Biographische Zeit- und Personenbilder 1915 – 1981 Kapitel 2


Besuch der Höhere Schule


Als zehnjähriger Knabe bestand ich die Aufnahmeprüfung für die höher Schule in der Landeshauptstadt Oldenburg und wurde da in "Pension“ gegeben, wie man das nannte. Wir waren zu viert bei einem sehr angesehenen, schon in reiferen Jahren befindlichen Fräulein, Clara Möhlenhoff, einer Seminarlehrerstochter, die zu den ersten Kreisen der Stadt freundschaftliche Beziehungen unterhielt. Ihr Vater und auch schon der Grossvater mütterlicherseits waren Mitglieder der Loge, der Johannis-Loge zum Goldenen Hirschen gewesen.

In der Klasse, der Sexta, zählten wir 36 Schüler. Mein Nebenmann war Walter Mangels, vom Marschweg, und Sohn eines Polizisten. Wir waren so ein Gespann! In den Pausen balgten wir uns wie junge Hunde, oder huschten auf verbotenen Wegen, auf dem langen Schulboden in alle Winkel, oder wir jachterten (eifrig stöbern) in den vielen Kellerräumen herum. Fanden wir vielleicht die mir verlorene und ihm ersehnte Freiheit?

Hier, in meinem Mitschüler Walter (seine Eltern wurden leider nach ein paar Jahren nach Eutin, einem oldenburgischen Landesteil damals, versetzt) liegt aber noch nicht der rote Faden, den ich, eingangs gesagt, meine. Höchstens so ein anderer, wenn ich an die für mich ausserordentliche Autorität unseres Dorfgendarms denke. "Schandarm“ Martens, mit dem Säbel an der Seite, mit blanken Kmöpfen, Stiefel und Helm – undenkbar, dass er arbeiten musste -, stand in meiner Vorstellung weit über uns von den grossen Höfen. Nebst diesen kontrastvollen Kindheits- und Jugendeindrücken von der gestrengen Polizei im Kaiserreich noch und von dem schönen, frisch-fröhlichen Verhältnis zu dem Polizistensohn in der jungen Republik war es dann auf der selben Linie im Dritten Reich ein Drittes: eine Begegnung, die fürs Leben sein sollte. Gewann ich doch die Tochter eines Oberleutnants der Polizei zur Braut und dann zur Ehefrau.

Es ist an der Zeit, an mein mir gestelltes Thema zu denken. Immer wieder – der Leser möge mir verzeihen – bin ich versucht, andere Namen oder Personen ins Spiel zu bringen, aber es muss wohl so sein. Wie sagt man und findet es richtig, dass das Umfeld der früheren Lebensumstände des Autors geflissentlich aufgezeigt werden muss. Man wäre damit ganz im Stile der Schreiber von heute und der Erwartungen eines Leserpublikums, das dann allerdings unwillig ein Zuviel des Guten, etwa wie bei Pasternaks "Dr. Schiwago“ ablehnt.

Einer in der Schulklasse, Bubi Kleditz, brauchte den Religionsunterricht nicht mitzumachen. Er war katholisch. Und Alfred Polak auch nicht, weil er zur Synagoge musste, die ebenso wie die katholische Kirche an unserem täglichen Schulweg lag. Darüber habe ich mir in den ersten Jahren bestimmt nicht viel Gedanken gemacht. Das waren Gegebenheiten, die Oldenburg für uns Auswärtige vom Lande, denen so Vieles neu war, mit sich brachte.

Alfred Polak in meiner Klasse der Sexta von 1920 war auch von ausserhalb, aus Westerstede. Er war in Pension bei Heinrich Diers in der Humboldstrasse. Der war Lehrer an der Rövekampschule und wohnte in einem kleinen, schmalen Haus im Stile der "Hundehütten“, wie man in Oldenburg sagte, mit Frau und zwei Töchtern. In Westerstede hatten Polaks eine grosse Villa in der Poststrasse. Die grossen Stallungen hinter dem Haus finden sich heute zu einem Altersheim umgebaut vor. Vater Polak war Viehhändler, gewissermassen für das ganze Ammerland der Bekannteste, neben seinem Bruder Siegfried Polak, der auch seine feste Kundschaft unter den zumeist kleinen Bauern hatte.

Der Sohn dieses zweiten Polak besucht ebenso unsere Realschule, ein paar Klassen höher als sein Vetter und ich. Mein etwas älterer Mitpensionär Heinz aus Rastede, Kaufmannssohn, hatte diesen Karl Polak als Klassenkameraden. Aber da war das so ganz anders als in unserer Klasse. Verstanden sie wohl schon mehr von der Politik? Als Walter Rathenau ermordet worden war, gab es Tumulte.

Bei der auch für die höheren Schulen angesetzten Trauerfeier vor dem Ministerium weigerten sich die grösseren Schüler, der Aufforderung des Ministerpräsidenten zu Schluss seiner Rede, ihre Mützen abzunehmen, nachzukommen. Da veranstaltete das republikanische "Reichsbanner schwarz-rot-gold“ in der Stadt eine Jagd auf die Träger bunter Schülermützen, die immer mit Gebrüll und Gesang sich verkrümelten und, wo’s ging, aus ihren Verstecken wieder auftauchten mit dem Geschrei: „...denn wir wollen keine Judenrepublik, nein, die wollen wir nicht“. Oder mit dem Lied: „Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiss-rotes Band, die Brigarde Erhard werden wir genannt“. Unser Heinz krähte das unablässig mit, bis in unser gemeinsames Arbeitszimmer hinein, wenn unsere Pensionsmutter mal nicht da war. Heinz erzählte, dass sie in der Pause ihren Karl Polak in das Kartenzimmer geschleppt und ihm die Hosen ausgezogen hätten. Was Heinz so lustig fand, erregte in mir bestimmt ein Entsetzen. Allzu gegenwärtig war mir Alfred, Karl war sein Vetter und alles, was Alfred hatte, tat oder sagte, bedeutete viel in unserer Klasse. Sicher wusste ich nicht: würde Alfred beschämt sein oder laut aufbegehren. Einerlei, wir hatten unseren Alfred gern. Den hätten sie mal angreifen sollen, der war flink und wendig und hätte sich mit dem neuen Yiu-Yitsu, von dem er einige Griffe kannte, zu wehren gewusst. Ha! Was war Alfred für eine Sportskanone. Aber Karl war steif und ungelenk, ein Streber und rieche nach Knoblauch, wie unser Satans-Heinz sagte. Leider war ich vor diesem schwach und feige. In meinem stillen Protest hoffte ich also, dass Alfred jetzt mal wegen der schändlichen Behandlung seines Vetters anständig den Mund auftun würde, und ich würde ihn dabei unterstützen, wie es denn auch kam. Parteinehmen für Alfred war sowieso und für alle in der Klasse Ehrensache. Sein Ansehen war überragend.

Mir scheint heute, dass es von Alfred subtile Klugheit war, dass er sich als Isrealit ausgab, wenn nach Konfession gefragt wurde. Und ich erinnere mich, dass Alfred eine besondere Ausstrahlung gewann, wenn im Englischen oder Geschichtsunterricht von dem Englischen Prime-Minister Lorde Disreali die Rede war, der England im Zeitpunkt seiner grössten Macht in der Welt vertrat und sogar die Ägypter, die seine Stammesväter, die Kinder Israel , vertrieben hatten, nun quasi regierte.

Bedauerlich, meine ich, dass sich immer mehr das Wort "Jude“ eingebürgert hat. Das hängt doch sehr an dem "Judas“, und das war doch nur ein einzelner und nicht der beste aus den Reihen der Kinder Israel, dem Gottesvolk mit seinem grossen Moses und den Propheten. Auch Judäa war nachher doch nur ein Teil des Stammesstaates. Karl Polak hat dann aber unbehindert die ganze Schule durchlaufen können. Nach den Morden an Erzberger, der fälschlicherweise in Norddeutschland als Jude hingestellt wurde, und an dem Außenminister Walter Rathenau, Morde also von der Hand von Offizieren, für die sich die höhere Schuljugend begeistern liess, ebbte die Judenhetze an unserer Schule ab. Unser allgemein vereehrter und sehr respektierter Direktor war Dr. Otto Müller, ein Demokrat und Freimauerer der Loge vom „Goldenen Hirschen“. Die Entpolitisierung war jedenfalls sein Verdienst mit, denn die Lehrerschaft und die grösseren Schüler, die Abitur machen wollten, hatten sich doch etwas nach ihrem "Direx“ zu richten. Im Trend einer Heraufkunft des Nationalsozialismus stand allerdings das Real-Gymnasium, wo ein Direktor Bortfeld, Landtagsabgeordneter der Deutsch-National Volkspartei, die nationalen Wogen hochschlagen liess und patriotische Reden führte. Nach der Kristallnacht soll er allerdings als Humanist pflichtgetreu von einer Schande gesprochen haben, was ihn nicht daran hinderte, Parteigenosse der Nazis zu bleiben. Das eigentlich Humanistische oder Alte Gymnasium im ehemaligen Prinzenpalais hat als erstes, d.i. Standes- und Bildungsinstitut, schon höchst unrühmlich 1922 eine Hakenkreuzfahne gezeigt. Der Fall, der anlässlich eines Besuches von Reichspräsident Ebert war, kam immerhin im Landtag zur Sprache. Bortfelds sind hier ganz ruhmlos mit zwei oder mehr missratenen Söhnen (nach Volksmund Art) von der Oldenburger Bildfläche verschwunden, während Müllers noch mit zwei jetzt auch schon pensionierten Kinder und sechs Enkelkindern zumeist in gehobenen Stellungen alle da sind.

Doch zurück zu den Polaks in unserer Oberrealschule. An unserem Alfred machte es uns schon sehr früh grossen Eindruck, dass er fest entschlossen war, einmal Medizin zu studieren. Er besass Kahn’s "Menschenkunde“. Das hat unserem Biologielehrer Dr. Onken sehr imponiert, wie ich es heute noch vor Augen habe und so auch den Namen des Autors von dem grossen Buch behalten habe.

Alfred studierte dann auch Medizin und musste darauf in die Schweiz gehen. Von dort schrieb er mir mal und bedankte sich, das ich mich so um seinen Bruder Erich kümmere. Davon später. Als Arzt hat Alfred den Spanischen Bürgerkrieg auf seiten der Republikaner mitgemacht und ist schliesslich mit nach Frankreich entkommen. Die Franzosen, gemäss einem Abkommen mit den Nazi-Besatzern im Norden des Landes, lieferten Alfred mit den Leuten der Internationalen Brigade und Rotspaniern an die Nazis aus. Alfred ist alsdann erschossen worden. Von wem, ist klar.
Nachtrag: Wer es womöglich gewesen ist, davon später.

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Kommentare (4)

george vielen Dank fuer Deinen Kommentar.
Ja, die Erzaehlung ist von meinem Vater, richtig.
Die Toechter der grossen Hoefe waren auch damals noch nicht zur Bildung bestimmt.
Die kamen nach der normalen Schule auf andere Hoefe bzw. in "bessere" Familien, wo ihnen beigebracht wurde, wie man als Bauersfrau den entsprechenden Teil eines Hofes bewirtschaftet. Danach wurden sie dann meistens arrangiert verheiratet, immer nach der Praemisse : Land zu Land und Geld zu Geld.

Ich habe mal in meine Bildersammlung aus der Zeit geschaut und da sind sehr wohl Maedchen in den Klassen.
Bei meinem Vater 1926, 3 Jahre vor dem Abitur, 8 Maedels und 23 Jungen
Bei meinem Onkel ca. 1932 in der Sexta 15 Maedels und 24 Jungens
jedoch beim Abitur meines Onkels, 16 Jungens und keine Maedels.
Die Maedchen kamen wohl ueberwiegend aus Beamten-, Lehrer- und/oder Pastorenfamilien und "machten" auf dem Gymnasium den "Einjaehrigen" etwa gleichbedeutend mit der heutigen Mittleren Reife = Abschluss 10. Klasse.

Franz Radzewill war Nazi-Kader und das ist an ihm sein ganzes Leben haengengeblieben.
Ich weiss nun nicht, ob er sich zur Nazizeit auch an Denunziationen beteiligt hat aber irgendetwas muss da gewesen sein, denn sonst waere er in seiner naeheren Umgebung (Dangast, Jade/Weser-Muendung) nicht so lange so schroff abgelehnt worden. Er hat sich ja distanziert aber etwas beruhigt hat sich das erst wohl gegen sein Lebensende.

Ein Gegenbeispiel zu Radziwill ist August Hinrichs, der NSDAP-Mitglied war und in der Reichsschriftumskammer taetig wurde.
Hinrichs hat seine kuerzlichen Kritiker mit seinem Lebenswerk "erschlagen".
Die Oldenburger lassen nichts auf ihren Ehrenbuerger August Hinrichs kommen.
Mein Vater hatte die Kritik noch miterlebt und ueber den Verfechter der Kritik nur den Kopf geschuettelt, er kannte ja auch dessen Hintergrund.

Auch Dir liebe Medea wuensche ich
Ein Frohes Weihnachtsfest und Ein Gutes Neues Jahr 2010
verbunden mit lieben Gruessen aus Saigon
George
george vielen Dank fuer Deinen Kommentar.
Es ist nicht meine Zeitgeschichte sondern diejenige meines Erzeugers / meines Vaters.
Seine Erzaehlung liegt tatsaechlich als Buechlein vor (1/2 DIN A4 und 55 Seiten), das er im Selbstverlag (so nennt man das glaube ich) in begrenzter Auflage fuer Verwandte und Bekannte hat binden lassen. Ich habe ein Rest-Exemplar davon hier in Saigon und habe das im Jahr 2005 abgeschrieben / digitalisiert.
Auch Dir wuensche ich Ein Frohes Weihnachtsfest und Ein Gutes Neues Jahr 2010 verbunden mit lieben Gruessen von Saigon nach Hessen
George
Medea ich vermute verfaßt von deinem Vater, habe ich mit
Spannung gelesen, sie haben mir große Einblicke gewährt
in unsere jüngere Vergangenheit, ich habe mir ein sehr
gutes Bild machen können, auch über die Schulerziehung
der Söhne von den großen Höfen des Umlandes, die dazu
Bleibe in der Stadt finden mußten.

Mich interessiert da allerdings auch, ob eine ähnliche
Schulbildung den Töchtern der großen Höfe zuteil wurde.
Darüber wirst du auch etwas sagen können.

Interessant, was über Franz Ratzewill in den Erinnerungen
zu lesen ist, meines wissens nach hat er sich wohl später von den Nazis
distanziert - in unserem Rathaus hängt sein großes Bild
"Bremens Klage", erschütternd realistisch gestaltet.

Meinen herzlichen Dank für diese autentischen Berichte,
gerade auch die Familie Pollak betreffend.

oessilady Hallo George,deine Zeitgeschichte aus dieser Ära zu lesen ist wie in einem Buch zu blättern.
gibt es dieses Buch auch mit allen anhängenden Seiten deiner Geschichte.Da zeigt sich schon dein Schreibtalent !

Ich freute mich sehr, von dir wieder was zu lesen.
Wünsche dir eine etwas stillere Zeit vor Weihnachten ,ein besinnliches Fest
und für das neue Jahr viel Erfolg in allem was du machst. Herzliche Wünsche berta(hessen)

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