Borderline – die kommende Volksseuche

Autor: ehemaliges Mitglied

Wenn der medizinische Laie an Borderline denkt, fällt ihm meist nur ein, dass das Leute sind, die sich selbst Verletzungen zufügen und unberechenbar sind. Was halt so aus gelegentlichen Presse­artikeln hängen bleibt.
Doch was steckt dahinter? Wie funktioniert Borderline? Woher kommt diese Störung?

Wie funktioniert Borderline?
Basis dieser Persönlichkeitsstörung ist eine innere Leere und ein gestörtes Selbstbild. Ohne Selbstbild (Identität) und innere Werte kann der Mensch aber sich selbst und seinen Lebensweg nicht erken­nen bzw. definieren, Vorlieben und Ziele sind unklar und gestört.
Daraus folgen dann je nach Lebenslauf und Umfeld weitere Symptome, wie
•wechselnde, instabile Stimmung
•Schwarz-Weiß-Denken
•Mangelnde Selbstkontrolle
•Impulsives Handeln ohne Rücksicht auf Konsequenzen
•gewalttätiges und/oder explosibles Verhalten, besonders bei Kritik
•unbeständige Beziehungen
•selbst schädigende oder hochriskante Handlungen
•Suiziddrohungen
woraus dann wieder weitere psychische und körperliche Probleme folgen (können).

In der Jugend sind die oben aufgelisteten Sekundärsymptome stärker ausgeprägt, dann lernen viele auch ohne Behandlung mit der Zeit, ihr Verhal­ten gesellschaftsverträglich einzurichten. Letzte­res hat leider auch zur Folge, dass Borderline bei Erwachsenen schwerer zu erkennen ist, so dass sie sich Jahrzehnte oder gar bis ans Lebensende mit ihren inneren Problemen herumquälen und auch andere psychische Störungen entwickeln.
Häufig erscheint die Borderline-Persönlichkeitsstörung dann z.B. als
•zwanghafte Persönlichkeitsstörung
Ein "man tut dies, man tut das nicht, was werden die Leute denken" gibt dann von außen den Halt, den ein Borderliner von innen nicht hat
•histrionische (aufmerksamkeitheischende) Persönlichkeitsstörung
der Borderliner sucht ständig Bestätigung und Sinn von anderen Leuten

Woher kommt diese Störung?
Wie so viele psychische Störungen hat auch Borderline einen erblichen und einen umweltbedingten Anteil. Und (nur) letzterer kann in der Kindheit bei Erziehung und Betreuung beeinflusst werden.

Der Mensch ist ein soziales Wesen (Alfred Adler). Er braucht die Zuwendung anderer, um Bestätigung zu erhalten, um sein Leben als sinnvoll zu empfinden. (Nicht ohne Grund ist
wenn keine/kaum Vorlieben und Ziele vorhanden sind, woher sollen dann Erfolgserlebnisse oder Enttäuschungen kommen, die eine Stimmung auf längere Zeit stabilisieren?
Aus dieser Ambivalenz zwischen den jederzeit austauschbaren Stimmungen entwickelt sich auch eine innere Spannung.
Mangelnde Selbstkontrolle und Impulsives Handeln ohne Rücksicht auf Konsequenzen
Wie bzw. warum sollte jemand Selbstkontrolle entwickeln, wenn sein Verhalten in der prägenden Kindheitsphase kein logisches Feedback erhält?
gewalttätiges und/oder explosibles Verhalten, besonders bei Kritik
dient dem Spannungsabbau, und bei Kritik auch der Verteidigung des ohnehin schwachen Selbstwertgefühls.
selbst schädigende oder hochriskante Handlungen (Schnitt- und Brandverletzungen, Kopf aufschlagen, Drogen, wahlloser ungeschützter Sex, Komasaufen, öffentliche Autorennen, Fahrstuhlsurfen, … )
dient dem Abbau der inneren Spannungen (s.o.), und/oder der Flucht aus der inneren Leere, indem Gefahr oder Schmerz "das Leben fühlen lassen".
•unbeständige Beziehungen
Klar doch. Welcher Partner hält so was auf die Dauer aus.
Suiziddrohungen
Wie bei Depressionen wäre ein Suizid eine verlockende Flucht aus der Sinn- und Wertlosigkeit. [/indent]

Behandlung
Die Behandlung erfolgt in bis zu vier Phasen:
Erste Phase ist die Beseitigung von Verhaltensweisen, die Leben, Gesundheit oder Therapie gefährden. (Suizidneigung, Selbstver­letzung, Aggression, Therapieverweigerung…) Diese Phase erfordert wegen der Komplexität und Intensität ein ganzes Team von Therapeuten.
In der zweiten Phase werden die Ursachen der Störung aufge­arbeitet (Traumata, Vernachlässigung…)
Phase 3 und 4 kümmern sich um Normalisierung und Weiterentwick­lung des Gefühlslebens und sind damit nicht Borderline-spezifisch (und auch keine Leistung der Kassen, die sich nur um "Funktionsfähigkeit" der Menschen kümmern).

Ein wichtiges Element während der ganzen Behandlung ist die Beherrschung der Achtsamkeit, denn nur die wertungsfreie Wahrnehmung von Körper, Gefühlen und Gedanken ermöglicht deren Beherrschung und die Selbstkontrolle.

Gesellschaftliche Entwicklung
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung betrifft zurzeit offiziell 2% der erwach­se­nen Bevölkerung. (In der Jugend 6%, was sich auch mit einer Studie in der USA deckt, die die Prävalenz über die ganze Lebenszeit mit 6% angibt.)
Ich rechne jedoch damit dass dieser Wert in Deutschland auf Grund der aktuellen Familienpolitik noch ansteigen wird.

Wie bereits erwähnt, brauchen Kinder feste Bezugspersonen, die ihnen Zuwendung und Geborgenheit geben, damit sie Urvertrauen, Identität, Werte, … entwickeln. Dafür geeignet sind Menschen, die regelmäßig-zuverlässig da sind und dabei genügend Zeit und Interesse für jedes Kind haben.
Das sind z.B.
•Eltern, wenn sie nicht beide malochen (müssen) und deshalb abends zu sehr geschafft für ihr Kind sind,
•feste Tagesmütter (/-väter) mit maximal ca. 5 zu betreuenden Kindern (Idealbeispiel SOS-Kinderdorf)
Nicht geeignet sind Institutionen,
•mit mehr als ca. 5 Kindern pro Betreuungsperson
•mit wechselnden Betreuungspersonen
•mit Betreuungspersonen, die "nur ihren Job machen" und denen pünktlicher Feierabend wichtiger ist, als die ihnen anvertrauten Kinder
Und da sieht es in Deutschland nach meinen Re­cher­chen ziemlich mau aus. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) stellte im März 2009 fest, dass die aktuellen Betreuungsschlüssel in deut­schen Kindertagesstätten nicht mehr internationalen Standards entsprächen.
"Es gibt einzelne Orte in Deutschland, wo die Krippen gut sind, aber bisher sind das Glücksfälle." (Wassilios Fthenakis, Berater des Familien­ministe­riums)

Langfristig bedeutet die aktuelle Familienpolitik:
Durch Frauenförderung, Lockmitteln wie Krippen, Kinder­tages­stätten, Ganztagsschulen etc. sollen immer mehr Ehepaare zu Doppel­verdienern werden und ihre Kinder in (offensichtlich minderwertige) staatliche Betreuung geben, um einen angeblichen Fachkräftemangel zu beheben.
Der wirkliche Effekt ist kurzfristig, dass durch erhöhtes Arbeits­kräfte­angebot die Arbeitgeber die Löhne drücken können, von denen dann auch noch über Einkommen- und Mehrwertsteuer die zusätzliche öffentliche Betreuung bezahlt werden muss.
Viel schlimmer aber ist der langfristige Effekt:
Durch Mangel an Zuwendung und Geborgenheit in der staat­li­chen Kinderbetreuung werden die psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen zunehmen (und Borderline ist nur eine Art davon). Dies führt dann auch noch zu schlechteren Lern­lei­stun­gen, so dass viele Menschen dieser Generation(en) für die Arbeitswelt nicht nur wegen ihrer Persönlichkeitsstörungen, sondern auch wegen mangelnder Qualifikation schwer zu gebrauchen sind.

Schließlich noch ein Nachwort für ideologisch Verblendete, die auf Länder hinweisen, in denen diese Art Familienpolitik funktionieren soll:
In den Ländern, die mir bisher dazu genannt wurden, ist sowohl die staatliche Betreuung besser, als auch das Verhältnis der Gesell­schaft gegenüber Kindern. Kinder machen dort wesentlich seltener die Erfahrung, dass sie stören, und wenn sie Hilfe brauchen, sind die meisten Menschen dafür aufgeschlossen. Sie können Vertrauen in ihr Umfeld haben. Ich erinnere mich, dass es in Deutschland, in der Nachkriegszeit auch so war, heute dagegen brauchen deutsche Kinder zu ihrer Sicherheit extra ausgewiesene Ansprechpartner, wie z.B. die Notinsel. Wenn Deutschland hinsicht­lich Kinder­freund­lich­keit auch noch so wäre (oder wieder würde) wie diese Musterländer, könnte diese Familienpolitik bei uns funktionieren, ohne den Kindern zu schaden.

Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung
Bessel van der Kolk, ein führender Traumaforscher und -therapeut, bemüht sich darum, eine Diagnose "Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung" in die medizinischen Manuale einzuführen, die mit der Definition der Borderlinestörung nahezu identisch ist.
Mir wäre das ausgesprochen sympathisch. Diese Bezeichnung lenkt die Sichtweise von den Symptomen auf die Ursache und würde sowohl die Behandlung erleichtern, als auch die Bereitschaft, die Existenz der Störung anzuerkennen und sich in Behandlung zu begeben.

Links
Wikipedia
borderline-borderliner.de (sehr umfangreich und verständlich, von einer Betroffenen)
emotion.d
rp-online.de
Wikipedia zu Kinderkrippen
Wikipedia zu Betreuungsschlüssel

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Kommentare (8)

Roxanna stand eine junge Frau, ja fast eher noch ein Mädchen, vor mir in der Straßenbahn, die sich offensichtlich "ritzte". Sie hatte tiefe Wunden an der Innenseite der Unterarme. Ich kämpfte eine ganz Weile mit dem Impuls ihr zu sagen, sie solle sich behandeln lassen. Es wurde so eine Mischung an Gefühlen ausgelöst, wie sich dabei elend fühlen, so etwas zu sehen, auch Ekel oder Mitgefühl für diese offensichtliche Not und andere mehr.

Roxanna
britti Politiker sind auch nur Menschen und rennen oft zweifelhaften Werten nach. Aufklärung und Zeit werden wirken. Wir werden es vielleicht nicht mehr erleben. Kunvivanto, ich verstehe Deinen Frust, er ist auch meiner. Psychische Krankheiten werden menschliche Beziehungen unmöglich machen, spätestens dann (und wir sind ja schon sehr nahe daran)werden wir aufwachen und es anders machen.
ehemaliges Mitglied "viel Arbeit für Psychologen...die sich wohl noch ausweiten wird."

Was nützt die, wenn keine Konsequenzen daraus gezogen werden, weil kurzfristiges billiges Arbeitsvieh für "die Wirtschaft" politisch wichtiger ist, als nachhaltige Entwicklung einer physisch und psychisch gesunden Bevölkerung?
werderanerin nehmen generell psychische Erkrankungen enorm zu und das allein ist schon besorgniserregend...hier müssen vor allem die Ursachen ergründet und individuell behandelt werden, man sollte sich auch fragen, warum gerade auch junge, heranwachsende Menschen schon davon betroffen sind...irgendetwas muss doch falsch laufen in dieser, heutigen Zeit...auf der einen Seite kann man fast alles haben, was das Herz begehrt, auf der anderen Seite aber vereinsamen die Menschen, weil "normale Kontakte" nicht mehr gefragt sind...

Hinzu kommen vor allem auch arbeitsbedingte Überlastungen und kaum noch die Möglichkeit, sich zu regenerieren, weil man vielleicht auch glaubt, immer "verfügbar" sein zu müssen...

Man hat das Gefühl heutzutage, immer Top fit sein zu müssen..., wer "versagt" ist außen vor und das kann ganz schnell passieren.

Ein weites Feld und viel Arbeit für Psychologen...die sich wohl noch ausweiten wird.

Kristine
xenia Danke für diesen umfangreichen und sehr informativen
Beitrag.

Bei mir gibt es im familiären Umfeld einen Menschen
mit Borderline.

Gruß, xenia
ehemaliges Mitglied "Ich denke sogar, dass nicht nur Borderlinefälle anwachsen, sondern ganz generell psychische Krankheiten"

Seh ich auch so. Für die klare Beschreibung der Ursache-Wirkung-Beziehung habe ich mich auf Borderline beschränkt, denn der Aufsatz entstand 28.02.2014 aus einer öffentlichen Diskussion über mangelhafte Kitas in der Südpfalz. Eine noch nicht so sorgfältige, also wesentlich kürzere Fassung ging als Leserbrief an die Lokalzeitung.
britti Dieses Thema ist sehr aktuell.Ich denke sogar, dass nicht nur Borderlinefälle anwachsen, sondern ganz generell psychische Krankheiten wie z.B. auch Burnout, Schizophrenie oder Narzismus. Die Abgrenzung der Krankheiten ist schwierig und JA, nach den Ursachen einteilen finde ich auch richtiger als nach den Symptomen. Nicht nur Kinder werden "vernachlässigt",
auch Erwachsene werden uneinfühlsam und unfair herumgeschoben.
Danke für diesen blog kunvivanto!
ehemaliges Mitglied das ist ein äusserst interessanter und aussagekräftiger Artikel.
Eigentlich würde man sich lieber nicht mit solchen Symptomen befassen, aber leider sehe ich das auch so.
Traurig aber wahr.
Für den Artikel dankt, Agathe

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