Balkonamseln zur Fußballweltmeisterschaft
Ein Tagebuch

16. Juni 2010
Bin erst nach Mitternacht aus Griechenland zurückgekehrt.

Heute Morgen, beim Aufhängen der Urlaubswäsche auf dem Balkon spürte ich eine heiße Stelle an meinem Nacken, als sei das Brennglas eines außerirdischen Wesens auf mich gerichtet. Ich blickte mich um und entdeckte im obersten Fach meines Regals, direkt neben dem getrockneten Feigenzweig und dem künstlichen Efeu, das ich jährlich für den Weihnachtsschmuck auf dem Balkon verwende, eine Amsel. Obgleich sie mich beobachtete, schien sie mir doch recht entspannt. In diesem reglosen Zustand musste sich einstmals Siddharta Gautama unter der Pappelfeige befunden haben, als er sich nach innen kehrte. Mir war eines sofort bewusst: Sie brütet! Genüssliche Sommerstunden auf dem Balkon könnte ich für dieses Jahr streichen.

Mit langsamen Bewegungen verrichtete ich meine Arbeit zu Ende, wandte mich zu ihr und blickte in ernste schwarze Augen. „Hör zu“, sagte ich in dem Bemühen, einen sanften Ton anzuschlagen: „Eins muss auch dir klar sein: Ich wohne hier, und du kannst zur Untermiete bleiben.“ Die Amsel drehte den Kopf ein paar Mal nach links, nach rechts und vermittelte den Eindruck, als würde sie zuhören. Ob sie verstand, blieb mir verborgen.



17. Juni 2010
Ich werde sie „Karla“ nennen. Heute beobachtete sie mich von Ihrem Hochsitz aus beim Abhängen der Wäsche. Als sie kurz weggeflogen war, schnappte ich meine Tretleiter, hielt die Kamera mit der Hand empor und entdeckte später auf dem Foto fünf blaugrüne Eier mit braunlila Sprenkeln in dem kunstvoll gearbeiteten Nest

18. Juni 2010
Karla sitzt und sitzt, sie brütet und brütet und akzeptiert, dass ich auf dem Balkon lese.
Nachdem ich am 13. Juni auf der griechischen Insel in Stavros’ Taverne das Fußballspiel Deutschland gegen Australien mitverfolgt hatte, wo Deutschland zwar siegte, ich aber kein Wort griechisch verstand, ging ich heute zu Markus, um mit ihm Deutschland gegen Serbien anzusehen. Deutschland verlor 0:1 und Markus hatte miese Laune. Wir haben uns deswegen verkracht.

20. Juni 2010
Karla benimmt sich unruhig. Irgendetwas tut sich unter ihr. Gerade ist sie wieder weggeflogen, scheint jetzt zumindest Nahrung aufzunehmen, bleibt länger weg. Mit dem Fotoapparat bin ich schnell auf den Tisch gestiegen, um meine Untermieter im Bild einzufangen. Sie beginnen nach und nach zu schlüpfen, sind dermaßen hässlich, dass ich mich dabei regelrecht erschrecke. Immer wieder schaue ich mir das Foto an, gewöhne mich nur langsam an den abschreckenden Anblick dieser glibberigen Gestalten.

Ich krame altes Material aus dem Biologieunterricht hervor und lese, dass aus der Bauchseite eine extraembryonale durchscheinende Zellschicht des Dottersacks den ganzen Embryo wie ein übergestülptes Regencape umwächst. Die Zellschicht schließt ihn drucksicher in ein wassergefülltes Aquarium ein, die Amnionhöhle, in der der Embryo an der Leine seiner Blutgefäße zum Dottersackgewebe liegt. Der Embryo in seiner Hülle wächst, und der Dottersack wird kleiner und immer kleiner. Durch diese Erklärung werden sie mir tatsächlich etwas sympathischer.

23. Juni 2010
Karla kann von ihrem Hochsitz direkt in meinen Fernseher schauen. Heute spielt Deutschland gegen Ghana. Ich habe sie gefragt, ob sie mit mir Fußball schauen möchte. „Au fein“, hat sie gepiepst.

24. Juni 2010
Deutschland hat 1:0 gewonnen und kommt ins Viertelfinale. Hut ab vor Ghana!
Plötzlich ist aus dem Nichts Karlas Gatte aufgetaucht: Ein Feigling! Mit seinem seidig schwarzen Gefieder, dem orangegelben Schnabel und dem schönen Augenring in der Farbe des Schnabels ist er jedoch sehr viel attraktiver als Karla, deren Bauch nur braungrau gesprenkelt ist, die zwar auch ein Augenring ziert, jedoch unauffälliger ist als der ihres Gatten – oder ist er etwa nicht der Gatte? Ich habe gelesen, dass es nicht zwingend immer der leibliche Vater ist, der die Brut mit aufzuziehen hilft. Jedenfalls fliegt er weg, sobald ich in Erscheinung trete.

Wegen dem Feigling traue ich mich nicht auf den Balkon, beobachte vom Wohnzimmer aus. Karla hat nichts gegen mich, aber er: Sitzt auf dem Baum gegenüber und beobachtet mich aus sicherer Entfernung. Gerade ist er wieder weggeflogen. Meine Neugierde ist zu groß. Ich steige schnell auf den Tisch und knipse ein Bild: Sie sind alle geschlüpft, stecken zum Teil noch in dieser natürlichen Wursthaut, so jedenfalls sieht es aus.

25. Juni 2010
Aha! Er scheint zum Hausputz verdonnert zu sein. Bravo, Karla. 1:0 für dich! Gerade ist er vom Nest weggeflogen mit einem großen Stück Schale im Schnabel.
Überhaupt: Alle haben mich gewarnt: „Ach du meine Güte. Verjag sie rechtzeitig. Das gibt eine Riesenschweinerei auf dem Balkon.“ Daher habe ich den Makrameevorhang zugehängt, Polster und Kissen in die Wohnung ausgelagert und Balkonmöbel zur Seite geräumt. Nix da! Sie sind so penibel, halten das Nest sauber; man könnte vom Boden essen, was man von meiner Wohnung derzeit nicht behaupten kann. Ich traue mich nicht, mit dem lauten Staubsauger durchzuziehen.
Zwei Wochen brüten, drei Wochen füttern, habe ich gelesen. Ja, und was ist mit fliegen? Wie lange lernen sie fliegen?

26. Juni 2010
Beide Eltern hacken und reißen an irgendetwas im Nest herum. Helfen sie den hässlichen kleinen Nachzüglern in der vermeintlichen Wursthaut, ins Freie zu gelangen?

Karl, - ich nenne ihn Karl -, und Karla sind liebevolle Eltern.
Sie wechseln sich jetzt ab, bringen winzige Würmer im Schnabel herbei, die sie in bisher nur drei aufgerissene Schnäbel stopfen. Allerdings ist Karla fleißiger als er, wacht nachts im Nest. Ich biete ihr dafür Weiterbildung in Sport: Sie hat heute von ihrem Ausblick aus mit mir USA gegen Ghana geschaut. Fußball mag sie, aber um 22 Uhr will sie, dass ich das Licht ausmache. Dann reicht es ihr. Überhaupt drückt sie sich sehr klar aus. Als er neulich mal wegfliegen wollte, weil ich auf den Balkon hinaus getreten war, stupste sie ihn mit dem Schnabel gegen den Bauch und klaute ihm das Würmchen aus dem Mund, bevor er das Weite suchen konnte. Ich lobte sie, während sie das Essen in die aufgerissenen orangefarbenen Schlünde stopfte: in orangegelbe Riesenschnäbel mit zitronengelber Umrandung. Es werden schöne Kinder. Hört man ja oft: Die schönsten Menschen waren die hässlichsten Babys.

27. Juni 2010
Karl sitzt auf meinem Balkongeländer und singt mir ein Ständchen. Ist wieder weggeflogen, als ich mich bedanken wollte.
Heute radle ich zu Freunden, um das Achtelfinale zwischen Deutschland und England zu schauen. Überhaupt halte ich mich trotz Ozonwarnung nicht viel zuhause auf. Warum wohl?
4:1 für Deutschland. Wir kommen also ins Viertelfinale. Karla meint, es gäbe Wichtigeres im Leben.

28. Juni 2010
1. Ich habe mich damit abgefunden: Gäste auf meinem Balkon kann ich mir in diesem Sommer abschminken.
2. Ein paar meiner Untermieter sehen aus wie Daisy Duck.
3. Ich erkenne kleine Federknospen.

29. Juni 2010
Karl lässt mich auf dem Balkon frühstücken. Er fliegt an, füttert hektisch, aber nur die, die den Schnabel am weitesten aufreißen, und wenn er wegfliegt, dann mit Riesengetöse und derart schrillem Zwitscherschrei, dass ich jedes Mal zusammenzucke; aber er ist verantwortungsvoll gegenüber Karlas Nachkommen und wahrscheinlich auch seinen, denke ich. Karla bleibt jedoch Herrin der Bude und verteilt das Futter gerecht, auch an die beiden, die erst später geschlüpft sind.

30. Juni 2010
Ich bin total entzückt. Heute höre ich die Vöglein zum 1. Mal piepsen. Sie scheinen rechtzeitig anzufangen mit Üben, damit sie später so schön singen können wie ihr Vater; denn eines ist sicher: er hat die musikalischeren Gene. Wahrscheinlich hat Karla doch den richtigen Typ für ihren Nachwuchs gewählt. Ich sollte mich nicht so einmischen. Allmählich beginne ich, ihn zu akzeptieren.

1. Juli 2010
Wie schnell sie Federn bekommen: Ein dicker hellgrauer seidiger Flaum umhüllt die zarten Körperchen. Ich fange die Metamorphose in Bildern ein. Karl entwickelt sich zu einem Prachtkerl. Beginnt, seine Angst mir gegenüber zu überwinden; füttert jedoch nicht so ausdauernd wie Karla. Er schiebt ihnen, während ich mein Buch auf dem Balkon lese, eilig das Futter in den Schlund, aber er tut es wenigstens.

3. Juli 2010
Ich bin verliebt. In Karl! Erkläre ihn jetzt schon zum „Held des Tages“, egal, wie das Fußballspiel Deutschland gegen Argentinien heute ausgehen mag. Um 10 Uhr jagte er unter Einsatz seines Lebens eine Elster zwei Bäume weiter. Ich vergaß sogar meinen Ball, den ich gelegentlich in Richtung der Elstern werfe. Muss ja eh’ immer aufpassen, dass Karl meinen Angriff nicht auf sich bezieht.
Noch was: Langschläfer, der ich bin, stehe ich um kurz nach fünf Uhr morgens auf, weil das Gezwitscher dermaßen laut ist, dass man bei diesem Krach nicht schlafen kann. Meine Untermieter zwingen mich, etwas für meine Gesundheit zu tun: ich jogge. Was soll ich sonst tun, so in der Früh?

4. Juli
Argentinien hat gegen Deutschland 0:4 verloren. Welch eine Tragik! - Nicht nur im Fernsehen. Eines der Kleinen ist während des Spiels aus dem Nest geflogen und an der Seite des Regals hinuntergerutscht. Wir saßen zu viert im Wohnzimmer; uns stand das Entsetzen im Gesicht geschrieben, gleich nach dem 1. deutschen Tor. An Jubel war nicht zu denken. Friedhelm hat das zierliche Küken mit einem großen Blatt meines Zitronenbaumes aufgehoben und wieder ins Nest zurückgelegt. War es nun versuchter Brudermord, natürliche Selektion, Schreck auf diese dämlichen Vuvuzelas, die überall tröten oder einfach nur Zufall? Ich habe die Regalseite mit einem Handtuch zugesteckt. Glücklicherweise füttern die Eltern weiter. Ob es das Kleine schafft, werden wir sehen. Ich lasse sie in Ruhe und die Balkontür geschlossen.

5. Juli 2010
Ich sehe, dass Karl seine herbeigebrachte Nahrung immer zack zack zack in die drei weitest aufgerissenen Schnäbel steckt, also in die starken. „Survival of the fittest“ wird übersetzt mit „Überleben des am Angepassteten“. Hier sind es aber wirklich die fittesten, die Karl bevorzugt. Das Männchen ist demnach für das allgemeine Fortbestehen der Evolution verantwortlich, während das Weibchen Detailarbeit leistet, also die Einzelnen berücksichtigt. Sie hält sich länger auf und verteilt auf alle gerecht, auch auf die Kleinen ganz hinten. Die beiden Schwachen sind mit Sicherheit die zuletzt gebrüteten Eier, - jedenfalls sind es fünf Schnäbel. Das verunglückte Küken hat also überlebt.

6. Juli 2010
Sie sind riesig geworden. Das Nest wird zu klein. Ich erblicke nur noch ein Konglomerat aus Flügeln. Hoffentlich wird der Vorlaute vorne bald flügge, damit die kleinen Nesthocker etwas mehr Patz bekommen. Es ist ein echter Kampf ums Überleben.
Am Nachmittag sehe ich den Vorlauten auf dem getrockneten Dattelzweig sitzen. Ihm ist das Nest zu eng geworden.

7. Juli 2010
Gegen Abend gieße ich meine Balkonpflanzen. Der Vorlaute sitzt vier Meter vom Nest entfernt in meiner Efeupflanze. Er lässt mich zu Ende arbeiten und segelt mit ruhigem Flügelschlag im ersten Alleinflug mit Zwischenlandung in einen der nahen Bäume, so, als sei es das normalste der Welt und lässt mich mit geöffnetem Mund zurück.

8. Juli 2010
8 Uhr morgens. Im Nest ist es still. Kein Kopf schaut mehr heraus. Dafür höre ich in den nahen Bäumen einen gewaltigen Chor Amselgezwitscher. Dazwischen schrille Laute von Karla, die heftige Attacken gegen eine Katze fliegt, die auf einem Balkongeländer im 4. Stock sitzt und die Amseln beobachtet. Sie kann gar nicht runter, aber das weiß Karla nicht. Gerade hat sie den 15. Angriff geflogen, dass die Katze sie mit ihren Tatzen fast gestreift hätte. Ich bekomme allein vom Zusehen beinahe einen Herzschlag und muss mich abwenden. Als ich wieder nachsehe, ist die Katze verschwunden. Das Herz meiner Amselmutter und meines ebenfalls kommen ein wenig zur Ruhe.

Heute bleibe ich auf dem Balkon, den ich gerade geputzt habe. Als Dankeschön hat mir jedes der Kleinen noch einen Klacks da gelassen. Mehr nicht? Nein, es ist mehr als das!

Copyright © Franziska




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Kommentare (2)

ladybird und auch amüsant hast Du uns,liebe Franziska,Deine Amseln auf Deinem Balkon mit erleben lassen,man konnte feststellen,wie sich Euer gemeinsames "Balkonleben" so aufbaute.
Auch das fand ich sehr interessant,danke für Deinen Einblick in Dein Tagebuch,das Ende war so wehmütig....ich lasse dir jetzt keine 3 Klecksezurück,sondern einen herzlichen Gruß,von ladybird=Renate
samti mit Freude habe ich dein Amseltagebuch gelesen. Man spürt direkt diese gegenseitig geschlossenen Freundschaft. Vielleicht kommen sie ja wieder? Das könnte eine weitere schöne Geschichte werden, wenn du den Wintertisch für sie deckst. Ich lese es gleich nochmals. Danke. LG Samti

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