Sie steht nackt vor dem großen Spiegel und betrachtet sich. Seit einiger Zeit tut sie das jeden Morgen, sucht nach den Spuren ihres Alters, ihrer intensiv gelebten Jahre - sie ist eine gestrenge Prüferin ihrer selbst.
Zweifelsohne, aus dem Spiegel blickt ihr eine reife Frau entgegen, ist dahinter noch die mädchenhafte Schöne vergangener Zeiten erkennbar?
Wo ist die 58-cm-Taille geblieben, die schlanken Oberschenkel, der feste Po, die hübschen Beine, die Brüste (gerade richtig, wie ihr Mann immer betonte), die sie nun ihrer Kritik unterzieht.
Der Bauch kann sich noch sehen lassen, nicht mehr so flach wie früher, aber auch nicht abschreckend, jedenfalls hofft sie das. Am besten schneidet das Gesicht ab, die unumgänglichen Falten halten sich in grenzen, die grauen Haare vermischen sich mit dem Naturblond - ja, immer noch ein hübsches Gesicht, das gerne und viel lacht und dem man die sechzig nicht ansieht.

Sechzig Jahre! So steht es im Ausweis - das hatte sie schwarz auf weiß. Die letzten vierzig Jahre waren selten ruhig, vielmehr häufig turbulent gewesen, ein ganzes Leben lag darin mit Höhen und Tiefen, das hinterläßt Spuren innen wie außen.
Sie war nicht zur Kämpferin geboren, vielmehr dazu durch diverse Umstände gemacht worden, aber sie hatte die Herausforderung angenommen und sich gut geschlagen. Die Kinder nach bestem Wissen und Gewissen in's Leben begleitet, den Mann verloren, ihren eigenen selbstbestimmten Weg gegangen, Männer geliebt und wieder verlassen und ein zufriedenes und auch glückliches Dasein geführt, geborgen in einem intakten Freundeskreis.
Und nun dies.
Sie hat sich verliebt.
Es geschah einfach so, so richtig faßt sie es immer noch nicht. Das war wirklich das Letzte, was sie gewollt hatte, nun ist es geschehen.
Verliebt wie eine junge Göre -mit sechzig! Wenn es nun wenigstens ein Mann in ihrem Alter wäre, so ein gestandener Rentner oder Witwer mit Häuschen und Garten.
Aber nein, damit schien Amor nicht einverstanden, der legt ihr ein fünfzehn Jahre jüngeres Mannsbild zu Füßen.
Ist ja nicht zu fassen.
Nun muß sie lächeln. Aber was für ein Geschenk, gutaussehend mit sehr schönen Händen, die genau wissen, wofür sie gemacht sind, der spöttische Mund ebenfalls und olala alles übrige auch. Wahrscheinlich die letzte Liebe ihres Lebens - und sie wird nicht davonlaufen wie so häufig, sie wird sich ganz im Gegenteil hineinfallen lassen in dieses Gefühl des absolut Gewolltwerdens, des Verrückten und Verruchten, des Liederlichen, nicht Alltäglichen, komme was da wolle.

Sie schenkt ihrem Spiegelbild noch einen kritischen Blick, lächelt ihm zu, schlüpft in ihr schwarzes Seidenhemdchen, Spitzenhöschen, die schwarzen Strümpfe mit den breiten Rändern, das hübsche Kleid, die Hackenschuhe, und freut sich auf ihn.

Medea.


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Kommentare (11)

omasigi Liebe Medea,
diese Geschichte zu lesen. Etwas ungewoehnlich vielleicht,
aber warum nicht.
Das Herz... die Liebe .. bleibt immer jung.
Halt es fest und sei einfach gluecklich.
gruessle
omasigi
ehemaliges Mitglied auf den Blogs der Mitglieder "von hinten" zu stöbern. So auch bei dieser schon vor längerer Zeit eingestellten Geschichte.
AMORETTE - schon der Titel klingt vielversprechend und ich wurde auch beim Weiterlesen nicht enttäuscht. Danke für den Lesegenuss!

Herzliche Grüße
Fred
ingo_norison uuuuh das spöttische lächeln mit halb herunterhezogener lippe und das gehen wie auf einer wippe. wie lang kann man da das gleichgewicht halten? oder ist frau eine ausgeklügelte seiltänzerin
breite zu deinem schutz doch lieber darunter ein fangnetz auf
therese dir zu deinem Mut, ich hatte ihn"damals" leider nicht.
Machst mich neugierig - wie es wohl geworden wäre?
Ich wünsche dir viel Glück, viel Freude, viel Liebe und
einfach alles was dazu gehört, geniesse es - das ist da
Vorrecht von uns "älteren" Damen.

Grüessli, Therese
selina Es hat mir Freude bereitet deine Geschichte zu lesen. Musste an mancher Stelle schmunzeln, wer kennt diese Gedankengänge nicht?

Sehr schön und ehrlich.

Wünsche dir die Ruhe und Gelassenheit diese Geschichte zu leben und genießen!!!!

LG Selina


longtime
Schön, dass es Amoretten für unterschiedliche Wünsche und Alter, Vorstellungen und Vorlieben gibt:




Danke - "mann" wird ja auch nicht älter und attraktiver!
ehemaliges Mitglied Eine wunderschöne Geschichte. Liebe fragt nicht nach dem Alter, liebe Medea. Lebe und geniesse diese Liebe jeden Tag, jede Minute. Ich wünsche Dir, dass sie ewig halten möge!
ehemaliges Mitglied Das könnte voll und ganz die Story meiner Lebensgefährtin sein----als ich in ihr Leben trat,bewaffnet mit dem Schlüssel zu Ihrem Herzen.Hatte man uns vorher nur 3Monate gegeben-----es sind inzwischen 7 Jahre draus geworden.Sollte an dieser,deiner, geschichte was wahres dran sein------dann lebe diese Liebe aus,geniesse sie in vollen Zügen.Viele menschen verpassen das kleine Glück,weil sie auf das grosse vergeblich warten.
immergruen Auch wenn die Aussicht auf Dauer nur gering ist und der Schmerz vorprogrammiert. -
Heute lebt sie, nicht gestern und nicht morgen, und Geschenke darf man ruhig annehmen, auch wenn sie problematisch sind. Eine liebevolle Geschichte!
eleisa schön Medea, aber wahrlich nicht alltäglich...
Linta >>Aber was für ein Geschenk, gutaussehend mit sehr schönen Händen, die genau wissen, wofür sie gemacht sind, der spöttische Mund ebenfalls und olala alles übrige auch. Wahrscheinlich die letzte Liebe ihres Lebens - und sie wird nicht davonlaufen wie so häufig, sie wird sich ganz im Gegenteil hineinfallen lassen in dieses Gefühl des absolut Gewolltwerdens, des Verrückten und Verruchten, des Liederlichen, nicht Alltäglichen, komme was da wolle.<<

Im anderen Falle müsste sie auch bestraft werden. Wer wehrt sich schon gegen solch eine
Liebe.............
ninna

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