Das Ende bei Potsdam - Ein NS-Familiendrama


Caputh ist ein kleiner, fast idyllischer Ort südwestlich von Potsdam zwischen dem Templinsee und dem Schwielowsee gelegen. Nach einem der beiden Gewässer, dem Schwielowsee, ist die Straße benannt, an der das Haus Nr. 64 steht. Hier entdeckte man - wer ist nicht mehr festzustellen - am 27. April 1945 den Leichnam einer jungen Frau und den eines kleinen Mädchens; neben den beiden Toten lagen zwei weitere Kinder, ein Junge und ein kleineres Mädchen, die beide noch lebten. Desweiteren fand sich ein Briefumschlag, der zwei Blätter mit handgeschriebenen Texten enthielt. Auf dem einen Blatt stand zu lesen: „Lieber Papa! Wir warten im Jenseits auf Dich. Die Kinder und ich sind froh hinübergefahren und freuen uns auf ein Wiedersehen. Deine T.“, auf dem anderen: „Liebe Eltern! Wir nehmen heute von Euch Abschied. Ich danke Euch für alles Gute und für alle Liebe. Wir müssen zu unserem Papa“. Darunter hingekritzelt noch drei Namen: „Kurti, Ilse u. Ingrid“. Dem Totenschein zufolge, den der Arzt Dr. Schnürpel ausgestellt hat, handelte es sich bei den beiden Leblosen um die damals 31 Jahre alte Thea S., geb. H., und deren Tochter, die 5jährige Ilse. Ihr Tod, vermutlich durch Gift, sei am 26. April gegen 24 Uhr eingetreten. Die schreckliche Szene im Hause S. - juristisch gesprochen ein sogenannter „erweiterter Selbstmord“ - war Abschluss und Konsequenz einer Lebensführung, die in wesentlichem Maße der Nationalsozialismus bestimmt hatte, der an diesen Tagen in Berlin unter dem Ansturm der Roten Armee in den letzten Zügen lag.

Thea S., das einzige Kind des Apothekers Otto H. und seiner Ehefrau Emma, geb. G., wuchs in einem Dorf bei Gießen auf. In ihrem Elternhaus herrschte eine auf Bürgerlichkeit bedachte Atmosphäre, die sich nach Anspruch und Habitus deutlich von den bäuerlichen, kleinbäuerlichen, handwerklichen und proletarischen Milieus ihrer dörflichen Umgebung abhob. Obgleich „bismarckisch“, also deutschnational gesinnt - eine Tonfigur des Eisernen Kanzlers symbolisch als Schmied des Reiches schmückte auch noch nach dem Krieg einen der Wohnräume -, waren der Apotheker und seine Ehefrau bereits zu Beginn der Nazi-Herrschaft aktiv für die NSDAP tätig, er als Stellvertreter des Ortsgruppenleiters, sie als Leiterin der hiesigen Frauenschaft. Beide wurden allerdings bereits 1934 ihrer Ämter enthoben, der Apothekersgattin versagte man sogar die angestrebte Parteimitgliedschaft. Der Apotheker, so die Begründung des NS-Ortsgruppenleiters in einem Schreiben an die NS-Kreisleitung in Wetzlar, habe „sich gerade in letzter Zeit als reaktionärer Bruder entpuppt, was durch den Verkehr mit diesen hiesigen Kreisen, durch das Verhalten seinem Dienstmädchen gegenüber u. s. w. bestätigt wird“. Welche „hiesigen Kreise“ gemeint waren, geht zwar aus dem Brief nicht hervor; als „reaktionär“ galten in den Augen der Hitler-Anhänger aber vor allem Bürger, die sich politisch das alte Kaiserreich zurück wünschten und denen die Nazis eigentlich zu vulgär waren.

Ein wildes Mädchen

Zurück zu Tochter Thea. Viel ist aus ihrer Kindheit und Jugend nicht überliefert. Das etwas dralle Mädchen besuchte die Volksschule und anschließend bis zur sogenannten Mittleren Reife das Lyceum für Mädchen in Gießen, die spätere Ricarda-Huch-Schule. Danach nahm sie für ein Jahr eine Stelle in der Küche der Universitätsklinik an. Gerne erzählte man im Ort vor Jahren noch von einem etwas anrüchigen Vorfall aus ihrer Volksschulzeit. Sie sei, hieß es, eines Tages durch die Bohlenabdeckung des Schulklosetts gebrochen und in der Jauche gelandet. Der Vorfall muss etwas mit ihrem wilden Temperament zu tun gehabt haben, das ihr alle, die sich noch an sie erinnerten, einhellig nachsagten. Dazu passt auch, dass sie in ihrer Jungmädchenzeit gelegentlich sogar ein schweres Motorrad fuhr, das einem ihrer dörflichen Verehrer gehörte. Zu diesen Verehrern zählte auch ein Forstmann, der heftig aber vergebens um sie geworben hat.

Das alles freilich waren nur Plänkeleien eines jungen Mädchens. Heiratsfähig geworden, verkehrte sie lieber in Studentenkreisen, vor allem mit Angehörigen der Verbindung ihres Vaters in Marburg. Besuchte sie studentische Tanzveranstaltungen auf den Verbindungshäusern, hat dort regelmäßig ihre Mutter telefonisch nach ihr gefragt, was stets den lauten Ausruf ihres Namens nach sich zog. Mit dieser geschickten „Öffentlichkeitsarbeit“ der Mutter blieb Thea nicht ein anonymes blondes Fräulein sondern war unter Marburgs Studenten bald mit ihrem vollen Namen wohl bekannt.

Eine NS-Karriere

In Marburg, Mitte der 1930-er Jahre, dürfte ihr dann der Mann begegnet sein, der fortan ihr Leben und schließlich auch ihr Ende mitbestimmen sollte: der Jurist Kurt S.. Der Sohn eines Arztes, der nach dem verlorenen Krieg 1918 von den Franzosen aus Lothringen „ausgewiesen“ worden war und sich im Saarland niedergelassen hatte, studierte in Marburg, Göttingen und Halle Jura und trat am 1. 5. 1933 der NSDAP mit der Mitglieds-Nummer 22554xx und am 1. Juli 1933 der SS mit der Nummer 1730xx bei. 1937 ist er Gerichtsreferendar in Koblenz, wohin er bereits 1935 aus Halle umgezogen ist. Im Frühjahr 1938 verlobten sich Kurt und Thea, und am 6. August 1938 schließlich wurde geheiratet, in Theas Heimatgemeinde, mit Gästen vornehmlich aus dem Wirkungskreis des Bräutigams, der SS, wie das Hochzeitsbild belegt.

Im Herbst 1938 übersiedelten die Neuvermählten nach Breslau, wo S. als Angehöriger der „Staatspolizeileitstelle Berlin“, also der gefürchteten, von der SS dominierten Geheimen Staatspolizei („Gestapo“), im Dienstrang eines Regierungsrats stellvertretender Leiter der Stapostelle Breslau gewesen sein soll. Hier kam 1939 Kurt, das erste Kind des Ehepaares, zur Welt. Wie lange die Familie in Breslau lebte, ist nicht bekannt. Im September 1941, inzwischen war das zweite Kind, Ilse, geboren, ist S. „zur Zeit Oberleutnant“, ein Hinweis darauf, dass er damals in militärischem Einsatz war; so soll er auf der Krim verwundet worden sein, was auch seine Auszeichnung mit dem „Krimschild“ erklären könnte.

Als das dritte Kind, Ingrid, 1942 in Gießen zur Welt kam,. war das Ehepaar S. am Herkunftsort der Mutter gemeldet. Caputh als Wohnort erscheint hingegen erstmals in einem Brief Theas mit dem Datum 31. 1. 1943. Im Jahre 1944 wird laut Befehlsblatt des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Nr. 16/44 „SS-Sturmbannführer Reg. Rat S. (Potsdam) zur Stapoleitstelle Berlin u. gleichzeitig mit der Vertretung des Leiters beauftragt“. Seine Bezüge betrugen damals brutto 590,79 Reichsmark. Im Februar 1945 befindet sich S. in Füstenberg an der „Führerschule der Sicherheitspolizei“ in einem SS-Ausbildungsbatallion. Seine derweilen in Caputh ausharrende Ehefrau schreibt in einem Brief an ihre Eltern “Wir sitzen hier in der Mausefalle und können nicht heraus“ und ängstigt sich, dass ihr Mann „nicht gar so schnell raus an die Front“ kommen möge, hofft aber wenig später - jetzt inmitten im Hause einquartierter Flüchtlinge aus Küstrin - immer noch, „daß der Krieg bald siegreich zu Ende geht“.

Eine misslungene Flucht?

Was danach folgt, kann wahr sein, ist aber nicht wirklich belegbar: Als sich der Ring um Berlin allmählich zuzog, soll S. seiner Ehefrau ein gepanzertes Fahrzeug besorgt haben, womit sie zusammen mit den Kindern in Richtung Westen aufgebrochen sei. Sie muss aber wieder nach Caputh zurückgekehrt sein. Denn eine Freundin erinnerte sich noch genau an einen Telefonanruf, der sie an ihrem damaligen Arbeitsplatz in Wetzlar erreicht hatte. In dem Telefonat, geführt aus einer öffentlichen Telefonzelle, soll Thea S. zu ihr gesagt haben: „Ich bin nicht rübergekommen, in Hannover haben sie mich gestellt“. Wer soll sie in Hannover „gestellt“ haben und sie und die Kinder in einem Militärfahrzeug unbehelligt gelassen haben? Hat sie wirklich die Elbe zweimal - hin nach Hannover und zurück nach Caputh - überquert? Unumstößlich nämlich bleibt, dass sie sich am 26. April wieder in Caputh aufhielt und man sie und Tochter Ilse am Tag darauf tot in ihrem Hause auffand.

Vergebliche Fahndung nach dem Ehemann

Ob der Ehemann von Thea S., dessen Verbleib bis heute ungeklärt ist, bei den Kämpfen um Berlin gefallen ist, eine Version der Restfamilie nach dem Krieg, oder ob er sich - worüber ebenfalls spekuliert wurde - am Ufer des Schwielowsees erschossen hat, muss offen bleiben. In einer Auflistung ehemaliger Mitarbeiter der Gestapo findet sich auf Platz 2 nach dem Chef der Stapoleitstelle Berlin Wilhelm Bock der Name Kurt S. mit folgender Anmerkung: „Ist am 2. Mai - also nach den Kämpfen - noch in Berlin gesehen worden. Es ist anzunehmen, daß er sich nach Potsdam begeben hat, falls er nicht doch in Berlin festgenommen sein sollte. Ermittlungen werden fortgesetzt“. Seine Schwester Erika, eine Opernsängerin, wiederum will erfahren haben, er sei am Leben und befinde sich in Russland, eine Hoffnung, die sie auch damit begründete, ihr Bruder sei eigentlich für einen Selbstmord viel zu ängstlich. Diese Hoffnung zerschlug sich erst, als 1955 die letzten Kriegsgefangenen aus Russland ohne S. heimkehrten.

Dass der kleine Kurt und seine jüngere Schwester Ingrid das Drama in Caputh überlebten, soll dem Umstand zu verdanken gewesen sein, dass sie das ihnen eingeflößte Gift erbrachen. Sie kamen in ein Kinderheim bei Berlin, von wo sie ihre Großmutter gemeinsam mit einer ihrer Schwägerinnen Ende 1945 per Bahn nachhause holte. Den Aufenthaltsort der Kinder hatte die bereits erwähnte Freundin ihrer Mutter über den Kurier einer Butzbacher Firma erkundet. Die Urnen der beiden Toten wurden auf dem heimischen Friedhof beigesetzt, das Urnengrab ist längst abgeräumt. Als Kurt S. nach Öffnung der Berliner Mauer die Schwielowstraße 64 in Caputh aufsuchte, wo seine Mutter und eine Schwester gestorben waren, er aber das Familiendrama überlebt hatte, sprach er mit einer Nachbarin des Hauses, und die erinnerte sich noch lebhaft daran „wie man die junge Frau und ihr Kind“ seinerzeit tot aus dem Hause trug.

Siegfried Träger



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Kommentare (1)

floravonbistram packt mich, wenn ich von solchen Schicksalen lese. Hast du davon gelesen oder bist du privat mit der Geschichte vertraut?
Danke Flo

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