CHAT NOIR

 
Nachdem ich den letzten Bus zu meinem Zielort verpasst habe, stellte sich die Frage: Wie verbringe ich diese Nacht in einer fremden Stadt.
 
Ich war noch nie in einem Hotel abgestiegen. Das schien mir etwas für die feinen Leute zu sein. Also entschied ich mich für ein Abenteuer im Rotlichtbezirk. Als Alternative blieb immer noch der Bahnhof, allerdings hatte ich noch nie auf einem solchen übernachtet. „Was soll’s“, sagte ich, und ging in diese Bar unweit vom Bahnhof.
 
Die Leuchtreklame „Chat Noir“ lockte mit grellem Neonlicht. Zögernd trat ich näher. Ich hätte gerne einen Freund als Begleitung dabei gehabt, denn allein in so ein Nachtlokal zu gehen, erforderte Mut. Was will ich eigentlich in dieser Bar, fragte ich mich. Das, was alle wollen? Weiber, Saufen, Abenteuer? Am Stammtisch darüber zu schwadronieren, ist das Eine, es tatsächlich durchzuziehen, das Andere, seufzte ich innerlich und verdrängte meine Bedenken.
 
Ich öffnete die Tür und befand mich sogleich in einer Art Höhle. Ich kniff die Augen zu, um mich an das gedämmte Licht zu gewöhnen. Im Hintergrund hörte ich Musik. Gilbert Becaud besang seine Nathalie. An der Bar saßen Mädchen aufgereiht wie Perlen, dazwischen ein älterer Herr, der seine Hand unter einem Mini-Rock vergrub und mich blöd angrinste. Ich wollte nicht glotzen, aber es gelang nicht. Verdammt, dachte ich, ich wollte doch souverän bleiben und kein so geiler Bock sein, wie der Alte. Jedenfalls nicht so schnell.
 
Ich enterte lässig einen Barhocker und versuchte mich zu orientieren. Dank der Spiegelwand hinter der Bar ließ sich die Szenerie gut beobachteten, ohne sich umzudrehen. Ich bestellte Scotch, Bier schien mir unangebracht. Nach dem zweiten Drink setzte sich eine kesse Kleine zu mir und fragte, ob sie was trinken darf. Ich spendierte ihr großzügig einen Gin-Fizz. Sie drückte ihr Bein an mein Knie und fuhr mit den Fingern an meinem Oberschenkel entlang und flüsterte: „Ich heiße Julia. Und du?“
 
Verkehrte Rollen, dachte ich. Sie tut, was ich eigentlich tun wollte. Ich brachte kein Wort heraus. Dass ich ihr meinen Namen nicht sagte, störte sie kaum. Sie nannte mich einfach Süßer. Meine Sprachlosigkeit deutete sie offenbar als Sorgen. „Komm mit mir, Süßer, ich massiere dir die Sorgen weg“, sagte sie. „Mit ´nem Schampus und ´nem Hunderter bist du dabei.“
 
„Sorry”, sagte ich, „dazu reicht die Kohle nicht.“ Julia machte einen Schmollmund, trank ihren Gin-Fizz aus und stöckelte davon. Ich bestellte noch einen Scotch. Und noch einen. Und haderte mit dem Gedanken, etwas versäumt zu haben. Stunden später rutschte ich vom Hocker und bezahlte mehr, als Julia je verlangt hatte. „Scotch statt Liebe”, murmelte ich deprimiert und verließ schwankend das Lokal. Die frische Luft verstärkte mein Schwindelgefühl. Ewig lang dauerte mein Weg zum Bahnhof.
 
Nur wenige Menschen waren hier: Rucksacktouristen und Nachtschwärmer wie ich, die sich zu später Stunde mit Obdachlosen um einen Schlafplatz auf den Bänken des Bahnsteigs stritten.
 
©  story by ferdinand
@ photo by ferdinand

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Kommentare (1)

Songeur

Chat Noir geht auch ganz harmlos, und (mir) sehr gut schmeckend :

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