aus meinen losen Blättern

Autor: ehemaliges Mitglied

An jenem Sonntag dachte ich, es müsse einen Weg geben, den ich zwischen meinen Wänden nicht finden kann. Draußen doch verfremdete sich  Bekanntes: Baumreihen wichen zurück, Geräusche verminderten sich, Farben verblassten. Ich ging mittendrin umher wie auf einer Insel. Wie ausgesetzt -, nicht mehr integriert in die Normalität. Ungestört in der Wahrnehmung: jetzt sind die Bäume üppig, barock, erdrückend vor dem Herbst. Jetzt beginnen die Regentropfen an den Zweigen zu frieren nach dem Sommer. Jetzt bleiben neue Triebe klein zwischen den Jahreszeiten. Man sieht das alles wie weggezoomt -, scharf auch nicht -  und als würde man am falschen Ende durch ein Fernglas blicken. Und dieses Alleinsein war ungewollt und krank und kaum  zu beschreiben. Real bin nur noch ich, zentriert auf eine ungewöhnliche Weise und  in einer schwer zu akzeptierenden Verlassenheit. Zorn kommt auf -, eher eigentlich Neid. Weshalb denn sind alle anderen so normal, erkennen sich und sprechen miteinander? Wo grenzt De-Realisation vielleicht schon ans Absurde?

Es gibt immer einen Ausweg. Und sei es ein steiniges Tal. Aber heute bewegen sich wieder die etwas entfernter stehenden Bäume vor den Fenstern stadteinwärts. Es ist, als säße man in einem Zug und sähe die Landschaft an sich vorbeifliegen in die entgegengesetzte Richtung. Der Tinnitus ist sehr heftig, befreie deine Carotiden vom Druck, meint er, vielleicht sollte ich die Schultern sinken lassen, aber ich bin einfach zu klein geworden. Es ist wieder Sonntag wie jener, als mich die Geister verließen, und außer im Wind haben sich die Bäume lange nicht mehr bewegt. Wenn sie wieder stehen, ihren Platz hüten, wieder sind wo sie hingehören, wird es mir wieder besser gehen. Was sind schon die fünf Jahre, die wir noch haben, sagte einer, der noch kaum so alt sein kann wie  ich. Er meinte, kontrolliert könnten uns die Drogen  nicht mehr schaden, für mich aber schien es wie eine Drohung, denk’ an dein Ende, sei bereit, und ich will mir noch schnell die Nägel schneiden mit diesem Maschinchen, dem man seine guten Funktionen nicht angesehen hatte durch die Verpackung.

Es ist wieder wärmer geworden. Meine Mieze liegt draußen unter dem Tisch, sie schläft, ihr sind die Bäume egal. An meinem Fenster krabbelt außen eine Wespe hoch, so schmal schon geworden im mangelhaften Sommer, dass nicht einmal die Vögel sie noch fressen möchten. Nebenan hustet die alte Frau, für die ich nachts um die Häuser geschlichen bin und die Wände ihrer Wohnung mit dem Stethoskop  abgehört habe, um herauszufinden, woher die Stimmen kamen, die Musik, die sie hörte, die Nazi-Lieder, die gar niemand sang. Jetzt tu ich nichts mehr für andere, die mich nachts um 3 anrufen, weil sie sich schlecht fühlen, wer fragt denn mich einmal nach mir. Sie machen sich Sorgen, sagen sie -, ja, seltsame Sorgen, von denen man nichts bemerkt. Die Bäume fahren noch immer -, heut’ ist ein verlorener Tag für mich, einer derjenigen aus den letzten fünf Jahren. Wie kann jemand nur so etwas sagen? Es ist sehr still hier – heute – jetzt. Aber um fünf Uhr bis sechs morgens dröhnten die Lautsprecher des nahegelegenen Stadions eine irrsinnige Musik in die Betten der Schläfer, die nicht wie ich die senile Bettflucht haben und um vier Uhr aufstehen. Da war ich ganz gehässig und lachte und dachte nicht daran, dass ich vielleicht neidisch sein könnte.

Es geht mir jetzt etwas besser, vielleicht von der halben Tablette, die Bäume sind ruhiger geworden, nur wenn ich aufstehe, wird mir übel.

 Aber weshalb sollte es einem auch jeden Tag gut gehen müssen.
   


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Kommentare (2)

indeed

Man gewinnt den Eindruck, du seist hier in deiner Geschichte am kämpfen, warum auch immer und in einigen Momenten denkst du bewusst und siehst nach vorne,  um dann wieder in ein Tal zu fallen. Sehr gut geschrieben. Du bist gerade eine Woche hier und hast drei Blogs eingestellt und alle habe ich mit Interesse gelesen.

Mach weiter so - ich würde mich freuen, liebe Variana. 'Herzlich Willkommen hier im ST.

Heute ist Pfingsten und ich wünsche dir gesegnete Feiertage und schicke gleichzeitig einen lieben Gruß an dich.

indeed

Syrdal


...ein Leben wie ein loses Blatt im herbstlichen Wind!

...empfindet
Syrdal


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