Blaue Briefe

Fünf Jahre nach dem Tod meiner Mutter 1951 heiratete mein Vater 1956 ein zweites Mal. Einerseits wollte der Mittvierziger selbst wieder eine Frau, andererseits sah er wohl auch, dass es den mutterlosen Haushalt mit drei halbwüschsigen Töchtern zu bewältigen, seiner eigenen Mutter, meiner Oma, wenn auch mit einer Haushaltshilfe, nicht so mühelos gelang, wie er es sich wünschte. Vor allem unsere Große störte permanent Omas Familienregeln. Und unser Vater, ein Mann in seinen Vierzigern, hat ja eben auch noch Bedürfnisse ...

Diese Situation - als Zwölfjährige/r plötzlich einem zuvor nie erlebten Vater (sein Vater fiel im Krieg, als er ein Jahr alt war) und drei Schwestern gegenüber zu stehen, oder wir Mädchen nun eine Stiefmutter sowie ihren mir gleichaltrigen Sohn als Bruder zu akzeptieren - war für alle Kinder der neuen Familie nicht einfach. Erst einmal belastete uns zwei Gleichaltrige es sehr, dass wir uns nun mit uns eigentlich fremden Geschwistern abzufinden hatten. Wir waren beide auf die gleiche Schule gekommen. Mich hatte man zuvor dafür vom Gymnasium abgemeldet, an dem ich bereits die Sexta absolvierte. Es gab ja nun zuhause wieder eine "Mutter" ... und vor allem einen gleichaltrigen Bruder, dem man keine "höher gebildete Schwester" vor die Nase setzen wollte!  Doch das machte es den Elffjährigen nicht einfacher.

Hinzu kam noch, dass die Stiefmutter es (natürlich) durchsetzte, dass ihrem Sohn gestattet wurde, sich zu den Mahlzeiten mit seiner Portion in sein Zimmer zurückzuziehen, während die Familie am Tisch im Esszimmer speiste. Das ist nicht wirklich schlimm, aber es betonte, dass dieser junge Mann seine vorherige Familiensonderrolle beibehalten durfte! Ihm wurde halt für alle sichtbar eine "Extra-Wurst" zugestanden! Täglich serviert zu bekommen, dass der Bruder von seiner Mutter die liebevoll zubereiteten Brote auf sein Zimmer gestellt bekam, während wir Mädchen den Esszimmertisch zu decken hatten, uns unsere Brote selbst zubereiten mussten oder durften, um auch anschließend alles wieder in die Küche zu räumen hatten, spülten und abtrockneten, sorgte schon innerliich für eine gewisse Portion Groll. Lauthals ließ er wissen, er sei doch kein Mädchen, das im Haushalt helfen müsse und ließ demonstrativ einen Teller, den er abtrocknen sollte, auf dem Boden zersplittern!

Daher war es nur zu verständlich, dass folgende Geschichte mir heimliche Genugtuung gewährte: Es war an einem ziemlich schwülen Sommerabend, dass sie ihrem Sohn die Leberwurstbrote in sein Zimmer stellte. Er hatte sein Pfadfinder-Treffen bis 19 Uhr, kam daher erst nach unserem gemeinsamen Abendbrot wieder, natürlich hungrig, nach Hause. Die Leberwurst vertrug offensichtlich die schwüle Wärme so gar nicht, schmeckte aber wohl noch nicht verdorben Der Junge aß mit gutem Appetit und erlebte dann, dass die Fürsorge seiner Mutter nicht unbedingt gut gewesen war. Ich lernte intensive Schadenfreude kennen! Er lernte, sich zukünftig pünktlich am Abendbrottisch einzufinden!

Der Wehrmutstropfen für meinen Vater war allerdings, dass meine Stiefmutter sich gynäkologisch hatte untersuchen lassen und der Arzt oder seine Sprechstundenhilfe verwechselte danach Mutters Akte mit der Akte einer anderen Frau, der aus gesundheitlichen Gründen die Gebärmutter herausgenommen werden musste. Stattdessen wurde dann irrtümlich meine Stiefmutter operiert und damit war der Wunsch nach männlichem Nachwuchs für meinen Vater dahin! Denn ehe diese Verwechselung erkannt wurde, hatte sie die Sectio hinter sich! Unser Vater adoptierte zwar ihren 12-jährigen Sohn, aber der war nicht sein Fleisch und Blut. Zum Glück verstanden sich die beiden Männer ausgesprochen gut! Was allerdings die Heiratswünsche unserer Eltern anging, so wurden die nicht erfüllt: Wir heirateten beide eine/n Andere/n. Mein Adoptivbruder verliebte sich zum Glück in eine Friseuse und somit war "der Salon" gerettet. Zuvor hatte meine ältere Schwester alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgeschöpft, diesen "Fremdling" zu verteufeln, versucht, auch unsere jüngste Schwester auf ihre Seite zu ziehen. Aber das Leben nahm seinen Lauf.

Es waren einige schwierige Jahre, dann lernte unsere Große (damals 19)  ihren Zukünftigen kennen, konnte somit dem Wunsch unserer "neuen" Eltern entkommen, den viel jüngeren Bruder (Mitte 20) unserer erst 35-jährigen Stiefmutter zu heiraten. Der "Stiefonkel" folgte einem Angebot seiner Zeitung, seinem Arbeitgeber, und wanderte nach Windhuek, Südwestafrika aus.

Es war für uns beide ein Glück, dass unser Adoptivbruder seine spätere Frau kennenlernte. Sie entstammte ebenfalls einer Friseursfamilie aus dem städtischen Umland und ich war frei, den Mann zu heiraten, der "Gott sei Dank" kein Friseur war! Ich hatte mich ja schon - anders als meine Geschwister - gegen diesen Beruf entschieden, lernte in der Tanzschule einen Optiker kennen und mein Vater akzeptierte ihn, weil ich ja die einzige "Brillenschlange" in der Familie war. Ich hatte stets im Kopf, wenn ich meinen Adoptivbruder hätte heiraten müssen, ich wäre neben ihm - dem Friseur-Chef - wohl eher zur Chef-Putzfrau degradiert worden. Und unserer Jüngsten stand nun ebenfalls frei, ihre Berufswünsche zu verwirklichen.

Und obendrein war mir mein eigener Wunsch, auf jeden Fall KEINE Friseuse zu werden, wichtiger. Doch stattdessen Germanistik zu studieren, verhinderte mein Vater bewusst:"... Mädchen heiraten sowieso, du brauchst kein Abi und kein Deutsch zu studieren!" Dass der Adoptivsohn lieber Ingenieur geworden wäre, wurde ihm geflissentlich wohl auch ausgeredet! Sein Opa redete mit Engelszungen auf den Enkel ein, doch ja den Friseursberuf zu ergreifen! Einen der bestgehendsten Salons unserer Stadt zu übernehmen, damit konnte er sich jedoch ins "gemachte Nest" setzen, dieses Schicksal akzeptieren. Er musste seine Lehre nicht im elterlichen Salon absolvieren, sondern wurde auf eine Fachschule im Taunus geschickt. Ich denke, er war vermutlich gut beeinflussbar, denn seinen eigentlichen Berufswunsch begraben zu haben, ließ er sich nie anmerken ... Und so weit ich weiß, hätten meine beiden Schwestern niemals unter ihm als Chef im elterlichen Salon gearbeitet!

Während der Adoptivbruder seine Lehre im Taunus absolvierte, machte meine jüngere Schwester zuhause ihre Friseurlehre, um sich direkt danach als Haushaltshilfe in der Familie einer ihrer Kundinnen zu verdingen. Drei Jahre später hatte ihr Zukünftiger sein Kunststudium beendet, fand Arbeit und sorgte nun dafür, dass seine Liebste auch ihr Grafik-Design-Studium machen konnte. Es liegt wohl in unserer mütterlichen Seite der Familie, denn nicht nur meine jüngere Schwester fand in diesen Beruf, auch meine Tochter hat sich in dieses Metier eingefunden und weiß es weidlich in Verbindung mit weiteren Fähigkeiten gut zu nutzen!

Dass es so kommen konnte, liegt auch daran, dass ich mich den Wünschen meines Vaters widersetzte und mir schwor, keinem meiner Kinder je Berufe aufzudrängen, nur weil sie im Familienbetrieb genutzt werden könnten. Vererben einer eigenen Firma mag ja oft in Ordnung sein. Doch die eigenen Kinder in die eigene Firma zu zwingen - fürs Leben vielleicht unglücklich zu machen - würde ich nie akzeptieren. Es gibt eben auch andere Möglichkeiten!
 


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