Begegnungen

Ich war kaum mit dem Frühstück fertig, da klingelte es zum ersten Mal an der Tür. Das konnte nur Onkel Poldi sein, dachte ich und sah meine Vermutung bestätigt, als ich die Tür öffnete. Onkel Poldi stand vor mir und ich musste gar nicht hochschauen, denn er war kaum größer als ich. Er begrüßte mich wie immer mit Grüß Gott, was ich sonst nie bei jemand anderem gehört hatte, dann trat er ein. Wie ich wusste, war Onkel Poldi nicht nur Omas Schwager, sondern stammte auch aus Österreich. Oma bezeichnete ihn ironisch stets als Wiener Würstchen, denn er war in Wien geboren und aufgewachsen. Ich vermutete, dass er deswegen so eigenartig sprach. Er erinnerte mich immer an den Schauspieler Hans Moser, den ich in einem Film gesehen hatte, ohne ein einziges Wort von ihm zu verstehen.
Der Onkel war aber nicht aus seiner dunklen Parterrewohnung im Hinterhaus zu uns in den vierten Stock des Vorderhauses gekommen, um die schöne Aussicht zu genießen, sondern er hatte stets zwei Anliegen: Erstens wollte er von meiner Mutter möglichst viele Westzigaretten schlauchen und zweitens hegte er die Absicht, uns drei von den Vorzügen des Lebens in unserer sozialistischen Heimat zu überzeugen.
Ersteres ging relativ schnell und unkompliziert vonstatten, denn meine Mutter gab ihm ungefragt eine Zigarette, die er sich umgehend anzündete. Sobald er jedoch den ersten Zug gemacht hatte, begann er zu husten, dass die Gläser in unserer Wohnzimmervitrine klirrten. Obwohl sich dieses Schauspiel an jedem Sonntagmorgen genauso wiederholte, hatte ich stets aufs Neue große Angst, dass er davon sterben würde.
Als Onkel Poldi wieder sprechen konnte, begann der zweite Teil seiner Mission. Allerdings hatte der Onkel es mit seiner Überzeugungsarbeit außerordentlich schwer, ja, man konnte fast sagen, dass er auf verlorenem Posten stand. Die Hauptursache seines Scheiterns war, dass meine Mutter in Westberlin arbeitete und den Unterschied zwischen den Lebensverhältnissen in Ost und West täglich sah. Weil Onkel Poldi jedoch trotz allem nicht aufgab und immer weiter leidenschaftlich agitierte, gab ihm Oma schließlich den symbolischen Todesstoß, um endlich Ruhe zu haben. Sie erinnerte ihn daran, dass er einst Mitglied der Zentrumspartei gewesen war, die 1933 geschlossen für Adolf Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte. Danach sei Onkel Poldi Mitglied der NSDAP geworden, um nach dem Krieg in die SED einzutreten. Seine Glaubwürdigkeit in politischen Fragen bewertete sie deshalb als äußerst fragwürdig.
Zerknirscht trat der Onkel daraufhin den Rückzug an, verließ uns jedoch nicht, ohne sich noch einmal reichlich an Mutters Westzigaretten zu bedienen. Dann verließ er uns.
Kaum hatte ich die Wohnungstür hinter ihm geschlossen, sagte Oma immer den Spruch
Geh mit Gott, aber geh!
Ich nahm an, dass es sich dabei um das Pendant zu Grüß Gott handelt, wunderte mich allerdings darüber, dass sie ihm das nicht direkt sagte.

Aus dem Buch "Was für ein Milieu!" von Wilfried Hildebrandt

Fortsetzung folgt


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