sektor, oder? Ja, wir waren es, nur mit den Briten sei auch nicht zu spaßen, sagte meine Mutter. Die Beobachtungen wurden wieder aufgenommen und wir schlichen wie zuvor heimlich von dannen. Wir erreichten eine Ortschaft mit Bahnstation, jeder löste eine Fahrkarte und verteilte sich auf dem kleinen Bahnhof und stiegen alle in den Gleichen ein. Von nun ab kannte man sich nicht mehr. Wir fuhren nach Goslar und von dort nach Hildesheim und weiter nach Bokenem und dort stand dann Onkel Günther und holte uns ab.
An Welchem Tag das war?, keine Ahnung, ich glaube wir waren drei Tage unterwegs, jedenfalls kamen wir an: in Volkersheim in einem Forsthaus, abseits des Dorfes. Der Himmel machte alle Türen auf, ein Paradies auf Erden. Und dieses Paradies durfte ich komplette 9 Monate erleben. Ich ging dort zur Schule, ganz brav, hatte 2 Försterssöhne als Spielkameraden und ein kleines Cousinchen, welches Tag und Nacht schrie, aber ansonsten war die Welt in Ordnung.
Das war meine erste "schwarze Grenzüberschreitung".
...vielleicht erzähle ich noch eine andere...
Finchen

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