Am Ende des Regenbogens


Es war einmal eine kleine Hexe. Sie wohnte im Farbentraumreich, das am Ende des Regenbogens liegt. Schön ist es dort: Der bunte Schein des Regenbogens taucht dieses Land in viele verschiedene Farben, die den Ländern die Namen geben. Blauland, Grünland, Gelbland und so fort - eben, wie die Farben des Regenbogens. Die Hexen und Gnome, die Weltschen und Graubärte, ach - einfach alle, die diese Länder bewohnen, waren stolz, an diesem Ende des Regenbogens zu wohnen - jeder in seinem Farbentraumland.

Einmal fragte die kleine Hexe einen weisen, alten Graubart: "Sag, was glaubst du, was am anderen Ende des Regenbogens ist?" "Ach, mein junges Hexenkind, das ist doch ganz natürlich: Ein grasgrünes, hoffnungsvolles Land, in dem sich alle Bewohner vertragen! Alles ist friedlich und schön, denn nur die grüne Farbe kann die wirkliche Erfüllung geben!" Natürlich war das für ihn eine ganz natürliche Sache, denn er bewohnte ja das Grünland. Doch die kleine Hexe, die aus Rotland kam, war in einem anderen Glauben erzogen worden. Die Bewohner Rotlands waren der Meinung, am anderen Ende des Regenbogens warte eine wunderschöne rote Welt auf sie. Doch die kleine Hexe wollte das nicht so einfach hinnehmen. "Aber wie kann das sein? Der Regenbogen leuchtet und schimmert in allen Farben. Wie kann es dann sein, dass er an seinem anderen Ende ein einziges, rotes Land haben kann?" Doch auf diese Frage schien keiner so Recht eine Antwort zu wissen. Vielleicht hatte sich auch nur noch niemand Gedanken darüber gemacht. Sie alle schienen mit ihrem Glauben an das Land am anderen Ende des Regenbogens zufrieden zu sein.
Doch unsere kleine Hexe konnte sich mit den vielen unterschiedlichen Antworten (die für sie gar keine waren!) nicht zufrieden geben. Und so machte sie sich auf den Weg, die Wahrheit über dieses so unbekannte andere Regenbogenland zu erfahren.

Nun wird der Leser sich fragen: Wie kommt man von einem Ende des Regenbogens zum anderen? Nun, nichts leichter als das: Durch die Kraft der phantasiestischen Träume. Man kann nämlich nicht einfach auf dem Regenbogen laufen bis an das andere Ende, denn das würde der Regenbogen gar nicht aushalten. Nein, man muss diese besondere Form des Träumens beherrschen. Man muss die Augen schließen und sich seine Lieblingsfarbe des Regenbogens ganz deutlich vorstellen. Dann kann man auf ihr wie im Traum behutsam über den Regenbogen gleiten.

Zum Glück hatte die kleine Hexe diese Art des Reisens bereits in der Schule gelernt. Denn auch am anderen Ende des Regenbogens müssen kleine Hexenkinder in die Schule gehen. Doch unsere kleine Hexe war keine besonders gute Schülerin. Zwar konnte sie sich ihre Lieblingsregenbogenfarbe ganz deutlich vorstellen (ihre Lieblingsregenbogenfarbe war natürlich rot), aber ihre Gedanken schweiften einfach noch sehr oft ab. Und so ging ihr Flug über den Regenbogen nur sehr langsam voran. Immer, wenn sie an etwas anderes als an die Farbe Rot dachte, landete sie sehr unsanft auf dem Regenbogen. Und dann musste sie sich noch mehr anstrengen, um wieder an die rote Farbe - und nur an die rote Farbe - zu denken. Und das wurde nach jeder Bruchlandung ein wenig schwieriger.

So dauerte der Regenbogenflug sehr lange. Und die kleine Hexe wurde immer müder und müder. Und irgendwann schlief sie einfach ein und purzelte sehr unsanft das letzte Stück des Regenbogens hinunter. Doch weil sie so erschöpft war, merkte sie es nicht, sondern schlief einfach weiter. Sie träumte, dass sie auf einem Einhorn flöge und dass dieses sie mitnahm in das berühmte Land am anderen Ende des Regenbogens. Es leuchtete schon von der Ferne wie pures Gold und man musste die Augen zusammenkneifen, um etwas erkennen zu können. Alles dort strahlte in goldenem, hellem Licht. Die kleine Hexe konnte es kaum fassen. Alles war so wunderschön, so hell und leuchtend, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Sie drehte sich freudestrahlend um und wollte sich bei dem Einhorn bedanken, dass es sie hierher gebracht hatte. Doch das Einhorn schien auf einmal durchsichtig geworden zu sein. Seine sonst perlmuttfarbene Haut war durchschimmernd geworden, und eine kleine, durchsichtige Träne rann aus seinem linken Auge. "Aber Einhorn - was hast du denn? Warum weinst du? Hier ist doch alles so wunderschön!" "Ach, kleine Hexe, was du hier siehst, ist leider nicht mehr das Land, nach dem du suchst. So hat es vor vielen Jahren ausgesehen, und so habe ich es in meiner Erinnerung behalten. Doch es hat sich so sehr verändert! Sieh nur selbst..." Das Einhorn war bei seinen letzten Worten noch durchsichtiger geworden. Die kleine Hexe konnte es kaum noch erkennen. "Warte, liebes Einhorn! Was kann ich denn jetzt tun? Wie finde ich das Land am Ende des Regenbogens, das du mir gezeigt hast?" Doch das Einhorn war verschwunden. Die kleine Hexe wurde von dem strahlenden Licht so sehr geblendet, dass sie ihre Augen schließen musste. Als sie sie wieder öffnete, lag sie auf einer Wiese unter einem Baum. Es regnete und war entsetzlich kalt. Frierend sah die kleine Hexe sich um. Konnte es sein, dass dieses traurig-trostlos-kalte Land das Land am anderen Ende des Regenbogens war? Und wenn es so war: Was war dann aus dem Land geworden, das das Einhorn ihr gezeigt hatte? Nachdenklich ging die kleine Hexe los. Sie schlotterte vor Kälte, und auch ihr kleines Hexenkostüm war schon ganz vom Regen durchweicht.
Um sie herum war alles trostlos, ein einziges, nasses Grau-in-Grau. "Was ist nur aus dem strahlenden Licht geworden?", fragte die kleine Hexe traurig.

Nachdem sie einige Zeit so in Gedanken versunken gegangen war, merkte sie, dass der Regen weniger geworden war. Verwundert sah sie hinauf zu den Wolken. Diese großen, grauen Wolkenberge schoben sich langsam weiter auseinander und heraus kam... ein strahlend helles Licht. So hell, dass die kleine Hexe wieder erst ihre Augen schließen musste, um sich an das Licht zu gewöhnen. Und als sie sie wieder öffnete...

... sah sie, dass das eben noch so trostlos scheinende Land in allen Farben leuchtete!! Dunkelgrüne, saftige Bäume, ein klarer, blauer Bach, graue und weiße Wolken am Himmel, die wie kleine Einhörner aussahen. Und inmitten von all diesen leuchtenden Farben und diesem unbeschreiblich schönen und wärmenden Licht war ...
... ein Regenbogen.

Voller Staunen blickte die kleine Hexe hinauf. "Ich lebe nun schon so viele Jahre im Land des Regenbogens, aber in solch einer Schönheit habe ich ihn noch nie strahlen sehen! Und all diese vielen Farben, die alle bunt gemischt sind - ist dies das Land am anderen Ende des Regenbogens?" Sie sah den Regenbogen entlang, und als sie an seinem linken Ende herabschaute, sah sie...

... das Farbtraumreich. Ganz winzig und klein lag es in seinen vielen Farben am Fuße des Regenbogens. Und da wurde der kleinen Hexe klar: "Ja, ich bin am anderen Ende des Regenbogens! Wie schön es hier ist! Vielleicht hat nur deshalb noch niemand dieses Land entdeckt, weil es nicht immer da ist. Erst, wenn sich die grauen Wolkenberge zur Seite schieben und der Regen das Licht wie tausend kleine Glasperlen widerspiegelt, erst dann ist man im Land am anderen Ende des Regenbogens. Ja, so muss es sein!"

Und voller Freude, dass sie das Land gefunden hatte, in dem alle Farben in einem großen Spiel zusammen harmonieren und alles von einem seltsamen, vergänglichen Zauber erfüllt war, schloss sie die Augen und prägte sich das Land in seiner ganzen Schönheit ein. In ihrem Kopf waren leuchtende Blumen in rot und gelb und lila, grüne Blätter an den Bäumen und ein leise murmelnder, blauer Bach. Ja, so wollte sie das Land in Erinnerung behalten.
Als sie die Augen öffnete, merkte sie, dass der Regen mehr und mehr nachgelassen hatte und der Regenbogen nur noch ganz schwach zu erkennen war. Es wurde Zeit, dem Land lebewohl zu sagen und wieder nach Hause zu reisen.
Ein wenig betrübt schloss die kleine Hexe ihre Augen, stellte sich ihre rote Lieblingsfarbe vor und flog auf dem immer brüchiger werdenden Regenbogen nach Hause. Dort erzählte sie allen Freunden und Bekannten von ihrer wundersamen und dennoch traumhaft schönen Entdeckung.

Und manchmal, wenn es draußen regnet, dann schau doch mal aus dem Fenster auf die Wolken. Vielleicht schieben sie sich ja noch einmal zur Seite. Vielleicht brechen die Regentropfen noch einmal das Licht in all die schönen Farben. Dann siehst vielleicht auch du das Land am anderen Ende des Regenbogens. Und wenn du eine Lieblingsfarbe hast, dann träum doch von ihr und fliege die kleine Hexe an diesem Ende des Regenbogens besuchen. Ich bin sicher, dass sie sich sehr freuen würde...



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Kommentare (6)

Medea ganz zauberhafte Erzählungen -

ich freue mich über Deine Fantasie.

Medea
Linta Hallo Musikschaf,
Dein "Fisch auf dem Fahrrad" und auch diese Geschichte "Am Ende des Regenbogens" gefallen mir ausnehmend gut. An grauen und trüben Tagen vermag ICH mich in eine Welt zu träumen mit hellen leuchtend bunten Farben gleich einem Regenbogen.
Wohl dem, der noch zu träumen vermag.......!

Und wenn Mittwoch meine Goister zum Malunterricht kommen dann werde ich Deine Geschichten auf Lautsprecher stellen.........
ninna
immergruen Immer, wenn ich einen Regenbogen sehe ,gehe ich auf eine Traumreise. Der kleinen Hexe bin ich noch nicht begegnet, aber meine Welt ist nicht die rote sondern die grüne und auch die ist wunderschön. Bis demnächst - im Farbentraumreich !
hafel sieht jeder eben mit anderen Augen. ))
kedishia ... ich kann diese Geschichte nicht nüchtern mit einer Farblehre betrachten. Ich sehe viel mehr die Bilder hinter dem bunten Grau-in-Grau. Ungeachtet aller logischen Theorien und Farblehren.
hafel Wenn die kleine Hexe die Farblehre beherrchen würde, wüßte sie, dass "rot" und "grün" Komplementärfarben sind. Und addiert (mischt) man diese Komplementärfarben, so ergibt es immer grau. So entstand das "nasse grau-in-grau".

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