Aus meinem Buch "Onkel Bürgermeister"


Aus meinem Buch

Fast könnte man sagen, dass Walter Heidtmanns Leben als Folge eines außerordentlich traurigen Ereignisses an jenem verhängnisvollen 1. Juli 1946 in einer kleinen Stadt östlich der Elbe begann.
Der neu ernannte Bürgermeister Martin von Januszewski machte am Morgen dieses besonders schönen Sommertages seinen üblichen Rundgang durch den Ort. Er erfreute sich am Singen der Vögel und am Quaken der Frösche, denn all das war während des Krieges vom Donner der Geschütze und der Explosionen der Bom­ben übertönt worden. Der Krieg war vor etwas mehr als einem Jahr zu Ende gegangen, aber es kam ihm vor, als sei es gestern erst ge­wesen, so präsent waren ihm diese grauenhaften Ereignisse noch.
Martin nahm seine Aufgabe sehr ernst, denn er war unglaublich stolz darauf, dass man ihn, ausgerechnet ihn, einen Polen, zum Bürgermeister gemacht hatte. Er fühlte sich seitdem wie ein kleiner König.
Wenn er auf sein bisheriges Leben zurückblickte, dann konnte er darin nicht allzu viele glückliche Momente erkennen. Er entstammte einer kaschubischen adligen Familie, die in der Nähe von Danzig lebte. Kaschuben waren weder bei den Deutschen noch bei den Polen beliebt. Den Polen waren sie zu deutsch und den Deutschen waren sie zu polnisch. Sein Vater war ein strenger und wie Martin es empfand auch ungerechter Mann, mit dem man sich nur streiten konnte. Kaum erwachsen, hatte Martin deshalb sein Elternhaus im Zorn verlassen und hegte nicht die Absicht, jemals zurückzukehren. War schon die Familie, der er entstammte, trotz Adelstitel nicht gerade mit Reichtümern gesegnet gewesen, so hatte er allein völlig mittellos dagestanden.
Es war ihm nichts anderes übriggeblieben, als sich als Landarbeiter bei deutschen Bauern zu verdingen. Dabei hatte er Maria kennengelernt, die ebenfalls von Gelegenheitsarbeiten in der Land­wirtschaft lebte. Sie hatten geheiratet und bald wurde ihre erste Tochter geboren, die sie Ursula tauften. Der Familienzuwachs hatte das Leben nicht gerade leichter gemacht, aber trotzdem zählte Martin die Geburt der Tochter zu den schönsten Momenten seines Lebens.
Dann hatten die Deutschen den Krieg begonnen, den er zutiefst verabscheute. Er war ein überzeugter Kommunist und als solcher strikt dagegen gewesen, die Sowjetunion anzugreifen und womög­lich zu besiegen, denn diese war für ihn das Mutterland des Kom­munismus, das auf keinen Fall untergehen durfte. Obwohl vorher von den Deutschen nie als deren Landsmann anerkannt, war er zur Deutschen Wehrmacht eingezogen worden und hatte für ein Land kämpfen müssen, das ihm fremd war und für eine Sache, die er ab­grundtief hasste. Es war ihm jedoch nichts anderes übriggeblieben, denn die Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls hätte unweigerlich die Todesstrafe nach sich gezogen.
Wie durch ein Wunder hatte er den Krieg überlebt und nach der Kapitulation Deutschlands und einer kurzen Kriegsgefangenschaft hatte er mit viel Glück seine Familie wiedergefunden, die inzwi­schen in einer kleinen Stadt in der sowjetischen Besatzungszone lebte, wohin Maria mit ihrer Tochter vor der heranrückenden Front geflüchtet war.
Nun kam es ihm plötzlich zugute, dass er Kommunist war und polnisch sprach. So hatte es nahegelegen ihn als Bürgermeister ein­zusetzen. Mit ihm sollte es keine Probleme mit den sowjetischen Soldaten geben, die inzwischen ganz Ostdeutschland besetzt hat­ten. Martin konnte glaubhaft versichern, dass er Russisch verstehe, da es dem Polnischen sehr ähnlich sei. Zur Freude der übrigen Einwohner hatte er sich auch tatsächlich mehrmals mit den zuständi­gen sowjetischen Offizieren getroffen und die Erlaubnis erwirkt, das Sägewerk wieder in Betrieb zu nehmen. Außerdem hatte er ein Kontingent Treibstoff für die örtlichen Bauern ausgehandelt, so­dass sie ihre Felder bestellen konnten. Obwohl die übrigen Ein­wohner vorher ausnahmslos Kommunisten und Polen abgelehnt hatten, waren sie jetzt sehr froh, einen kommunistischen Polen als Bürgermeister zu haben. Sie sahen ja, dass es sich lohnte.
Alle diese Gedanken gingen Martin durch den Kopf, als er durch die Hauptstraße des Ortes ging. Er versuchte den Gesang der Vögel zu übertönen, indem er fröhlich und laut Die Internationale pfiff. Dabei lachte er still vor sich hin, denn er dachte daran, dass ihn das vor Kriegsende noch das Leben gekostet hätte.
Plötzlich hörte er aus einer Seitenstraße die verzweifelte Stimme einer Frau sowie Schreie aus kindlichen Kehlen und dazu laute Ru­fe in russischer Sprache. Er eilte in die Richtung, aus der die Stim­men kamen und sah, als er um eine Hausecke bog, dass einige So­wjetsoldaten dabei waren ein bewohntes Haus auszuplündern. Er wusste, dass darin eine Landarbeiterin mit ihren Kindern lebte. Ihr Mann war im Krieg gefallen Für Führer, Volk und Vaterland, wie auf der Todesnachricht zu lesen war.
Die Russen hatten bereits verschiedene Möbel und viel Geschirr auf ihren Panjewagen geladen und waren gerade dabei die Lam­pen von den Zimmerdecken zu reißen, um sie ebenfalls mitzunehmen. Auch der Volksempfänger war bereits verladen. Wahrscheinlich wollten sie die Gegenstände in ihre Heimatdörfer an die Familien senden. Dass man für die Lampen und das Radio elektrischen Strom brauchte, der dort möglicherweise gar nicht vorhanden war, schienen sie nicht zu wissen.
Mit schnellen Schritten näherte sich Martin dem Ort des Gesche­hens und rief: „Stój!“ Die Russen blickten verwundert auf den ver­meintlichen Deutschen, der sie auf Polnisch anrief. Wie konnte er es wagen, sie, die Sieger des Großen Vaterländischen Krieges, an ihrem Tun zu hindern? Noch mehr staunten sie, als der Bürger­meister ihnen jetzt in einem Gemisch aus Polnisch und Russisch er­klärte, wer er sei und dass sie dabei wären eine arme Witwe aus­zurauben, die nur eine einfache Arbeiterin sei. Er wies außerdem auf die drei kleinen Kinder hin, um das Mitleid der Russen zu we­cken, da deren Kinderliebe sprichwörtlich war. Dann bat er in sei­nem Kauderwelsch die Soldaten inständig darum, die Gegenstände wieder abzuladen und sie der Frau zurückzugeben. Die Russen hatten ihn offensichtlich verstanden, kamen seiner Bitte jedoch nicht nach, sondern lachten nur höhnisch.
Von früheren Begegnungen mit sowjetischen Soldaten wusste Martin, dass es auf diese stets großen Eindruck machte, wenn man androhte, die Kommandantur zu benachrichtigen, welche streng darauf achtete, dass es zu keinen Übergriffen der Besatzungssolda­ten auf die deutsche Zivilbevölkerung kam. Deshalb sagte er ener­gisch: „Ja idu do Komendatury!“ Dann drehte er sich um und ging festen Schrittes in Richtung Rathaus, wo es ein Telefon gab, mit dem er die Kommandantur anrufen wollte.
Wenn er gedacht hatte, die Sowjetsoldaten damit zur Umkehr bewegen zu können, so war das der letzte Fehler seines Lebens. Einer der Soldaten nahm seine Kalaschnikow und drückte ab. Eine Salve traf den Bürgermeister in den Rücken. Martin von Januszewski fiel vornüber auf die staubige Straße. Eine große Pfütze seines Blutes breitete sich aus und er starb innerhalb von wenigen Minuten, auf dem Gesicht liegend, während die Sowjetsoldaten ungerührt ihren Raubzug fortsetzten, ohne dem Erschossenen noch irgendwelche Beachtung zu schenken.


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Kommentare (3)

ahle-koelsche-jung

Eine traurige Geschichte, die sich so oder ähnlich, sicherlich in vielen Orten abgespielt hat. Heute eigentlich fast unverständlich, aber leider Gewesenes.

VG Wolfgang 

Pan

Lieber Wilfried, entschuldige, dass ich Dich bei der Aufzählung Deiner Elaborate unterbreche.

In Deinem Profil schreibst Du, dass Du u.a. auch gern schreibst!
Sehr gut.
Warum lässt Du uns Deine Gedanken dann nicht auch einmal lesen?
Eine Aufzählung Deiner Bücher kann es ja nicht sein. (Viele unserer Senioren haben schon ihre Bücher veröffentlicht.)
Im FORUM des ST haben wir eine Sparte, "für Autoren"
in der man seine Bücher vorstellen kann!
Im Blog ist dies m.E. fehl am Platze, denke ich, weil es dem allgemeinen Sinn eines Blogs nicht entspräche.
Also, Wilfried, lass es Dir mal durch den Kopf gehen ...
meint mit Gruß
Pan

Wilfried

@Pan  Hallo Pan,
vielen Dank für den Hinweis. Gern werde ich ihn aufgreifen und meine Bücher bei der Sparte "Für Autoren" vorstellen.
Viele Grüße
Wilfried


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