Anton Tschechow. Der Bischof


Anton Tschechow: Der Bischof


„Eine Geschichte“


(1903 erschienen; hier in der Übersetzung von Sigismund von Radecki. 1963. - Ich habe die alte von-Radecki-Übersetzung gewählt, nicht die Übertragung von Gerhard Dick (aus dem Jahre 1976; abgedruckt in A. Čechov: Die Dame mit dem Hündchen. - Erzählungen 1897 – 1903. Zürich 1976. detebe 20266. S. 330ff. - Mit guten Anmerkungen von Peter Urban. S. 394f.) -

Die Übertragung von SvR ist urtümlicher, sie ist näher am russischen nach dem Verständnis dieses alten baltischen Dichters Sigismund von Radecki, der die russischen und deutschen Verhältnisse noch miterlebt und in seiner kulturellen Vermittlertätigkeit überliefert hat: die Geschichte von einem orthodoxen Bischof, der am Unverständnis und an der religiösen und sozialen Hilflosigkeit und den unsinnigen Standesschranken scheitert.



Der Bischof
Von A. Tschechow



I.

Auf den Palmsonntag hin wurde im Alt-Petrowschen Kloster die Abendmesse gefeiert. Als man die Palmzweige auszuteilen begann, ging es schon gegen zehn Uhr, die Flammen waren trübe geworden, die Dochte hatten Lichtschnuppen, es war alles wie im Nebel. Im Dämmer des Kirchenraumes wogte die Menge wie ein Meer, und dem hochwürdigsten Peter, der schon drei Tage nicht gesund gewesen, schien es, als ob alle Gesichter - alte und junge, männliche und weibliche - eines wie das andere aussahen, und daß alle, die zum Empfang der Zweige herantraten, denselben Ausdruck der Augen hatten. Im Nebel konnte man die Türen nicht erkennen, die Menge bewegte sich immerzu, und es war, als ob sie nie ein Ende haben werde. Ein weiblicher Chor sang, den Kanon las ein Nönnchen.
Es war so schwül, so heiß! Wie lange die Abendmesse dauerte! Der hochwürdigste Peter war müde geworden. Sein Atem ging schwer, hastig, trocken, die Schultern schmerzten vor Müdigkeit, die Beine zitterten. Und unangenehm erregte es, daß auf der Empore ein Narr in Christo ab und zu aufschrie. Und dann schien es dem Hochwürdigsten noch Plötzlich, als wenn zu ihm mit der Menge seine leibliche Mutter Márja Timoféjewna herantrete, die er schon neun Jahre nicht gesehen hatte, oder eine alte Frau, die ihr ähnlich sah und, den Zweig von ihm entgegennehmend, zur Seite trat und die ganze Zeit auf ihn lustig, mit einem guten, frohen Lächeln blickte, bis sie sich wieder unter die Menge mischte. Und irgendwarum flossen ihm Tränen übers Gesicht. Die Seele war ruhig, alles war gut und schön, doch er blickte unbeweglich auf das linke Chor, wo man vorbetete, Ivo im Abenddunkel bereits kein Mensch mehr zu erkennen war, und - weinte. Tränen erblitzten auf seinem Gesicht, auf seinem Bart. Da fing in der Nähe noch irgendwer zu weinen an, dann noch einer und noch einer, und allmählich war die Kirche endlich von stillem Weinen erfüllt. Doch ein wenig darauf, als nach etwa fünf Minuten ein Mönchschor sang, wurde nicht mehr geweint, und alles war wie früher.
Bald war auch der Gottesdienst zu Ende. Als sich der Bischof in seine Kutsche setzte, um nach Hause zu fahren, so überströmte den ganzen mondbeschienenen Garten der frohe, schöne Klang schwerer, teurer Glocken. Die weißen Mauern, die weißen Grabkreuze, die weißen Birken, die schwarzen Schatten und der ferne Mond am Himmel, welcher gerade über dem Kloster stand, lebten jetzt, schien es, ihr eigenes, besonderes Leben, das dem Menschen unverständlich, jedoch nah verwandt war. Es war Anfang April, und nach dem warmen Frühlingstage wurde es erfrischend kühl, es begann ein wenig zu frieren, und in der weichen, kühlen Luft fühlte man den Hauch des Frühlings. Der Weg vorn Kloster zur Stadt war sandig, man mußte im Schritt fahren; und auf beiden Seiten der Kutsche stiefelten im hellen, ruhigen Mondlicht die Andächtigen aus der Kirche durch den Sand. Und alle schwiegen nachdenkend, alles umher war freundlich, jugendlich und so nahestehend, alles - die Bäume und der Himmel und sogar der Mond, und man wollte glauben, daß es immer so bleiben müsse.
Schließlich fuhr die Kutsche ein in die Stadt und rollte über die Hauptstraße. Die Läden waren bereits geschlossen, und nur beim Kaufmann Jerákin, einem Millionär, wurde die elektrische Beleuchtung ausprobiert, welche stark zwinkerte, während ringsherum das Volk stand. Dann kamen die breiten dunklen Straßen, eine nach der anderen, die menschenleere Landes-Chaussee hinter der Stadt, offenes Feld, und nun roch es nach Kiefern. Und plötzlich erwuchs vor den Augen eine weiße gezinnte Mauer, und hinter ihr ein hoher Glockenturm, von Licht ganz überströmt, und neben ihm fünf große, goldene, glänzende Häupter - dies war das Pankratiuskloster, wo der hochwürdigste Peter lebte. Und hier stand ebenfalls hoch über dem Kloster der stille, gedankenvolle Mond. Die Kutsche fuhr zum Tor hinein, auf dem Sande
knirschend, hie und da tauchten im Mondlicht schwarze Mönchsfiguren auf, man hörte Schritte auf steinernen Fliesen...
»Aber hier ist, Euer Hochwürden, Ihre Frau Mama ohne sie hergefahren«, meldete der Zellendiener, als der Hochwürdigste bei sich eintrat.
,Meine Mutter? Wann ist sie gekommen?«
»Vor der Abendmesse. Sie haben sich vorher erkundigt, wo Hochwürden wohnen, und sind dann ins Frauenkloster gefahren.«
»Das heißt also, daß ich sie jetzt eben in der Kirche gesehen habe! O, mein Gott! «
Und der Hochwürdigste lachte auf vor Freude.
»Sie haben, Euer Hochwürden, zu melden befohlen“„ fuhr der Zellendiener fort, »daß sie morgen kommen. Mit ihnen ist ein kleines Mädchen, wohl ein Enkelchen. Sie sind in Owsjánnikows Fuhrhof abgestiegen.«
»Wie spät ist es jetzt?“
»Anfang Zwölf«
»Ach, ärgerlich!«
Der Hochwürdigste saß noch ein wenig in seinem Empfangszimmer, nachdenkend und gewissermaßen nicht glaubend, daß es schon so spät sei. Er hatte ein wenig Gliederreißen in Händen und Füßen, der Nacken schmerzte. Es war heiß und unbequem. Nachdem er sich erholt hatte, ging er zu sich ins Schlafzimmer und blieb dort ebenfalls sitzen, wobei er immerfort an die Mutter dachte. Man konnte hören, wie der Zellendiener fortging und hinter der Wand Vater Sissói, der Hieromonach [Mönchspriester], hüstelte. Die Klosteruhr schlug ein Viertel.
Der Hochwürdigste kleidete sich um und begann die Gebete vor dem Schlafengehen zu sprechen. Aufmerksam sprach er diese alten, längst bekannten Gebete und dachte zu gleicher Zeit an seine Mutter. Sie hatte neun Kinder und ungefähr vierzig Enkel. Einst lebte sie mit ihrem Mann, einem Diakon [Hilfsprediger, Vikar], in einem armen Dorf; lebte dort sehr lange, vom siebzehnten bis zum sechzigsten Jahr.
Der Hochwürdigste erinnerte sich ihrer seit frühester Kindheit, fast seit dem dritten fahr und - wie er sie liebte! Liebe, teure, unvergeßliche Kindheit! Warum scheint sie uns, diese für immer vergangene, unwiederbringliche Zeit, warum, scheint sie uns heller, feiertäglicher und reicher, als sie wirklich war? Wenn er in der Kindheit oder Jugend nicht gesund war, wie zärtlich und feinhörig war da die Mutter! Und jetzt vermischten sich die Gebete mit den Erinnerungen, die immer heller entbrannten wie eine Flamme, und die Gebete störten nicht, an die Mutter zu denken.
Nachdem er zu Ende gebetet hatte, kleidete er sich aus, legte sich hin, und sogleich, sowie es rings dunkel war, erschien vor seinen Augen der verstorbene Vater, die Mutter, das heimatliche Dorf Ljessopólje... Das Geknarre der Räder, das Blöken von Schafen, der Glockenklang an klaren Sommermorgen, die Zigeuner vor dem Fenster - o, wie wohltuend ist es, daran zu denken! Er erinnerte sich an den Ljessopólsker Pfarrer, Vater Simen, der so Sanft, bescheiden und gutmütig war; selber war er klein und hager, doch sein Sohn, der Seminarist, war von riesenhaftern Wuchs und sprach mit einem ungeheuerlichen Basse; einmal war der Popensohn auf die Köchin ärgerlich geworden und beschimpfte sie: »Ach, du Jehudische Eselin!« und Vater Simeon, der das gehört hatte, sagte kein Wort und schämte sich bloß, da er sich nicht entsinnen konnte, wo in der Heiligen Schrift solch eine Eselin erwähnt werde. Nach ihm war in Ljessopolje als Pfarrer Vater Demján, der stark trank, und sich zuweilen betrank bis zur grünen Schlange, so daß er auch solch einen Namen hatte: Demjän der Schlangenseher. Schullehrer in Ljessopólie war Matwej Nikolaitsch, ein Seminarist, ein guter, gar nicht dummer Mensch, doch ebenfalls ein Trinker; nie schlug er die Schüler, doch irgendwarum hing bei ihm an der Wand ständig ein Bündel Birkenruten und darunter eine völfig sinnlose Aufschrift in lateinischer Sprache - Betula, Kinderbalsamica secuta [ein Wortspiel: sekút heißt auf russisch „es wird gepeitscht“]. Er hatte einen schwarzen wildbewachsenen Hund, den er »Syntax« nannte.
Und der Hochwürdigste lachte auf. Acht Werst von Ljesopólje gab es das Dorf Obnino mit einem wundertätigen Heiligenbilde. Aus Obnino trug man im Sommer das Heiligenbild in Prozession zu den umliegenden Dörfern und läutete den ganzen Tag bald in einem Dorf, bald im andern, und dem Hochwürdigsten schien es dann, daß die Freude in der Luft zittere, und er [man nannte ihn damals Pawlúscha] ging hinter dem Heiligenbilde ohne Mütze her, barfuß, mit naivem Glauben, mit naivem Lächeln, grenzenlos glücklich. In Obnino, so erinnerte er sich jetzt, gab es immer viel Leute, und der dortige Pfarrer, Vater Alexéi, ließ seinen tauben Neffen Illarión, um selber beim Offertorium nicht nachzubleiben, die Zettelchen und Aufschriften der Weihebrote lesen: »Zum Seelenheil« und »Zum Wohlbefinden«; Illarión las, wobei er ab und zu einen Fünfer oder Zehner für die Messe bekam, und erst als er ergraute und glatzig wurde, als das Leben vorüber war, da sieht er plötzlich auf einem Papierchen geschrieben »Du bist aber auch ein Dummkopf, Illlarion!« Mindestens bis zum fünfzehnten Jahr war Pawlúscha unentwickelt und lernte schlecht, so daß man ihn sogar aus der geistlichen Schule nehmen und in einen Kramladen geben wollte; einmal, als er nach Obnino auf die Post nach Briefen gegangen war, blickte er lange auf die Postbeamten und fragte: »Gestatten Sie, zu erfahren: Wie bekommen Sie Ihr Gehalt - monatlich oder täglich?«
Der Hochwürdigste bekreuzigte sich und wendete sich auf die andere Seite, um nicht mehr zu denken, und zu schlafen.
»Meine Mutter ist gekommen ... «, fiel ihm ein, und er lachte.
Der Mond schaute ins Fenster, der Fußboden war beleuchtet, und auf ihm lagen Schatten. Eine Grille zirpte. Im Nebenzimmer hinter der Wand schnarchte ab und zu Vater Sissói, und irgend etwas Einsames, Verwaistes, je Vagabundenhaftes war aus seinem Greisenschnarchen herauszuhören. Sissói war irgendeinmal Ökonom beim Diözesan-Bischof gewesen, und jetzt nennt man ihn den »früheren Vater Ökonom«; er ist siebzig Jahre alt, lebt im Kloster, sechzehn Werst von der Stadt, und lebt auch in der Stadt, wie es gerade kommt. Vor drei Tagen kehrte er hier ins Pankratius-KIoster ein, und der Hochwürdigste behielt ihn bei sich, um mit ihm bei ruhiger Gelegenheit über geschäftliche Dinge zu reden, über die hiesigen Einrichtungen...
Um halb zwei läutete man zur Matutin. Man hörte, wie Vater Sissói aufhustete, irgendwas mit unzufriedener Stimme vor sich hinbrummte, sodann aufstand und barfuß durch die Zimmer ging.
„Vater Sissói!“ rief der Hochwürdigste.
Sissói ging zu sich ins Zimmer und erschien bald darauf bereits in Stiefeln, mit einer Kerze; er trug über der Wäsche den Mönchsrock und auf dem Kopf ein altes ausgeblichenes Käppchen.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte der Hochwürdigste, sich hinsetzend. »Ich muß wohl krank sein. Und was das ist, weiß ich nicht. Fieber!«
»Werdet euch wohl erkältet haben, Hochwürden. Man müßte euch mit Kerzentalg einreiben.«
Sissói stand noch ein wenig und gähnte: »O Gott, verzeih mir Sünder!“
»Bei Jerakin hat man jetzt Elektrizität angezündet.« »Das kefallt mir nicht!«
Vater Sissói war alt, hager, gekrümmt, ständig mit irgend etwas unzufrieden, und die Augen sahen bei ihm zornig aus, vorquellend wie bei einem Krebs.
- Kefallt mir nicht! - wiederholte er im Weggehen. - Kefallt mir nicht, hol's der und jener!


II.

Am anderen Tage, am Palmsonntag, zelebrierte der Hochwürdigste die Messe in der städtischen Kathedrale, war dann beim Diözesanbischof, war bei einer alten, sehr kranken Generalin und fuhr endlich nach Hause. Um zwei Uhr gab es bei ihm werte Gäste zu Mittag: seine alte Mutter und seine Nichte Katja, ein Mädchen von acht Jahren. Während des Essens blickte die Frühlingssonne durch die Fenster vom Hof aus die ganze Zeit herein und leuchtete lustig auf dem weißen Tischtuch, auf Katjas roten Haaren. Durch die Doppelfenster konnte man hören, wie im Garten die Saatkrähen lärmten und die Stare sangen.
»Das sind jetzt schon neun Jahre, daß wir uns nicht gesehn haben«, sagte die alte Frau, »aber als ich gestern im Kloster auf Sie hinblickte - mein Gott! Sie haben sich auch um kein Haar verändert, höchstens bloß, daß Sie magerer sind und daß der Bart länger geworden ist. Königin des Himmels, unsere Mutter! Und gestern doch, bei der Abendmesse, konnte man sich nicht halten, alle haben geweint. Auch ich selbst, wie ich auf Sie sah, habe plötzlich geweint, und warum, weiß ich selber nicht. Sein heiliger Wille!«
Und trotz der Zärtlichkeit, mit der sie das sprach, konnte man merken, daß sie sich genierte, wie wenn sie nicht wüßte, ob sie ihm »du« oder »Sie« sagen sollte, lachen sollte oder nicht, und wie wenn sie sich mehr als Diakonsfrau denn als Mutter fühlte. Katja aber schaute voll, ohne zu blinzeln» auf ihren Onkel, den Hochwürdigsten, als ob sie herausbekommen wollte, was das für ein Mensch sei. Die Haare bei ihr hoben sich aus einem Kamm mit Sammetband und standen wie ein Strahlenschein, die Nase war stumpf aufgeworfen, die Augen listig. Bevor sie sich zum Essen setzte, hatte sie ein Glas zerbrochen, und jetzt schob die Großmama, während der Unterhaltung, von ihr bald ein Glas weiter fort, bald einen Becher. Der Hochwürdigste hörte seiner Mutter zu und erinnerte sich, wie sie einstmals vor vielen, vielen Jahren ihn, seine Brüder und seine Schwestern zu Verwandten gefahren hatte, die sie für reich hielt; damals mühte sie sich um die Kinder ab, jetzt um die Enkel, und hatte hier Katja mitgebracht...
»Warenjka, Ihre Schwester, hat vier Kinder«, erzählte sie, »dies hier ist Katja, die älteste, und, Gott weiß aus welchem Grunde, wurde der Schwager, Vater Iwan, krank und starb drei Tage vor Himmelfahrt. Und meine Warenjka kann jetzt meinetwegen in die weite Welt hinaus ziehen.«
»Und wie geht es Nikanor?« fragte der Hochwürdigste nach seinem ältesten Bruder.
»Nichts Besonderes, Gott sei Dank. Wenn auch nichts Besonderes, so kann man doch leben, Gott sei Dank. Nur eines ist da: sein Sohn Nikolascha, mein Enkelchen, will nicht das Geistliche, ist in die Universität gegangen zum Doktor-Werden. Er glaubt, es ist besser so, aber wer kann's wissen? Sein heiliger Wille.«
»Nikolascha schneidet Tote«, sagte Katja und hatte sich die Knie mit Wasser übergossen.
»Sitz doch ruhig, mein Kindchen«, bemerkte die Großmutter gelassen und nahm ihr das Glas aus den Händen. »Iß mit Gebet.«
»Wie lange Zeit haben wir uns nicht gesehen!« sagte der Hoch würdigste und streichelte die Mutter zärtlich über Schulter und Arm. »Ich habe, Muttchen, Sehnsucht nach Ihnen gehabt im Auslande, große Sehnsucht.«
»Ich danke Ihnen.«
»Man sitzt so abends beim offenen Fenster, mutterseelenallein, die Musik fängt an zu spielen, und plötzlich überkommt einen solch ein Heimweh, als ob man alles hingeben könnte, nur um nach Hause zu fahren und Sie zu sehen.«
Die Mutter lächelte, strahlte auf, machte aber sogleich ein ernstes Gesicht und sprach vor sich hin:
»Ich danke Ihnen.«
Seine Stimmung änderte sich irgendwie plötzlich. Er blickte auf die Mutter und verstand nicht, von wo und wozu sie diese respektvolle, schüchterne Miene und Stimme hatte, und er erkannte sie nicht wieder. Ihm wurde traurig und ärgerlich zumute. Und dazu schmerzte noch der Kopf wie gestern, er hatte starkes Reißen in den Füßen, und der Fisch schien süßlich, geschmacklos, man wollte die ganze Zeit trinken...

Nach dem Essen kamen zwei reiche Damen gefahren, Gutsbesitzerinnen, die anderthalb Stunden schweigend, mit langgedehnten Physiognomien dasaßen; dann kam der Archimandrit [Abt] in einer Angelegenheit; ein schweigsamer und schwerhöriger Mann. Und dann läutete man zur Vesper, die Sonne senkte sich hinter den Wald, und der Tag war vorüber. Aus der Kirche zurückkehrend, sprach der Hochwürdigste eilig seine Gebete, legte sich zu Bett und deckte sich wärmer zu.
Unangenehm war es, sich an den Fisch zu erinnern, den er zu Mittag gegessen hatte. Das Mondlicht störte ihn, und dann war ein Gespräch zu hören. Nebenan, wahrscheinlich im Gastzimmer, sprach Vater Sissoi über Politik:
»Bei den Japanern ist jetzt Krieg. Sie kämpfen. Die Japaner, das ist, Mutterchen, genau dasselbe wie die Montenegriner, derselbe Volksstanim. Sie sind beide unterm Türkcnjoch gewesen.«
Und dann hörte man die Stimme Marja Timofejewnas:
»Alsdann sind wir also, nachdem wir zu Gott gebetet und Tee getrunken haben, zu Vater Jegor nach Nowochatnoje gefahren, also...« Und immer wieder »Tee getrunken haben« oder sogar »gedrunken«, und es sah so aus, als ob sie in ihrem ganzen Leben auch nichts weiter zu tun gewußt hatte als Tee trinken. Langsam und lässig erinnerte sich der Hochwürdigste des Seminars, der Akademie. Drei Jahre war er im Seminar Lehrer der griechischen Sprache, konnte ohne Brille schon nicht mehr ins Buch blicken, wurde dann Mönch, man machte ihn zum Inspektor. Dann verteidigte er seine Dissertation. Als er zweiund-dreißig Jahre alt war, machte man ihn zum Rektor des Seminars, man weihte ihn zum Archimandriten, und das Leben war damals so leicht, so angenehm, schien so lang, so lang, daß man kein Ende sehen konnte. Eben damals begann er zu kränkeln, magerte sehr ab, wäre fast erblindet und mußte, auf Rat der Ärzte, alles liegenlassen und ins Ausland fahren.
»Und was dann?« fragte Sissoi im Nebenzimmer.
»Und dann haben wir Tee getrunken...«, antwortete Marja Timofejewna.
»Mein Vater, Sie haben ja einen grünen Bart!« rief plötzlich Katja erstaunt und fing an zu lachen.
Der Hochwürdigste erinnerte sich, daß der Bart des grauhaarigen Vater Sissoi wirklich was Grünliches hatte, und begann zu lachen.
»Herrgott noch mal, das ist eine Strafe mit diesem Mädchen!« sprach Sissoi laut und erbost. »So eine Verwöhnte! Sitz ruhig! «
Der Hochwürdigste erinnerte sich der weißen, völlig neuen Kirche, wo er im Ausbilde den Gottesdienst abhielt; er erinnerte sich an das Rauschen des warmen Meeres. Seine Wohnung hatte fünf hohe und helle Zimmer, in seinem Arbeits-kabinett stand ein neuer Schreibtisch und eine Bibliothek. Er las viel, er schrieb häufig. Und ihm fiel ein, was für ein Heimweh er hatte, und wie eine blinde Bettlerin jeden Tag bei ihm unterm Fenster von der Liebe sang und auf der Gitarre spielte, und wie er, ihr zuhörend, irgendwarum jedesmal an Vergangenes dachte. Aber dann waren es acht Jahre, und man rief ihn nach Rußland zurück, und jetzt ist er bereits Bischofs- Vikar, und alles Einstige ist irgendwohin weit entschwunden, in einen Nebel, als ob es geträumt war...
In das Schlafzimmer trat Vater Sissoi mit einer Kerze.
»Sich mal an«, staunte er, »Sie schlafen schon, Hochwürden?«
»Was ist da?«
»Aber es ist ja noch früh, zehn Uhr noch nicht einmal. Ich hab' da eine Kerze gekauft, wollte Sie mit Talg einreihen.«
»Ich habe Fieber...«, murmelte der Hochwürdigste und setzte sich aufrecht hin. »Wirklich wahr, man müßte was tun. Im Kopfe ist's nicht gut...«

Sissoi streifte ihm das Hemd herunter und begann, ihm Brust und Rücken mit Kerzentalg einzureihen.
»So... ordentlich... so...«, sagte er. »Herr Jesus Christus... So... ordentlich. Heute bin ich in die Stadt, war bei diesem - wie heißt er? - Protojcrei Sidönski... Hab' bei ihm Tee getrunken... Mir kefallt er nicht! Herr Jesus Christus... So... ordentlich... mir kefallt er nicht!


III

Der alte und sehr korpulente Diözesanbischof litt an Rheumatismus oder Podagra und erhob sich Seit einem Monat nicht mehr vom Bett. Der hochwürdigste Peter besuchte ihn fast jeden Tag und empfing an seiner Statt die Bittsteller. Und jetzt wo er kränkelte, überraschte ihn die Leere und Kleinlichkeit alles dessen, worum gebeten, worüber geweint wurde; ihn ärgerten die Unbildung, die Furchtsamkeit; und alles dieses Winzige und Unnütze erdrückte ihn mit seiner Masse, so daß ihm schien, daß er nun den Diözesanbischof verstehe, der einst in jungen Jahren eine »Lehre vom freien Willen« geschrieben hatte, jetzt aber, wie ihn dünkte, ganz in Bagatellen versunken war, alles vergessen hatte und an Gott nicht mehr dachte. Der Hochwürdigste hatte sich wahrscheinlich im Auslande des russischen Lebens entwöhnt, es war für ihn nicht leicht; das Volk erschien ihm roh, die weiblichen Bittstellerinnen langweilig und dumm, die Seminaristen und ihre Lehrer ungebildet, zuweilen wüst. Und die Papiere, einlaufende wie auslaufende, gingen in die Zehntausend, und was für Papiere! Die Pröpste der ganzen Diözese stellten allen Geistlichen, jungen wie alten, ja sogar deren Frauen und Kindern, Noten für Betragen aus, Fünfer [»sehr gut«] und Vierer [»gut«], aber manchmal auch Dreier, und darüber mußte man bei Gelegenheit reden, auch lesen, und sogar ernsthafte Papiere darüber verfassen. Und dabei tatsächlich nicht eine freie Minute, den ganzen Tag zittert die Seele, und der hochwürdigste Peter fand Ruhe nur dann, wenn er in der Kirche war. Auch konnte er sich auf keine Weise an die Furcht gewöhnen, die er, ohne jede Absicht und trotz seines stillen, bescheidenen Wesens, den Leuten einflößte. Alle Leute in diesem Gouvernement kamen ihm, wenn er auf sie blickte, irgendwie klein, erschrocken und schuldbewußt vor. In seiner Anwesenheit waren alle schüchtern, sogar die alten Pröpste, alle »stürzten« ihm vor die Füße, und kürzlich geschah es

einer Bittstellerin, einer alten dörflichen Popenfrau, daß sie nicht ein einziges Wort hervorbringen konnte vor Angst, so daß sie so auch wieder abfuhr. Und er, der es in seinen Predigten nie über sich brachte, schlecht von den Menschen zu sprechender niemals Vorwürfe machte, weil er Mitleid hatte - er geriet vor den Bittstellern außer sich, wurde böse, warf die Bittschriften auf den Fußboden. In der ganzen Zeit, so lange er hier war, hatte auch nicht ein einziger Mensch mit ihm aufrichtig, einfach und menschlich gesprochen; selbst die greise Mutter war, so schien es, nicht mehr dieselbe, gar nicht mehr dieselbe! Und warum, konnte man fragen, sprach sie mit Sissoi ohne Aufhören und lachte dabei viel, während sie doch mit ihm, dem Sohne, ernsthaft war, meistens schwieg und auch verlegen war, was gar nicht zu ihr paßte? Der einzige Mensch, der sich in seiner Gegenwart ungezwungen hielt und alles sagte, was er wollte, war der alte Sissoi, der sein ganzes Leben bei Bischöfen verbracht und deren elf überlebt hatte. Und ebendarum war es mit ihm leicht, obwohl er zweifellos ein schwerer, abgeschmackter Mensch war.
Am Dienstag nach der Messe war der Hochwürdigste im bischöflichen Gebäude, empfing dort die Bittsteller, wobei er sich aufregte und ärgerte, und fuhr dann nach Hause. Er fühlte sich auch weiterhin nicht gesund, ihn zog es ins Bett; doch kaum war er bei sich eingetreten, als ihm gemeldet wurde, daß Jerakin hergefahren sei, ein junger Kaufmann, ein Opferspender, in einer sehr wichtigen Sache. Man mußte ihn empfangen, Jerakin saß ziemlich eine Stunde, redete sehr laut, fast schreiend, und es war schwer herauszubekommen, was er sagte.
»Gott gebe - daß!« sagte er im Fortgehen.
»Ganz allerunbedingtest! Umstandgemäß, hochwürdigster Herr Bischof! Zu wünschen - daß!«
Nach ihm kam eine Äbtissin aus einem entfernten Kloster. Und als sie fortfuhr, da läutete man zur Vesper, man mußte in die Kirche gehen.
Abends sangen die Mönche ebenmäßig und begeistert, es zelebrierte ein junger Hieromonach mit schwarzem Bart; und der Hochwürdigste fühlte, als er vom Bräutigam, der zu Mitternacht kam, hörte und vom geschmückten Palast, keine Reue über Sünden, keine Trauer, sondern eine Ruhe der Seele, eine Stille, und wurde von Gedanken in die ferne Vergangenheit getragen, in die Kindheit und Jugendzeit, als man ebenfalls so vom Bräutigam und vom Palaste sang; und jetzt erschien diese Vergangenheit lebensvoll, schön und fröhlich, wie sie wahrscheinlich gar nie gewesen war. Und es kann sein, daß wir in jener Welt, in jenem Leben uns an die ferne Vergangenheit, an unser hiesiges Leben mit demselben Gefühl erinnern werden. Wer weiß! Der Hochwürdigste saß am Altar, es war dort dunkel. Tränen flössen übers Antlitz. Er dachte daran, daß er jetzt alles erreicht hatte, was einem Menschen in seiner Lage möglich war, er war gläubig, aber noch immer schien nicht alles klar, irgend etwas fehlte noch, er wollte nicht sterben; und immer noch schien es, daß ihm irgend etwas Allerwichtigstes fehlte, wovon es ihm irgendwann dunkel geträumt hatte, und jetzt in der Gegenwart bewegte ihn dieselbe Hoffnung auf die Zukunft, die er auch in der Kindheit gehabt hatte und in der Akademie und im Auslande.
»Wie sie heute gut singen!« dachte er, dem Gesänge lauschend. »Wie gut!«

IV

Am Donnerstag zelebrierte er die Messe in der Kathedrale, es war Fußwaschung. Als der Gottesdienst in der Kirche sein Ende nahm und das Volk auseinander- und heimging, war es sonnig, warm, lustig, in den Gossen lärmte das Wasser, und hinter der Stadt klang von den Feldern herüber das ununterbrochene Singen der Lerchen, so zart, so zur Ruhe rufend. Die Bäume waren schon erwacht und lächelten freundlich, und über ihnen entschwand, wer weiß wohin, der unergründliche, der unermeßlich blaue Himmel.
Nach Hause gefahren, trank der hochwürdigste Peter Tee, entkleidete sich dann, legte sich ins Bett und befahl dem Zellendiener, die Fensterläden zu schließen. Im Schlafzimmer wurde es dämmerig. Aber welch eine Müdigkeit, was für ein Schmerz in den Beinen und im Rücken, ein schwerer, kalter Schmerz, welch ein Rauschen in den Ohren! Er hatte lange nicht geschlafen, so schien es jetzt, sehr lange nicht, und es hinderte ihn am Einschlafen irgendeine Kleinigkeit, die sogleich im Gehirn aufflimmerte, sobald die Augen zufielen. Wie auch gestern hörte man aus den Nachbarzimmern durch die Wand Stimmen, das Klingen von Gläsern, von Teelöffeln... Marja Timofejewna erzählte dem Vater Sissoi irgend etwas lustig, mit Redensarten, und dieser antwortete mürrisch, mit unzufriedener Stimme: »Ach, was! Das fehlte noch! Sieh mal, wohin!« Und der Hochwürdigste war wieder unwillig und dann gekränkt darüber, daß die alte Frau sich mit Fremden ganz gewöhnlich und einfach gab, mit ihm aber, mit dem Sohn,
verlegen war, selten redete, und nicht das, was sie wollte, und sogar, wie ihm schien, alle diese Tage immer einen Grund suchte aufzustehen, da sie sich zu sitzen genierte. Und sein Vater? Der hatte, wenn er noch am Leben wäre, vor ihm wahrscheinlich nicht ein Wort hervorbringen können...
Im Nebenzimmer fiel irgend etwas herunter auf den Fußboden und zerbrach; wahrscheinlich hatte Katja eine Tasse oder eine Untertasse fallen gelassen, deshalb weil Vater Sissoi plötzlich ausspuckte und böse ausrief: »'s ist eine reine Strafe mit diesem Mädchen, Herrgott, verzeih mir Sünder! Also da hilft kein Geschirrvorrat!«
Dann wurde es still, und man hörte nur Töne vom Hofe her. Und als der Hochwürdigste die Augen aufschlug, sah er bei sich im Zimmer Katja, die regungslos dastand und auf ihn blickte. Die roten Haare stiegen wie immer vom Kamm heraus auf, wie ein Lichtschein.
»Du, Katja?« fragte er. »Wer Öfrhet und schließt da unten fortwährend die Tür?«
»Ich hör' es nicht«, antwortete Katja und lauschte.
»Da ist jetzt eben jemand durchgegangen.«
»Das ist ja bei Ihnen im Magen, Onkelchen !«
Er lachte auf und strich ihr über den Kopf.
»Also der Bruder Nikolascha, sagst du, schneidet die Toten?« fragte er nach einem Schweigen.
»Ja. Er lernt.«
»Und ist er ein Guter?«
»Ach nichts, er ist gut. Aber er trinkt zu viel Schnaps.«
»Und an welcher Krankheit ist dein Vater gestorben?«
»Papachen waren schwach und magermager, und auf einmal- die Kehle. Da wurde auch ich krank und der Bruder Fedja - bei allen die Kehle. Papachen sind dann gestorben, Onkelchen, aber wir wurden gesund.«
Ihr Kinn kam ins Zittern, und Tränen zeigten sich in den Augen, glitten über die Wangen.
»Euer Hochwürden«, brachte sie mit feinem Stimmchen hervor, schon bitter weinend, »Onkelchen, wir sind mit der Mutter unglücklich geblieben... Geben Sie uns ein klein bißchen Geld... Seien Sie so gut... Täubchen!...«
Auch ihm kamen die Tränen, und er konnte vor Bewegung lange kein Wort hervorbringen; dann streichelte er sie über den Kopf, berührte ihre Schulter und sagte:
»Gut, gut, mein Mädchen. Wenn der helle Auferstehungstag Christi kommt, dann werden wir darüber sprechen... Ich werde helfen... werde helfen...«
Leise, schüchtern trat die Mutter ein und betete auf die Ikone hin. Sie bemerkte, daß er nicht schlief, und fragte:
»Wollen Sie nicht ein Süppchen essen?«
»Nein, danke...«, erwiderte er. »Ich hab' keine Lust.«
»Aber Sie schauen ja so wie krank aus... wie ich sehe. Und wie auch, wie soll man da nicht krank werden! Den ganzen Tag auf den Füßen, den ganzen Tag - und, mein Gott, auch nur auf Sie zu schauen ist ja traurig. Nun, die heilige Woche ist ja nicht hinter den Bergen, dann werden Sie sich, Gott gebe, erholen und werden wir auch miteinander reden, aber jetzt möchte ich Sie mit meinen Gesprächen gar nicht stören. Komm, Kätjetschka - damit der Hochwürdigste schlafen kann.«
Und er erinnerte sich, wie irgendeinmal vor sehr langer Zeit, als er noch ein Knabe war, wie sie da in demselben scherzhaftrespektvollen Ton mit dem Propste gesprochen hatte... Nur an den ungewöhnlich gütigen Augen, am schüchternen, besorgten Blick, den sie beim Verlassen des Zimmers schnell auf ihn warf, konnte man erraten, daß es die Mutter war. Er schloß die Augen und schien zu schlafen, aber er hörte doch zweimal, wie die Uhr schlug und wie Vater Sissoi hinter der Wand hustete. Und noch einmal trat die Mutter ein und blickte eine Minute lang schüchtern auf ihn. Irgendjemand fuhr bei der Vordertreppe vor, wie zu hören war, in einem Landauer oder einer Kalesche. Plötzlich ein Klopfen, die Tür schlägt auf: der Zellendiener trat ins Schlafzimmer.
»Eure Hochwürden!« rief er.
»Was?«
»Die Pferde stehn bereit, es ist Zeit zum Leiden des Herrn.«
»Wieviel Uhr ist es?«
»Viertel auf acht.«
Er kleidete sich an und fuhr in die Kathedrale. Während der ganzen zwölf Evangelien-Lesungen mußte man mitten in der Kirche unbeweglich stehen, und das erste Evangelium, das allerlängste, das aller-schönste, verlas er selbst. Eine wohlgemute, gesunde Stimmung bemächtigte sich seiner. Dieses erste Evangelium »Die Zeit ist gekommen, daß des Menschen Sohn verkläret werde«, kannte er auswendig; und sprechend erhob er bisweilen die Augen und sah auf beiden Seiten ein ganzes Meer von Flammen, hörte das Knistern der Kerzen, doch die Menschen waren nicht zu sehen, ganz wie auch in den vergangenen Jahren, und es schien, daß das immer dieselben Menschen sind wie auch damals in der Kindheit und Jugend, daß sie immer dieselben sein werden jedes Jahr, aber bis wann - das weiß nur Gott allein.
Sein Vater war Diakon gewesen, der Großvater Pfarrer, der Urgroßvater Diakon, und sein ganzes Geschlecht gehörte, vielleicht seit Annahme des Christentums in Rußland, zur Geistlichkeit, und seine Liebe zu den kirchlichen Gottesdiensten, zur Geistlichkeit, zum Glockenläuten war bei ihm eingeboren, tief, unausrottbar; in der Kirche fühlte er sich, besonders wenn er selbst am Zelebrieren teilnahm, tatkräftig, frisch und glücklich. So auch jetzt. Nur als man bereits das achte Evangelienstück verlas, fühlte er, daß ihm die Stimme schwach wurde, sogar der Husten war nicht zu hören, der Kopf fing wieder stark an zu schmerzen, und ihn beunruhigte die Befürchtung, daß er jetzt, jetzt gleich hinfallen könnte. Und in der Tat, die Beine waren ganz eingeschlafen, daß er sie allmählich überhaupt nicht mehr fühlte, und er konnte nicht begreifen, wie und worauf er stand, warum er nicht hinfiel...
Als der Gottesdienst zu Ende ging, war es dreiviertel auf zwölf. Heimgefahren, kleidete sich der Hochwürdigste sofort aus und legte sich zu Bett, wobei er sogar nicht einmal sein Gebet sprach. Er vermochte nicht zu sprechen und hatte, wie ihm schien, auch nicht mehr stehen können. Als er sich mit der Bettdecke zudeckte, wollte er plötzlich ins Ausland, mit unerträglicher Sehnsucht! Ihm schien, als könnte er sein Leben hingeben, um nur nicht diese armseligen, billigen Fensterladen zu sehen, diese niedrigen Plafonds, nicht diesen drückenden klösterlichen Geruch zu spüren. Wenn auch nur ein Mensch wäre, mit dem man reden, dem man sein Herz ausschütten könnte!
Lange hörte man irgendwessen Schritte im Nebenzimmer, und er konnte sich auf keine Weise erinnern, wer das sei. Endlich öffnete sich die Tür, und Sissoi trat mit einer Kerze und einer Teetasse in der Hand ein.
»Sie haben sich schon hingelegt, Hochwürden?« fragte er. »Und ich bin gekommen und wollte Sie mit Branntwein und Essig einreihen. Wenn man gut einreibt, so hat man davon bedeutenden Nutzen. Herr Jesus Christus... So... ordentlich... so... ordentlich... Und ich bin jetzt eben in unserem Kloster gewesen... Es kefallt mir nicht! Ich werde von hier morgen weggehen, Hochwürden, ich will nicht mehr. Herr Jesus Christus... So... ordentlich...«
Sissoi vermochte nicht lange an einem Ort zu bleiben, und ihm schien, daß er im Pankrátjeffschen Kloster schon ein ganzes Jahr lebe. Vor allem aber war es, wenn man ihn anhörte, schwer zu verstehen, wo sein Haus war, ob er jemand oder irgend etwas liebhabe und ob er an Gott glaube... Ihm selbst war es unverständlich, warum er Mönch war, aber er dachte auch nicht mehr daran, und längst schon hatte sich in seinem Gedächtnis jene Zeit abgewetzt, da man ihn zum Mönch weihte; es sah so aus, als ob er einfach als Mönch geboren sei.
»Morgen geh' ich weg. Gott mit ihm, mit allem!«
»Ich hätte mit Ihnen allerhand zu besprechen... Ich komm' bloß so schwer dazu«, sagte der Hochwürdigste leise, fast über seine Kraft hinaus. »Ich kenne hier doch niemand und nichts.«
»Bis Sonntag, bitte schön, werd' ich bleiben, so mag's denn sein, aber länger will ich nicht. Ah, die sollen...!«
»Was bin ich für ein Bischof?« fuhr der Hoch würdigste leise fort. »Ich hätte Dorfgeistlicher werden sollen, Mesner oder einfacher Mönch... Mich drückt das alles... es drückt...«
»Was? Herr Jesus Christus... So also... Nu, schlafen Sie, Hochwürdigster!... Ah, was soll man da! Ah, wozu! Gute Nacht!«
Der Hochwürdigste konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Und am Morgen, so gegen acht, begannen bei ihm Darmblutungen. Der Zellendiener erschrak und lief zuerst zum Archimandriten und dann zum Klosterarzt Iwan Andrejitsch, der in der Stadt wohnte. Der Doktor, ein korpulenter alter Mann mit großem, grauem Bart, untersuchte den Hochwürdigsten
lange, schüttelte immer wieder den Kopf mit verdrießlichem Gesicht und sagte dann:
»Wissen Sie, Euer Hochwürden? Sie haben ja Unterleibstyphus!«
Von den Blutungen wurde der Hochwürdigste in irgendeiner Stunde ganz mager und bleich, das Gesicht fiel ein und wurde runzlig, die Augen waren größer, es sah aus, als ob er gealtert sei und kleiner von Wuchs, und ihm schien bereits, daß er elender, schwächer und unbedeutender als alle sei, daß alles, was da war, irgendwohin weit, weit entschwunden blieb und schon nie mehr wiederkehrt, nie mehr weitergeht.
»Wie gut!« dachte er. »Wie gut!«
Es kam die alte Mutter. Als sie sein verrunzeltes Gesicht und seine großen Augen sah, erschrak sie, fiel vor dem Bett auf die Knie und begann sein Antlitz zu küssen, seine Schultern, seine Hände. Und auch ihr schien es irgendwarum, daß er elender, schwächer und unbedeutender als alle war, und sie dachte schon nicht mehr daran, dass er Bischof sei, und küßte ihn wie ein Kindchen, ein sehr nahes, ein leibliches.
»Pawluscha, Täubchen«, begann sie zu sprechen,» mein Lieber!... Mein Söhnchen! ...Warum bist du so geworden? Pawluscha, antwort mir doch!«
Katja stand bleich und streng daneben und verstand nicht, was das mit dem Onkel war, warum die Großmutter solch ein schmerzvolles Gesicht hatte und warum sie solche rührende, traurige Worte sprach. Er aber konnte schon nicht mehr ein Wort hervorbringen, begriff nichts, und ihm kam es vor, daß er, jetzt schon ein einfacher, gewöhnlicher Mensch, schnell und lustig übers Feld geht, mit dem Stöckchen auf den Boden klopft und über ihm ein weiter, sonnendurchströmter Himmel sei und daß er jetzt frei ist wie ein Vogel und gehen kann, wohin er nur will!
»Mein Söhnchen, Pawluscha, antwort mir doch!« sprach die Alte. »Was ist mit dir? Mein Lieber!«
»Stören Sie nicht den Hochwürdigsten«, sagte Sissoi ärgerlich, durchs Zimmer gehend. »Soll er doch schlafen... Ah, woher... wozu auch!«
Drei Ärzte kamen gefahren, berieten sich und fuhren dann wieder weg. Der Tag währte lang, unglaublich lang, und lange, lange ging die Nacht dahin, und gegen Morgen, am Samstag, trat der Zellendiener zu der Alten, die im Gastzimmer auf dem Diwan lag, und ersuchte sie, ins Schlafzimmer zu gehen: der Hochwürdigste habe das Zeitliche gesegnet.
Und am andern Tage war Ostern. In der Stadt gab es zweiundvierzig Kirchen und sechs Klöster; ein dröhnender, froher Glockenton stand ohne Aufhören vom Morgen bis zum Abend über der Stadt und erregte die Frühlingsluft; die Vogel sangen, die Sonne schien hell. Auf dem großen Marktplatz war es lärmig, es schwangen die Schaukeln, die Leierkasten spielten, die Harmonika kreischte, es schallten betrunkene Stimmen. Am Nachmittag begann auf der Hauptstraße der Corso der Traber - mit einem Wort, es war lustig, es war alles gedeihlich, wie es sein soll, genauso wie im vorigen Jahr und wie es, aller Wahrscheinlichkeit nach, auch im nächsten sein wird.

Nach einem Monat war ein neuer Bischofs-Vikar ernannt worden, und an den hochwürdigsten Peter dachte niemand mehr. Und dann hatte man ihn auch völlig vergessen. Und nur die alte Frau, die Mutter des Entschlafenen, die jetzt bei ihrem Schwager, dem Diakon, in einem entlegensten Kreisstädtchen wohnt, sie allein begann, wenn sie gegen Abend hinaustrat, um ihrer Kuh entgegenzugehen, und auf der Viehweide mit den anderen Frauen zusammenkam, von den Kindern zu erzählen, von den Enkeln, davon, daß ihr Sohn Bischof gewesen sei, und dabei sagte sie das schüchtern, als fürchte sie, daß man ihr nicht glauben werde...
Und wirklich, nicht alle glaubten ihr.

(Aus: A. Tsch.: Seelchen. Übersetzt von Sigismund von Radecki. Zürich 1963: Diogenes. S. 248ff. – Mit Abdruckgenehmigung der Nachlasshüterin Frau Ruth Matthaeus-Weilandt für Bildungszwecke. Gladbeck))


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