Nachdem Elvira ihr wegen des Krieges unterbrochenes Arbeits­verhältnis bei einer Bundesbehörde in Westberlin wieder aufge­nommen hatte, ging es den drei Heidtmanns ausgesprochen gut. Die ständigen Versorgungsengpässe bei Waren des täglichen Be­darfs in der DDR konnten ihnen nichts mehr anhaben, denn sie wa­ren in der Lage, sich mit allem, was nötig war, im Westen zu ver­sorgen. Das einzige Problem dabei stellten die Kontrollen an den innerstädtischen Grenzen dar. Man musste immer darauf gefasst sein, dass einem das soeben in Westberlin Gekaufte von den ostzonalen Zöllnern weggenommen wurde.
Trotzdem genossen Elvira und ihr Sohn die neuen Möglichkei­ten ausgiebig, die der Besitz von Westgeld bot. Sie schlenderten über den Ku'damm, tranken Kaffee bei Kranzler und gingen am Zoo ins Kino. Die Einkäufe erledigten sie im KaDeWe. Walter hatte keine Ahnung, dass dies in Berlin die wohl teuerste Möglichkeit war, sich mit Kartoffeln und Toilettenpapier zu versorgen. Beide Artikel gehörten jedoch zu den Raritäten in Ostberlin und so kaufte Elvira sie eben im Westen, wenn auch überteuert.

Das Leben hätte für Familie Heidtmann nicht besser laufen kön­nen. Die Idylle endete jedoch schlagartig an jenem Sonntagmorgen, als es an ihrer Wohnungstür Sturm klingelte. Oma öffnete die Tür und stand der völlig verzweifelten Nachbarin gegenüber, die unter Tränen berichtete, dass in der letzten Nacht die Grenze nach Westberlin geschlossen worden sei. Es war Sonntag, der 13. August 1961.
Oma und Mutter Heidtmann begannen hektisch Koffer zu pa­cken und auch Walter sollte alles, was er brauchte, einpacken. Er überlegte nicht lange, sondern verstaute sofort seine Karl-May-Bü­cher und die Jerry-Cotton-Romane in dem kleinen, ihm zur Ver­fügung gestellten Koffer.

Als er fertig war, fragte er, warum er den Koffer packen sollte. Die Antwort war, dass es jetzt mit Sicherheit Krieg geben würde, denn die Amerikaner könnten sich das unmöglich gefallen lassen und würden die Ostdeutschen rausboxen. Dann würden die Men­schen wieder in den Keller gehen müssen, um vor den Bomben ge­schützt zu sein, die dann unweigerlich fallen würden. Walter war sich nicht sicher, was schlimmer war: Bomben auf den Kopf zu bekommen oder in dem modrigen, kalten, dunklen Keller zu sitzen, in dem er sich noch nie gern aufgehalten hatte.

Zum Glück reagierte der Westen besonnen und alles blieb fried­lich. Lediglich der Ton gegenüber Pankow, wie die DDR-Regie­rung wegen ihres Wohnsitzes im Ostberliner Stadtbezirk Pankow genannt wurde, verschärfte sich zusehends.
Familie Heidtmann konnte nach ein paar Tagen ihre Koffer wie­der auspacken und Walter bekam nachträglich Ärger, weil er an­geblich das Falsche eingepackt hatte. Dabei hätte es seiner Meinung nach für ihn nichts Besseres als seine Bücher und seine Kriminalromane gegeben, um die Zeit im Keller totzuschlagen.

Aus dem Buch "Onkel Bürgermeister" von Wilfried Hildebrandt


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Kommentare (2)

Syrdal


Nun ja, lieber Wilfried, wer den 13. August 1961 „nur“ so wie von dir geschildert erlebt hat, hat ihn in Wirklichkeit nicht erlebt! Alleine der von dir aufgeführte Satz „Zum Glück reagierte der Westen besonnen und alles blieb friedlich“ zeigt die ganze Unbedarftheit derer, die kaum oder gar nicht betroffen waren und deren Leben unberührt weiter ging. – Doch für mich und für viele Menschen im Land des „real existierenden Sozialismus“ war dieser 13. August ein das ganze Leben bis heute prägender Schicksalstag! – Was er vielfach bewirkt hat, was dann in all den Jahren der „wohlbehüteten“ Eingeschlossenheit folgte und was sich bis heute tagtäglich noch immer auswirkt (und was sich sogar schon wieder lautstark breit macht), wäre einen mehr als spannenden Roman wert. Doch wen interessiert es, wer will so etwas denn lesen, es geht uns ja doch gut
...fragt sich nicht nur
Syrdal

Wilfried

@Syrdal 

Zum Glück darf man heute verschiedene Meinungen vertreten, was man in diesem Land nicht immer ungestraft konnte.


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