Biographische Zeit- und Personenbilder 1915 – 1981 Kapitel 5


Literaturbetrachtungen


Ein weiteres Motiv auch, dass ich gestern angefangen habe, aufzuschreiben, ist sicherlich die Lektüre von Elias Canetti. Ich lese zur Zeit in seinen 2 Bänden Jugenderinnerungen und bilde mir ein, das müsse ich auch können. So ungekünstelt das geschrieben ist, sehe ich nach dem bisher hier Gesagten ein, dass ich es nie dazu bringen werde. Ausladende Weitschweifigkeit gereicht dem Canetti wunderbarerweise zum Vorteil, und wenn der Kritiker Joachim Günther lobend darauf verweist, wie Canetti eigentlich nur in leisen dramatisierenden Stössen erzählt, so ist das richtig. Jeweils ist es eine Person, eine Konstellation, ein Ereignis, eine Lebenswende, die im Mittelpunkt stehen. Und dann der mit Emotionalität bis zum Rande gefüllte Geist bei Canetti. Dagegen nimmt sich mein Bericht mit den, wenn auch nicht geringen Fakten und auch nicht ohne etwas vom Drama des Lebens drin, in seiner Kürze eben nur dürftig aus. Ausserdem stimmt’s, aber lesbarer ist nun einmal der Roman als Dichtung und Wahrheit in geschickter Komposition. Schon darum ist eine kleine Privatvervielfältigung jedenfalls das Gemäße, mehr kann das nicht geben.

Dann habe ich hier am Orte noch das Vorbild des Dr. Jur. Steinhoff, der im Ruhestand seine Kindheits- und Jugenderinnerungen schrieb. Die wurden allerdings so gut, dass man ihn bedrängte, sie drucken zu lassen. Im Winter 1980/81 wurde „Das Seilerrad“, wie er seine Erinnerungen aus dem Handwerkerhaus, wo er aufgewachsen, nannte, hier regional zum Best-Seller. Nach meiner Auffassung blieb das Buch trotzdem völlig unterbewertet, wenn ich die Reaktionen der paar Rezensenten und des wohl überwiegend neugierigen Publikums so sehe. Die 1.000 Feinheiten im Erzählerstil, die leise Ironie und die zeitgeschichtlichen Merkwürdigkeiten sind den Leuten meistens gar nicht aufgegangen (wohl aber die etwa 10 kleinen Fehler, die dem 85jährigen Autoren untergeschlüpft sind). Canetti hat jetzt doch wenigstens noch den Nobel-Preis bekommen, aber Steinhoffs neueste Produktionen wie die Übersetzung von "Atalanta in Calydon“ blieb im Privatdruck stecken, und für seine zwei Katzengeschichten, die klassisch sind, reichte es nicht weiter als bis zu einem Geschenk für seine Urenkel.

Steinhoff ist alter Freimaurer und Niemals-Nazi, darum gleich nach dem Krieg auch zum Oberbürgermeister eingesetzt worden, um danach noch einige hohe Ämter und Ehrenämter zu bekleiden. In puncto Juden ist Steinhoff sehr ansprechbar. In der kleinen Handwerkerstrasse seiner Kindheit wohnte der „kleine“ Schwabe mit einem Manufakturwaren-Laden, während der „grosse“ Schwabe eine Treibriemenfabrik hatte. Vor nicht langer Zeit hat ein Sohn des kleinen Schwabe, der mit 14 Jahren emigrierte und jetzt Professor Dr. Arthur Schwabe in Los Angeles ist, unseren Steinhoff besucht. Mit den Kindern des großen Schwabe, der eine Engländerin geheiratet hatte, ist es nicht so glücklich verlaufen. Eine geb. Schwabe aus dem Familienzweig ist mir unerklärlicherweise sogar böse. Wer wird sonst noch böse sein?? Fahren wir unverfroren fort!! Zu den Erfahrungen, die ich schon so früh in meiner Jugend mit Antisemiten machte, gehören auch meine Kontakte zu zwei Freunden der oberen Schulklassen. Die waren von der völkischen Idee echt ergriffen, nur so gepackt, als man Hitler kaum kannte. Sie leben beide noch, beide mit vollendetem Studium der Germanistik, beide plem-plem, und beide liegen der öffentlichen Fürsorge seit 30 (!) Jahren zur Last.

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