Als Student in der DDR


Als die Studenten im September 1969 helfen sollten, die gewaltigen Vorhaben rund um den Berliner Alexanderplatz rechtzeitig zum 20. Geburtstag der Republik fertigzustellen, wurden Leute gesucht, die Elektriker waren oder einen artverwandten Beruf erlernt hatten. Lothar meldete sich mit mehreren anderen Kommilitonen und wurde zum Fernsehturm geschickt. Zu ihrem Erstaunen wurden sie vor dem Besteigen des Turms gefragt: „Ist jemand von euch Eleptiker?“ Da die Studenten verstanden, dass noch einmal nach Elektrikern gefragt worden war, meldeten sie sich alle, was den Fragenden sehr erschütterte. „Was denn, alle“, rief er verzweifelt, „das ist ja furchtbar!“ Erst im zweiten Anlauf wurde klar, dass er Epileptiker gemeint hatte und die gab es glücklicherweise nicht unter den anwesenden Studenten.

Weil Lothar im Gegensatz zu vielen seiner Studienkollegen bereits vorher schon in einem sozialistischen Betrieb gearbeitet hatte, war ihm die Arbeitsweise der Elektrobrigade auf dem Fernsehturm nicht ganz fremd. Während der Arbeitszeit wurde am liebsten gar nichts getan, aber nach dem eigentlichen Feierabend wurden Überstunden gemacht. So ging es eigentlich nur darum, am Vormittag Bier auf die Plattform über der Kugel zu schaffen, sich dort in die Sonne zu legen und das Bier zu genießen. Lediglich bei Regen zogen sie sich in das Innere des Turms zurück und schellten die dicken Kabel an. An dieser Stelle wurde Lothar klar, warum Epileptiker dort nicht arbeiten konnten, denn man hing in 150 Metern Höhe gewissermaßen zwischen Himmel und Erde. Es dauerte eine Weile, bis das Zittern in seinen Knien nachließ.

Am Ende bekam er aber einen sehr guten Lohn, der in keinem Verhält­nis zur geleisteten Arbeit stand.
Lothar hatte das Gefühl, dass sie vor allem als billige Arbeitskräfte gebraucht wurden und das Studieren in der arbeitsfreien Zeit stattfand. Da hätte er auch gleich ein Fernstudium machen können.

Zu alledem gab es auch gesellschaftlich wichtige Ereignisse, bei denen die Studenten gefragt waren. Dazu zählten die Einsätze zum 1. Mai, zum 7. Oktober sowie zu anderen Anlässen, bei denen jubelnde Volksmassen gewünscht waren. Einmal konnten wohl nicht genügend Jugendliche aus der gesamten Republik herangeschafft werden, sodass Lothar und die anderen Studenten der Berliner Universität nach Absolvierung der Para­destrecke ihre Transparente mit der Inschrift „Die Berliner Jugend dankt der Partei- und Staatsführung der DDR“ abgeben mussten und mit einem LKW an den Ausgangspunkt zurückgebracht wurden, wo sie mit neuen Transparenten ausgestattet den Weg noch einmal zu absolvieren hatten. Diesmal trugen sie Transparente, auf denen stand „Wir Studenten aus Schwerin grüßen die Jugend der Welt“. Das Spiel wiederholte sich noch einmal, aber dann waren die Berliner Studenten plötzlich Karl-Marx-Städ­ter. Wer „Der Raub der Sabinerinnen“ gesehen hat, kennt das als lustige Szene.
Als einmal verlangt wurde, dass die Studenten am 1. Mai aufmar­schieren und vor der Partei- und Staatsführung der DDR auf die Knie fal­len sollten, gab es selbst bei den überzeugtesten Jungkommunisten Protest. Bei der Generalprobe klappte es noch einigermaßen, aber als der große Tag gekommen war, wollte sich einfach keiner der Studenten hinknien, obwohl die Verantwortlichen an der Seite wie wild gestikulierten. Diese Disziplinlosigkeit hatte zum Glück keine Konsequenzen, denn dazu waren es einfach zu viele Ungehorsame.

Aus dem Buch "Er war stets bemüht" von Wilfried Hildebrandt


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