Das Mädchen und die Tücken der nassen Strasse


Das Mädchen und die Tücken der nassen Strasse

 
Das kleine Mädchen war inzwischen schon etwas grösser und besuchte im Stadtzentrum die Handelsschule. Jeden Tag fuhr es mit dem Fahrrad resp. Velo zur Schule, hatte Unterricht vormittags bis um 11 Uhr. Dann schwingte es sich wieder aufs Rad, strampelte nach Hause, wärmte oder kochte das Mittagessen für den Partner seiner Mutter und natürlich auch für sich selbst, spülte danach das Geschirr und stresste dann wieder in die Schule, wo der Unterricht um 14 Uhr wieder weiterging.

Eigentlich fand täglich der Englischkurs von 11-12 Uhr statt, jedoch erlaubte die Mutter dem Mädchen diese Stunde nicht, weil es dann zeitlich zu knapp gewesen wäre, das Mittagessen auf den Tisch zu bringen und den Abwasch zu machen. Die Mutter arbeitete den ganzen Tag und ass in der Firmenkantine, ihr Partner war Teilinvalide (Asthmatiker) und arbeitete nur vormittags.

Eines Tages beschloss das Mädchen, am Nachmittag nicht mit dem Fahrrad in die Schule zu fahren, sondern mit dem Velosolex seiner Mutter. Was ist ein Velosolex?? Ein Gefährt, das vermutlich in Deutschland nicht zugelassen war. Das ist ein Velo resp. Fahrrad mit einem kleinen Einzylindermotörli, aufgesetzt vorne bei der Lenkstange und trieb das Vorderrad an. Mit einem solchen Velosolex kam man ohne Anstrengung an das Ziel.

Also, das Velosolex der Mutter stand im Veloraum und das Mädchen dachte sich, warum denn nicht mal bequem in die Schule fahren. Dachte es und machte sich auf den Weg. Es hatte Glück, zuvor ergoss sich noch eine grosse Gewitterwolke hernieder, aber die Sonne schien bereits wieder angenehm warm. Ach, wie toll war das denn, so mühelos mit dem Fahrtwind durch die Strassen sausen. Dann kam eine Strasse, die leichtes Gefälle hatte und immer noch klatschnass vom Wolkenbruch war. Im unteren Drittel der Strasse gab es eine Ampel, die gerade Rot hatte und zwei Autos standen dort nebeneinander. Das Mädchen rauschte auf diese Kreuzung zu und begann zu bremsen und bremste und bremste und es geschah nichts. Die Ampel immer noch auf Rot und die Bremsen reagierten einfach nicht – es brauste auf diese beiden Autos zu, schrie ACHTUNG, ACHTUNG ich kann nicht bremsen, worauf zwei Velofahrer hinter den Autos zur Seite hüpften und das Mädchen schrammte zwischen den beiden Autos hindurch!!! Die verursachten Geräusche hörten sich gar nicht gut an, aber es kam wenigstens zum Stehen, als die Autos gerade Grün bekamen und losfuhren. Das Mädchen rief noch schnell durch die Fenster der beiden Autos, «es tut mir sooo leid, aber das Solex bremste einfach nicht bei dieser nassen Strasse». Zur Verwunderung des Mädchens grinsten beide Autofahrer nur und winkten dem Mädchen tschüss, weg waren sie und dem Mädchen schlotterten die Knie! Na, dann fuhr es weiter und das Velosolex machte plötzlich so ein komisches Geräusch wie «pfitpfitpfitpfit» - das Vorderrad lief unrund, weil drei Speichen nicht mehr vorhanden waren. Das Mädchen dachte, «ach du Schande, was mache ich jetzt, wie bringe ich das meiner Mutter bei, ohne dass die Wände zittern und ich im Boden versinke».

In der Schule noch rechtzeitig angekommen, erzählte es einem Schulfreund diese unglaubliche Geschichte. Der Schulfreund, nennen wir ihn Reinhold, meinte zwar, dass das Mädchen grosses Glück hatte und fragte gleich nach dem Geschäft, wo das Velosolex gekauft wurde. Das Mädchen erinnerte sich und so gingen beide zusammen nach der Schule zu dem Geschäft in die Reparaturwerkstatt, wo das Mädchen dem Chef die Geschichte mit der nassen Strasse und den Bremsen, die versagten und den verlorenen Speichen berichtete, und dass es kein Geld habe . Dafür hatte es natürlich eine riesen Angst, dass die Mutter merkt, was passiert war und sie entsprechend toben würde. Vermutlich stand dem Mädchen diese grosse Angst ins Gesicht geschrieben, denn der Chef setzte sofort drei neue Speichen in das Vorderrad, zentrierte und montierte es wieder.
Das Velosolex sah aus, als wäre überhaupt nichts geschehen. Dann meinte der Chef auch noch, «mach, dass du nach Hause kommst – du brauchst nichts zu bezahlen»!! Das Mädchen glaubte zu träumen, aber es war wahr und bedankte sich beim Chef und auch bei Reinhold, denn er war die moralische Unterstützung.

Das Mädchen setzte sich auf das Velosolex und düste auf den inzwischen sehr trockenen Strassen nach Hause und stellte das Velosolex wieder dorthin im Veloraum, wo es ursprünglich mal stand! Zu seiner ganz grossen Beruhigung war noch niemand zu Hause - wie gut war das denn. Etwa 10 Minuten später ging die Wohnungstüre auf und die Mutter kehrte heim. Was für ein Glück doch da mitschwingte!

Jahre später, als das Mädchen bereits eine erwachsene Frau war, aber immer noch Tochter der Mutter (!!), erzählte es seiner Mutter diese verrückte Geschichte. Die Reaktion war: «so, so, davon habe ich nichts gemerkt» - Gott sei Dank!!!
 
Jutta


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Kommentare (9)

U. Petri

Oh je, liebe Jutta,
da hast Du ja in vielerlei Hinsicht Glück gehabt:
zwischen zwei Autos durch, die Dich nicht mal wegen
einer verkratzten Seite angehalten haben -
einen Helfer, der sofort und noch kostenlos reparierte
und das Wichtigste: die Mutter hat nichts gemerkt!!

Die überstandene Angst machte diese Geschichte
sicher unvergesslich für Dich...
und wir dürfen sie schmunzelnd miterleben...

Sei lieb gegrüßt,
Ursula

Boeuf

Guten Morgen Jutta
Das Solex war in Deutschland zugelassen. Ein Freund von mir, der witzigerweise auch Reinhold hiess, besaß ein solches. Es war Mitte der 60er Jahre, an das Gefährt kann ich mich noch gut erinnern. 
Ein guten Morgen nach Basel
Peter

Globetrotter

Liebe Jutta,
da kommt mir dieser uralte Spruch wieder in den Sinn: "wenn du glaubst es geht nicht mehr kommt irgendwo ein Lichtlein her"
Auch bei mir gab es  Menschen wie diesen Werkstattchef, die mir immer mal wieder zeigten das sich das Weiterleben lohnt. Gott sei Dank
LG
globetrotter

Muscari


Na, was war das denn???
Aber hallo! Glück muss der Mensch haben. Tolle Geschichte.
Danke und mit herzlichem Gruß
Andrea

Jutta

@Muscari  
Liebe Andrea,
Wie recht Du hast, Glück auf der ganzen Ebene, mehr geht ja gar nicht! Freut mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat.
Herzliche Grüsse von
Jutta

 

Syrdal


Na wer sagt es denn, es gibt eben doch auch einfühlsam gute Menschen, die selbstlos helfen, wo es dringend nötig ist! Das. liebe Jutta, macht Mut! – Habe die hübsch geschriebene Velo-Geschichte gerne gelesen und konnte die „ungebremste“ Situation, aber auch die bittere Angst vor dem drohenden „Mutter-Gewitter“ beinahe spürbar mitfühlen...

Danke sagt mit Grüßen zum Abend
Syrdal

Jutta

@Syrdal  
Danke, lieber Syrdal.
Weisst Du, der Chef wusste nichts von den beiden Autos. Vermutlich dürfen keine Speichen wegen erfolglosem Bremser verloren gehen, deshalb sorgte er vermutlich so schnell für Ersatz!!???
Aber dieses Geschehnis war damals wirklich ein Alptraum, der gut ausgegangen ist.

Herzliche Grüsse von
Jutta

WurzelFluegel

Ich stelle es mir gerade so bildlich vor, liebe Jutta 😁

Da hast du noch einmal Glück gehabt, würde ich meinen.
Hast du die Aktion auch noch einmal wiederholt? Zutrauen würde ich es dir 😉!

Danke fürs Teilen.

🚲

liebe Grüße
WurzelFluegel

Jutta

@WurzelFluegel  

Liebes Wurzelchen,
Was du mir so alles zutraust 😮😉
Auf dem Velosolex sass ich dann wirklich noch öfters und war flott unterwegs (auch mit dem Fahrrad), aber die Strassen waren stets trocken!!!

Liebe Grüsse von
Jutta


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