Boinnnng

Boinnnng
Meinen Opa Paul werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen, denn er war mein bester Freund.
Das war nicht von Anfang an so. Denn in meinen ganz jungen Kinderjahren spielte er gar keine Rolle. Und meine älteren Geschwister sowie Cousins und Cousinen malten kein Bild eines Opas, den man gern haben konnte. Er war eigenbrödlerisch, mürrisch, wollte immer seine Ruhe haben.
Aber als ich sieben Jahre alt war, anläßlich eines Familienbesuches bei den Großeltern, veränderte sich unser Verhältnis ganz schlagartig.
In meiner Gegenwart erörterte meine Mutter an der Kaffeetafel mein neuerdings ungebührliches Verhalten. Sie erzählte, daß ich seit wenigen Wochen in die Kinderchristenlehre gehe und der Pastor sich über mich beschwert habe, weil ich den christlichen Glauben nicht ernst nehme und statt dessen im Religionsunterricht nur Unfug treibe.
Ich sagte trotzig: "Ich will nicht mehr in die blöde Kirche." Meine Mutter wies mich scharf zurecht, mein Vater blickte mich streng an. Meine Oma: "Junge, wenn du so bockig und ungezogen bist, dann wird dir der Osterhase in diesem Jahr nichts bringen."
Worauf ich noch böser reagierte und ausrief: "Es gibt keinen Osterhasen und ich will auch gar nichts haben."
Gleich würde ein Donnerwetter über mich hereinbrechen, aber ich war auf alles gefaßt.
Opa Paul, der bisher nur gelangweilt zuhörte und während des Kaffeetrinkens in einer Literaturzeitung blätterte, schaute mich plötzlich mit Interesse und mit einem eigenartigen Lächeln an. Es war kein richtiges Lächeln, jedenfalls lächelte nicht sein Mund, aber seine Augen lächelten, diese sympathischen "Krähenfüße", diese Falten an den Augen, die ich im Nachhinein so liebte.
Er legte die Zeitschrift beiseite und er räusperte sich. Er genoß große Autorität in der ganzen Familie. Er  sagte so selten etwas, aber wenn er sprach, dann hatten seine Worte Gewicht. Und jetzt sprach er: "Laßt mal den Jungen in Ruhe, der ist schon in Ordnung."
Dieser Satz war für meine Eltern und die Oma. Und sie wagten nicht, irgendetwas zu erwidern. Und dann wandte er sich an mich: "Weißt du was? Wir machen mal einen Spaziergang zum Heger. Und da unterhalten wir uns von Mann zu Mann."
Er trank seinen Kaffee aus und sagte: "Komm!"
Wir gingen zwei Stunden spazieren, meine kleine Hand in seiner großen. Es begann eine wunderbare Zeit, eine echte Freundschaft. Kein Verhältnis zwischen Großvater und Enkel. Er behandelte mich von diesem Tage an wie seinesgleichen, sprach zu mir wie zu einem Erwachsenen. An diesem Tage muß er sich selbst in mir gesehen haben. Ich glaub, so richtig mochte er nur sich und mich.
Ich weiß nicht, ob ich alle meine Eigenschaften von ihm übernommen habe? Oder ob sie im Keim schon in mir waren?
Oder ob ich sie von ihm genetisch geerbt hatte?
Ist auch egal. Mein Opa liebte mich von diesem Tag an und ich liebte ihn.
Ich hörte ihm so gern zu, und er sprach sehr viel, und ich konnte ihm auch alles erzählen, alle meine Gedanken und Träume.
Ich war der einzige, der von nun an ungefragt sein Arbeitszimmer betreten konnte. Das durfte nicht einmal die Oma. Alle seine vielen Bücher standen mir frei, er zeigte mir alles, erklärte mir alles. Von ihm übernahm ich die Liebe zur Philosophie, zur Geschichte, zur Völkerkunde. (Damals wußte ich noch nicht, daß ich derjenige sein würde, der einmal alle seine Bücher und Aufzeichnungen erben würde.)
Aber das wichtigste war etwas anderes, und ich glaube, das wollte er mir beibringen, die Kunst zu leben, mit geringstem Aufwand das größte Lebensglück zu erreichen.
Aber warum gab er sich nicht diese Mühe bei allen anderen Familienmitgliedern?
Ich glaube es jetzt zu wissen. Sie hatten dazu nicht die Voraussetzungen, sie waren zu verwachsen, verkrustet, verdorben durch Gesellschaft und Umstände. Bei mir erkannte er die gleichen Fähigkeiten, die er selber besaß. Und das gab seinen letzten vier Lebensjahren noch einen zusätzlichen Sinn und ein gewisses Vergnügen.
Was soll ich noch sagen? Mein Opa war der allergrößte Trickser. Und er lehrte mir folgendes:
Dein Glück liegt in deiner Hand. Sicher ist das Leben ein hartes Pflaster, jeder will dich übers Ohr hauen. Du kannst dem aber ausweichen, oder du kannst es üben, dich nicht austricksen zu lassen. Und selbst wenn du ausgetrickst wurdest, dann solltest du deinem Gegner dankbar sein und ihn noch belohnen, weil er dir eine wertvolle Lektion erteilt hat.
Immer wenn ich Schulferien hatte, fuhr ich zu meinem Opa Paul. Und diese Besuche waren für mich wertvoller und lehrreicher als die gesamte Schulzeit.
In seinem letzten Lebensjahr, er war bereits 80 und ich 10 Jahre alt, begannen wir uns im austricksen zu üben. Es waren keine harmlosen Streiche, sondern wirkungsvolle, fast unter der "Gürtellinie des Zumutbaren und Erlaubten". Wir zählten unser Erfolge. Bei jedem gewonnenen Streich rief der Sieger ein langes "Boinnnng". 1:0 für Opa, 2:0 für Opa, 2:1, 2:2 unentschieden; 2:3  für mich ...
...
Ein Jahr später, ich war 11 Jahre alt , holten mich meine Eltern vorzeitig aus der Schule und ich erfuhr, daß wir zum Opa fuhren. Die ganze große Familie traf sich dort. Alle betreten und mit verweinten Augen. Opa Paul lag im Sterben. Wir saßen alle in dem großen Wohnzimmer, nacheinander ging jeder in das Arbeitszimmer des Großvater, wo er lag, um sich von ihm persönlich zu verabschieden. Die Reihenfolge bestimmte er selbst, in dem er jedem beim Abschied sagte, wer als nächster zu ihm kommen solle. Es dauerte lange, denn wir waren eine große Familie. Nicht daß es mir langweilig war. Ich dachte so viel an ihn, bei unserer Austrickserei stand es 7:6 für mich. Gern hätte ich ihm den Sieg gegönnt, oder zumindest ein Unentschieden.
Ob er mich überhaupt noch sehen will?
Es dauerte alles so lange, daß ich gar nicht mehr daran glaubte. War ja auch egal. Obwohl ich meinen lieben Opa gern noch gesehen und vielleicht gesprochen hätte.
Nun kam Onkel Fred aus dem Sterbezimmer und nannte meinen Namen. Ich schrak auf. Auch andere der Verwandten waren verwundert, daß ich als 11-jähriger schon dran war. Meine Mutter ermahnte mich noch schnell, mich angemessen zu benehmen. Ihr war es gar nicht recht, daß ich dort alleine reingehen sollte, denn sie kannte meine Unarten.
Ich freute mich, zum Opa zu dürfen und vergaß ganz, daß er im Sterben lag.
Ich trat an sein Bett, sah ihn an, erst ernst dann lächelnd. Er sah schwach und alt aus. Aber er lächelte mich auch an, weniger sein Mund, mehr seine Augen mit den typischen Krähenwinkeln. Und seine Augen sahen jung und verschmitzt aus wie immer, wenn ich bei ihm war.
"Schön, daß du da bist mein Junge." Ihm fiel es schwer zu sprechen. Aber wir mußten auch nicht viel reden.
Er berührte meine Hand. Und es tat ihm gut, daß ich bei ihm saß und daß wir schwiegen.
Dann fragte er: "Wie steht unser Wettkampf?"
Gern hätte ich gelogen, aber er wußte es ja selbst, und ich sagte: "7 zu 6".
"Für dich?"
"Ja."
"Das werden wir nun nicht mehr ändern können, oder?"
"Nein."
Ich fühlte, daß meine Zeit schon längst um sein mußte, die anderen waren viel kürzer bei ihm. Mir war es recht, aber sicher würde er mich gleich rausschicken, damit sich der nächste Verwandte von ihm verabschieden könne.
Er nickte seufzend und sagte: "Tust du mir noch einen Gefallen bevor du nun gehst?"
"Natürlich, Opa."
"Mir sind zwei Tabletten heruntergefallen, sie müssen unter dem Bett liegen. Schaust du mal bitte nach?"
Das tat ich natürlich gern. Ich kroch unter das Bett und suchte und suchte, fand aber nichts.
"Na, hast du sie?"
"Nein, ich sehe keine."
"Suche weiter, ich brauch sie unbedingt. Vielleicht in den Parkettritzen, such nur."
...
Die Verwandten im Wohnzimmer wurden langsam ungeduldig, bis sich endlich die Oma und meine Mutter erdreisteten, vorsichtig die Tür zu öffnen und nach dem rechten zu schauen.
Aber sie sahen mich natürlich nicht. "Was ist denn hier los?" fragte die Oma.
Und ich hörte, wie der Opa über mir sagte: "Siehst du, ich liege hier und sterbe. Und der Junge?...
Spielt die ganze Zeit unter dem Bett."
Schon kam meine Mutter angestürzt und zerrte mich unter dem Bett hervor und zog mich aus dem Zimmer. An der Tür drehte ich mich noch einmal zu ihm um.
Mein Opa zwinkerte mir zu, und seine Lippen formten ein schwaches
"Boinnng."
Kurze Zeit später war er tot. Alle weinten auf seiner Beerdigung. Ich mußte ständig mein innerliches Grinsen verbergen. Hatte er mich also doch noch einmal ausgetrickst und das Unentschieden erreicht...
 
 


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Kommentare (6)

HeCaro

Eine berührende Kindheitserinnerung, 
mit viel Gefühl erzählt. 

Danke und liebe Grüße,
Carola 
 

Muscari


Schon heute morgen sah ich den Titel der Geschichte und nahm mir vor, sie erst zu lesen, wenn ich die Muße dazu hätte.
Und nun bin ich tief gerührt von diesem Deinem Opa.
Ihr wart tatsächlich ein Herz und eine Seele, und ich habe den tiefen Grund erfasst, weil mir Deine kindliche Reaktion sehr bekannt vorkommt...
Danke für diesen Beitrag
sagt
Andrea

Syrdal


Eine schöne, herztief gehende Geschichte… Hat mich an meinen wunderbaren „kleinen Opa“ erinnert.

Danke sagt
Syrdal
 

ehemaliges Mitglied

Lieber dunkelgraf,

mir kamen die Tränen, wärend ich Deine Geschichte las. Du hast das wunderbar geschrieben, ich habe Deinen Opa kennenlernen dürfen,durch Deine Geschichte.

Er hat Dich sicher immer geliebt , er hat nur gewartet, bist du alt genug warst, mit ihm Gespräche zu führen, die Dir immer in Erinnerung sein werden.
Du warst noch jung, unbedarft und offen für alles.
Was er Dir erzählt hat, hast du richtig einordnen können, Du hattest keine Vorurteile ihm gegenüber, Du hattest Vertrauen zu ihm, er war sicher auch ein Mensch, dem man vertrauen konnte. Besonders die Kinder spüren so etwas.

Wenn Du von ihm einige Charakterzüge geerbt hast, kannst Du stolz darauf sein.

Liebe Grüße Brigitte

 

ladybird

so kann ich mich an direkt Lillis Zeilen anschließen,
lieber Dunkelgraf,
auch mich hat Deine Geschichte, Deine Erinnerung sehr berührt, sicherlich gehört  das "Boinnng" stets zu Deinem Leben. Und somit ist Dein Opa auch immer bei Dir
herzlichst grüßt
ladybird

lillii

Danke für diese wunderbare Erzählung Deiner Erlebnisse mit Deinem Opa,
sie hat mich wirklich zu  Tränen gerüht.

LG Lu.


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