Der Alltag und die Politik (1945-1949)


1945: Der Krieg war aus. Die Russen nahmen Berlin und alles ringsum in Besitz. Sie übernahmen Land und Leute. Bis dahin war es so leidlich in der Ernährung und der Kommunikation noch ertragbar bei den Bombenangriffen auf Berlin gewesen. Unheimlich als die Bomber nicht mehr kamen, kein Geschützfeuer mehr zu hören war, die Sirenen erhielten Sendepause. Und auch der Rundfunk brachte nichts mehr. Man verständigte sich mit Boten und von Mund zu Mund Weitersagen. Dass da ein Lager noch zu plündern war, erfuhr man, doch meistens zu spät. Nun war auf einmal nichts mehr da und die eigenen Vorräte gingen rapide zur Neige.

Im Rathaus hatte sich die „Kommandantura“ etabliert. Das Komitee „Freies Deutschland“ versuchte, die Versorgung irgendwie wieder in Gang zu setzen. Teile für einen Lastwagen wurden eingesammelt, um ein Transportmittel für die Überlandfahrten zu haben. Arbeitsfähige Einwohner und Jugendliche über vierzehn Jahren mussten sich jeden Morgen im Hof des Rathauses melden. Sie wurden zu den verschiedensten Arbeiten eingesetzt. Die für den und vom Volkssturm gebauten Panzersperren mussten beseitigt werden – das Holz fand schnellen und reißenden Absatz. Da wurden alle Gleise bis auf eines demontiert, alles transportfähig eingesammelt und abgeschleppt. Kaum, dass überhaupt noch ein Zug fuhr.

Der Lkw sollte nach Großbeeren fahren und Kartoffeln aus einem Güterwagen abholen. Der Güterwagen war aufgebrochen, eine matschige Brühe floss heraus, es stank fürchterlich, und da in dem, was einmal Kartoffeln gewesen sein sollten, stocherten Menschlein nach noch Brauchbarem herum. Man nahm eine kleine Kiste als vorzeigbares Beweisstück im Lkw mit. Unterwegs wurde an einem Feld angehalten, wo man gerade Möhren erntete. Man kaufte den Leuten auf dem Feld die Möhren samt Kraut ab, der Lkw war voll damit. Ob das denn für die Gemeinde ausreicht? Wer sparsam war, konnte sich mit der Zuteilung vierzehn Tage lang „über Wasser“ halten – mit etwas Fantasie konnte man daraus die verschiedensten Gerichte „zaubern“, ohne Kartoffeln, ohne Salz und ohne Fett, Hindenburg-Lichter mussten zum Einfetten herhalten, wenngleich diese doch anstelle des ausbleibenden Elektrisch für die Nachtbeleuchtung gebraucht wurden.

Für Brot stand man zweimal an. Wenn man es schaffte, erhielt man eine „Anstehmarke“ zum erneuten Anstehen am Morgen des Folgetages. Und dann bekam man ein Brot, das nur aus einer Kruste bestand, im Innern eine Schicht Klietsch und sonst Luft, so, wie sich eine Tropfsteinhöhle zeigt.

Der vierzehn Jahre alte Bub wurde mit Gemüse aus dem Garten nach Berlin geschickt, zu Fuß, zu Verwandten der Nachbarn, um mit einem Brot wieder nach Hause zu kommen. Der Hunger war so stark, dass ich ganz zaghaft von dem guten Brot erst ein wenig Kruste abpulte, dann noch viele Male wieder ein kleines Stückchen. Schließlich kam er ganz verlegen zu Hause an, ein Viertel des Brotlaibes war weg. Die Mutter konnte nicht schimpfen, sie teilte den Restlaib in sieben gleichgroße Teile auf, für die sechs Kinder und sich selbst.

Die Mutter fuhr mit ihrem Rad – vorne nur die Felge mit Wäscheleine gegen das Lösen der Speichen-Nibbel stramm eingewickelt, das Ganze zum Schutz vor Raub und Requirierung – über Land, schneiderte in einem Pastoren-Haushalt und erhielt dafür etwas Deputat. Nur, ob sie das Erworbene heil nach Hause brachte, war ein jedes Mal ungewiss, gab es doch (auch uniformierte) Wegelagerer, die sich das Recht zur Beschlagnahme herausnahmen.

In Potsdam hatte man die Teilung Deutschlands und der Hauptstadt Berlin festgeschrieben. Also war man in der Mark Brandenburg der Sowjetischen Zone zugeteilt. Eines der Kinder musste dringend wegen der Wucherungen im Rachen operiert werden. Das Kind kam auf den Handwagen, die Mutter zog mit dem Ältesten zum Neuköllner Krankenhaus. Das hatten die Russen besetzt. Nur ein Keller war für die Deutschen als Krankenhaus belassen. Der Arzt bat die Mutter noch einmal wieder zu kommen, wenn die Russen abgezogen und die Amerikaner ihren Sektor übernommen hätten.

Die Russen räumten die überlassenen drei Sektoren, nahmen aber alles mit, Panje-Wagen für Panje-Wagen rollten ostwärts. Auch Viehzeug wurde mitgenommen. Das Getier, das nicht mehr konnte wurde liegen gelassen. Es lag nicht lange da, wurde einfach von Umstehenden zerschnitten und zum Eigenverbrauch fortgeschleppt.

Wieder ging es nach Neukölln ins Krankenhaus. Das Kind durfte da bleiben, wurde operiert. In den Tagen, die es noch bleiben sollte oder durfte, sammelte es Essenüberbleibsel ein, die sie dem es abholenden Bruder beim Abholen übergab, hatte er doch wieder die zwanzig Kilometer zu Fuß hinter sich und sie Beide wieder die zwanzig Kilometer zurück. Was taten denn da die Panzer auf der Ausfallstraße? Nun, mit geschlossenen Turmluken nahm der Amerikaner seinen Sektor in Berlin ein. Gleichzeitig verließ er die Tschechei, Sachsen, Thüringen und den Ostharz, wie das in Potsdam festgelegt worden war. Der Engländer zog sich aus Mecklenburg zurück. Der Russe rückte nach.

Die Mutter fuhr zur Schwiegermutter in den Harz. Da war gerade eine Postkarte abgegeben worden, die Verwandte aus der Britischen Zone herübergebracht hatten. Sie stammte vom Vater, der seinen Aufenthalt im Westen, im Ruhrgebiet bekannt gab. Die Mutter schrieb über die inzwischen wieder auflebende Postzustellung nach drüben, die Britische Zone, dass der Vater dort bleiben möge. Als sie nach Hause kam, setzte sie sich hin und schneidert Rucksäcke. Mit Rucksäcken und Schultaschen machten sich die Kinder mit der Mutter auf den Weg nach Westen. Jedes der Kinder durfte sich ein Etwas persönlich einpacken lassen. Für den Vater wurde Wäsche eingepackt, denn er hatte nur seine Militärklamotten zum Leben. Dem Ältesten schneiderte sie eilends noch Kragen an die vom verstorbenen Großvater hinterlassenen Oberhemden, denn der hatte ja nur noch die Jungvolk-Braunhemden, die es auf halbe Kleiderpunkte gegeben hatte.

Der Vorortzug pendelte zwischen Görlitzer Bahnhof und Königs Wusterhausen. So ging es das erste Stück mit Dampf bis Grünau. Da wechselte man in die S-Bahn. Die pendelte so stückchenweise auf wieder instandgesetzte Strecken. Schließlich wurde mit vielem Umsteigen der Bahnhof Witzleben erreicht. Sie landeten da in dem Flüchtlingslager der U.N.N.R.A. in der Sophie-Charlotte-Schule, ihnen wurde ein Zimmer zugeteilt, in dem schon andere Gestrandete untergekommen waren.

Da waren zwei Jungen, vierzehn und sechzehn Jahre alt, in viel zu großer Wehrmachtsuniform, von den Russen in Pommern aufgegriffen und zum Straßenbau am Ural eingesetzt, krank nach Deutschland entlassen – nach Pommern konnten sie nicht mehr zurück, das war ja nun Polen. Der Älteste war sehr apathisch, saß auf dem Bettrand des unteren der Doppelstockbetten, griff immer wieder unter sein von Löchern zusammengehaltenes Unterhemd, holte eines seiner ihn quälenden Lebewesen heraus und zerquetschte es mit knackendem Geräusch, eines nach dem anderen, fast andächtig vor sich her stierend. Er musste selbst Hand anlegen, denn DDT-Puder half nicht.

Der Jüngere war damit beschäftigt, Zigarettenkippen aufzulesen, sie zu reinigen und den Tabak dann zu verkaufen oder zu tauschen gegen Lebensmittel. Für die Mutter zog er einmal mit hundertfünfzig Reichsmark, die ihr Ältester aus der Reisekasse in Opas Stiefeln mitschleppte, los und besorgte dafür ein Amerikanisches Weißbrot. Der Bub war putzmunter und schon so welterfahren. Dazu war Mutters Ältester noch viel zu schüchtern.

Der Hunger war in der Zeit im Lager trotz der etwas besseren Verpflegung da im Britischen Sektor immer noch nicht ganz gestillt. So hieß es für die Kinder, zu Mittagszeit hinunter in den Hof zu rennen, um die so nach und nach geleerten Thermos-Kübel mit der Hand sauber zu streifen, so auszulecken. Entsprechend begannen ihre Mäntel steif von dem Mehlkleister zu werden. Vierzehn Tage lebten sie so in dem Lager.

Dann hieß es, dass der Engländer mit seinen Militär-Lastern Flüchtling in die Britische Zone transportieren werde. Der Lagerarzt, ein Holländer bat die Mutter, die zwei Jungs und noch zwei Mädchen mit in den Westen mitzunehmen. Die Mädels stammten aus Bochum, waren von dort nach Pommern durch die Kinderlandverschickung gelandet, und ebenfalls von den Russen verschleppt worden. Nun waren schon zehn Plätze auf dem Lkw besetzt. Der Älteste bat den Fahrer, ob er da neben ihm im Fahrerhaus Platz nehmen dürfte. Und er durfte.

Es ging hinaus aus dem Britischen Sektor, durch die sowjetische Zone auf der Autobahn bis hinter Helmstedt in der Britischen Zone in ein Durchgangslager seitab von der Autobahn. Auf dem Brücken über die Autobahn standen Russen mit ihren Waffen und verfolgten mit ihren Blicken den Britischen Konvoi. Unterwegs machte der Tommy auf einem Rastplatz einen Versorgungshalt. Es dämmerte, als der Konvoi das Lager erreichte.

Die Mutter übergab die mitgegebenen Menschlein – den Jungs hatte sie noch jedem ein undurchlöchertes Unterhemd aus Vaters Wäsche abgegeben – dem Lagerarzt, der die Vier ins Lager-Lazarett steckte, das nach gründlicher Wäsche. Als die Familie sich von ihnen verabschiedete, waren ganz glückliche Augen das Danke für Mutters Leistung. Am nächsten Tag ging es zum nahegelegenen Bahnhof, wo die Familie auf einen Zug warten musste.

Am Vormittag rollte ein Zug heran und nahm die Familie mit in das zerbombte Braunschweig. Zugwechsel. Gleich so zerstört sah es am Hauptbahnhof in Hannover aus. Der Zug endete später in Wunstorf. Der zweite Reisetag endete da in einer nahe dem Bahnhof gelegenen Schule. Strohlager im Klassenzimmer. Im Hof eine Großküche, bestehend aus einem großen Wäschekessel unter einem Holzdach. Da warf man gerade den ausgekochten Schweinekopf aus der Suppe in den Sand. Hurtig sprangen die Kinder dazu, der Kopf wurde gereinigt – so sauber waren wohl selten die abgenagten Knochen. Immer noch Hunger.

Bis zum Nachmittag mussten sie auf einen Zughalt im Bahnhof warten. Oben auf den Benzinkanistern in einem bis oben hin gefüllten Offenen Güterwagen sammelte sich die Familie. Der Zug rollte schwerfällig an, fuhr gen Westen. Die Familie war nicht alleine da auf „Oberdeck“. Man trieb von Lore zu Lore Schwarzhandel. Die Lokomotive spuckte dazu ihre Asche aus dem Schornstein. Es wurde kühl, war es doch schon Ende September. Der Zug näherte sich der Behelfsbrücke über die Weser, schaukelnd und schnaufend kletterte die Lok mit ihrer Last wieder bergan, hinein in die Porta Westfalica, durch deren Einschnitt die rotglühende Abendsonne das Ganze so fantastisch illuminierte.

Aber bald war die Sonne zu Bett gegangen. Die Mutter hatte Bettwäsche aus dem Reisegepäck verteilt, damit jeder etwas Wärmendes umschlagen konnte. Der Zug rollte und rollte, dann und wann einmal kurz haltend. In Hamm heulten die Sirenen die Sperrstunde ein, als der Zug sein Ziel erreicht hatte. Umsteigen. Da auf dem mächtigen Rangierbahnhof gab es tatsächlichen Zug, der die Familie mitnehmen konnte. Alles Pack- und Begleitwagen der Belischen Eisenbahn, die nach Hause, nach Belgien zurückgebracht werden mussten. In einem solchen Packwagen fanden einige Familien Platz zur Weiterreise. Der Zug polterte durch die Nacht, ab und zu stießen sich die lose gekoppelten Waggons, man wurde aus dem Schlaf gerissen.

Bis Essen-Altenessen rollte der Zug, da sollte die Familie aussteigen. Dicker, feuchter Nebel waberte um den stehen gebliebenen Zug. Die Kinder kletterten aus dem Zug herunter. Als die Mutter und der Älteste sich dran machten, das Gepäck herauszureichen, setzte sich der Zug wieder in Bewegung, die Kinder blieben alleine in Nebel, in der Dunkelheit zwischen den Gleisen zurück. Zeter- und Mordio-Geschrei! Ein Eisenbahner tauchte mit seiner Karbidlampe aus dem Dunkel auf, beruhigte, dass der Zug nur noch etwas vorziehen müsste. Die Kinder waren dem Zug nachgelaufen, alles im Dunkel im Nebel. Glücklich fanden sie alle sich wieder. Etwa einen Kilometer voraus erreichten sie den Bahnsteig zum Bahnhof Essen-Altenessen. Es dämmerte, der Nebel blieb.

Der Bahnsteig war voller Männer, es waren Kumpel, die zu ihrer Zeche wollten. Ein Zug kam, gedeckte Güterwagen und Abteilwagen, die keine Bänke mehr hatten. Einsteigen, die Mutter mit den Kindern in den Abteilwagen, der Ältesten in den Güterwagen, alles Gepäck zwischen den Beinen. Stehen ging es ab nach Oberhausen. Da umsteigen nach Hamborn. Nicht ganz ohne: zwei Bahnpolizisten kassierten für das Handgepäck – Wegelagerer.

Um nach Walsum zu kommen, musste auf einer Behelfsbrücke über die Emscher geklettert werden. Noch ein Stück mit der Straßenbahn, und die Bahnhofstraße war erreicht. Die Tante rief nach dem Vater. Der wehrte sich dagegen, dass die Familie lebend angekommen war. Er glaubte nicht, dass sie alle noch lebten. Denn die Post von der Mutter war nicht angekommen.

Der Vater hatte aus Köln eine Zusage vom Gerling-Konzern bekommen, dass er dort arbeiten dürfte. Nur ein Zuzug der Familie nach Köln war nicht zugelassen. Also machte sich die Mutter auf den Weg nach Hannover, um im Kreis Hameln-Pyrmont eine Zuzugsgenehmigung durch die Militärregierung zu erwerben. Kurz darauf fuhr die wiedervereinigte Familie nach Hämelschenburg im Kreise Hameln-Pyrmont. Für diese Fahrt brauchten sie zwei Tage. Der Zwischenstopp lag am zerstörten Viadukt zwischen Neuenbeken und Altenbeken.

In Hämelschenburg, so richtig auf dem Lande, begann ein neuer Lebensabschnitt, der sich über vier Jahre hinstreckte. Dann gab es endlich eine Wohnung in Bonn. Am 12.November 1949 überquerte der Möbelwagen von Köln linksrheinisch kommend, die neu eröffnete Rheinbrücke und weiter zur Behelfswohnung in Beuel.

ortwin

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