Der Herr Lehrer läßt bitten...


Fast ein dreiviertel Jahre Jugendfreiheit sind seit dem Geschehen in Bäimsmaries Schweinestalle vergangen.
Wie vom Schicksal unwiderruflich vorbestimmt, klopft schließlich auch an Lös'lschneiders Haustüre die Schulpflicht.
Von der Zeit der Vorbereitung des derart lebensbestimmenden Tages und der Empfang vom Lehrer soll nun die Rede sein:
Der Herr Lehrer läßt bitten.
So geht der böhmische Winter mit seinen zwei Meter hohen Schneewehen diesmal erst Mitte März.
Die Gräben im Dorf schaffen kaum das Schmelzwasser, Vaters lange Stiefel werden heimlich ausgeliehen und Dämme gebaut.
Eine aufregende Zeit für junge Leute.
So steht auch bei Löslschneiders in diesem Jahr noch ein besonderes Ereignis ins Haus: Der Bertl kommt in die Schule zu Herrn Lehrer Kasch. Schon Mama Erna hat in der Dorfschule lesen und schreiben sowie singen und Religion gelernt. Jetzt ist der Kleine dran.
Den Schulranzen kauft die ganze Familie.
Sein Papa meint, "der Ranzen muß aus Rindsleder sein, damit er auch was aushalten tut". Er muß das ja wissen als Schuhmacher.
Sicherlich ist er auch mal zur Schule gegangen, in der Losdorfer Volksschule. Aber darüber hat er nie mit seinem Sohn gesprochen. "Vielleicht war seine Schule nicht so interessant wie meine". Schließlich ist Papa Rudolf gelernter Sattler und Schuhmacher, versteht also was vom Leder und so.
Schon Wochen vorher wird Probetragen und Probepacken geübt.
Lesebuch, Schiefertafel mit Schwamm und Lappen, dazu der Griffel, alles hat im Schulranzen an seinem Platz zu sein.
Lappen und Schwamm sind mit einem Stückl Bindfaden an der Schiefertafel festgebunden, damit sie der fleißige Schüler gleich zur Hand hat.
Schwamm und Lappen baumeln rechts aus dem Ranzen, wie zwei nacklige Beene aus dem Rock der Mädchen, wenn sie auf der Banke sitzen.
"Damit kann ich aber nicht schnell rennen", meint Bertl zu sich und denkt dabei als Oberdörfler an kommende Meinungsverschiedenheiten, mit denen aus dem Niederdorf. Handfeste natürlich.
Also übt er, rennen selbstverständlich!
Klappern tuts dabei auf dem Rücken, "dos dä Hienä ausreißn dun."
Der erste Schultag ist ran.
Dem Bertl hat seine Mama heute voll nach ihrem Geschmack heraus geputzt und in die besten Sachen gesteckt: In blitzeblank geputzten, Spangen zierenden Halbschuhen und weißgrünen Kniestrümpfen, da fällt das zerschrammte rechte Knie weniger auf.
Passend dazu auch die kurzen Lederhosen mit seiner großen, Hirschknopf geschmückten Klappe vorn und dem ins Auge fallenden Hosenträger.
Beide verbindet in Brusthöhe der etwa acht Zentimeter breite, mit Edelweißblüten bestickte Lederstreifen.
Noch fünf mal können die Hosenträger für zu erwartendem Wachstum in der Länge erweitert werden. Darauf hat Papa Rudolf beim Kauf bestanden.
Ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln unterstreicht seine sportliche Figur. Auch der akkurate Ponnyschnitt, drei Finger breit über den Augen beginnend, paßt noch in Mama Ernas Kulturbild. Nur die beiden Haarwirbel oben drauf widerstehen energisch ihren Bemühungen um den vollkommenen Bubikopf.
Verschämt läßt sich Bertl, so heraus geputzt und mit den Schulranzen auf dem Rücken, von seiner Mama vor allen Leuten widerstrebend zur Schule bringen.
Aber, er muß mit. Es geht halt nicht anders.
Vorbei an der Saachnschmeede, wo Mariechen wohnt, den schmalen Weg am eigenen Garten runter auf die Straße und noch ein ganzes Stücke links der Straße nach, dann sind sie am Ziel.
Auch der Dix'n Erich, Elli's Ältester, sein anderer Freund und Nachbar, ist unterwegs.
Seine Mama muß ihn den ganzen Weg von Zuhause bis zur Schule an der Hand festhalten und mitziehen.
Der Erich will nicht so richtig. "Hältstä stillä", schimpft deshalb Dix'n Elli so alle zehn Schritte im regelmäßigen Abstand. Aber nur leise, damit es keiner hören tut.
Jetzt kommt auch der Gries'l Hort. Sein größerer Bruder hat ihm an der Hand. Horste guckt ganz streng geradeaus.
Aus Heidenstein, das liegt gleich hinter dem Wald an der Straße nach Losdorf, wo der andere Großvater vom Bertl wohnt, kommen vier Mädchen mit ihren Mamas.
Schmucke sehen sie aus, mit weißen Kragen und Schleifchen an den langen Zöpfen.
Zwei von ihnen haben bunte Spangen in den Haaren. Aber auch zwei Jungens aus der Siebenten sind dabei und passen auf.
Ist das ein Geschnatter und Erzählen.
Die Erwachsenen können einfach keine Ruhe halten. Man trifft sich eben nicht jeden Tag so zahlreich: Die Schüler von früher schicken heute ihre lieben Sprösslinge auf die höchst ungewisse Strecke der verschiedensten Wissenschaften und Weisheiten.
Dix'n Erich winkt dem Bertl zu: "Kumm mou haa".
Dann zieht er, so, dass es kein anderer Sehen kann, stolz seinen gebastelten Katsch, einen Katapult mit Schlauchgummi, aus der rechten Hosentasche.
"Prima Gummi", meint der Bertl und holt gleich einige Gnippskneilch'n aus seiner Housngabsä.
Beide sind sich einig und auf alle Fälle vorbereitet, man kann ja nie wissen!
Dann wird es auf einmal ganz ruhig ringsum.
Erstaunt gucken sie aus ihrem Fachsimpeln hoch: Die Schultür ist offen.
Wie auf Großvaters Kaiserbild steht da ein Mann auf der oberen Stufe im grauen Türrahmen.
Alle Eltern grüßen jetzt respektvoll.
Der Bertl schluckt erschrocken.
Erich auch.
Grieslhorste guckt angestrengt in die Sommerluft, in Richtung Schnenkernatz'ns Biergartenbäume.
Horst tut so, als ob es da oben viel Interessantes zu sehen gibt.
"Bitte herein spaziert", so klingt es hochdeutsch von den Stufen herab.
Der Herr Lehrer bittet einzutreten.
Die Erwachsenen liefern gehorsamst der Reihe nach ihre Sprößlinge beim Herrn Lehrer an der Schultüre ab.
Jede Mama verabschiedet sich noch vorher mit einer letzten, ganz speziellen Ermahnung.
So dringt es besorgt im Familiendialekt an die jungen Ohren: "Sei jo ortsch! Und tust a gud ufpossn, nouä", redet Schneidermox'nslina einprägend auf ihrem Sohn ein. Dabei streicht sie, wie verlegen die wohl neue bunte Kleiderschürze glatt und grüßt artig zum Herrn Lehrer hoch.
"Moch Dir jo näi dracksch, hörschtä", schärft Seff'ns Marttl ihren Ältesten ein und gibt ihm schnell noch einen Klapps auf den sauberen Hosenboden.
Anders ihre Nachbarin: "Immä jo schäinä dä Händä uff'n Rick'n halt'n und gerode sitz'n. Und wenn dä Lausigl's aich o dä Zäppl'n ziehn wull'n Soldi und Ingä, dann dräitä aich um und haut mit dan, wostä grode ai dä Händä hobt, kräftsch zu, nouä", belehrt Mama Winkler mit strahlenden Augen Tochter Isolde und ihre Freundin Inge. Sicher erinnert sie sich dabei gern an ihre eigene, wohl auch kämpferische, Schulzeit.
"Näj rumzobbl'n Jungä, immä stille sitz'n ai dä Bankä. Tu a näj Dainä Mitschilä hacksch'n", schärft noch schnell Schacht'lhans'ns Lenä, ihren unruhigen Geist dabei an der Hand haltend, ein.
"Nimm immä schäjn dos Schnupfdichl und näj n Arm'l, wenn dä enä Routzgiekä host und tu ai dä Schule näj dä Poupln ais Maul stack'n Franz'l, heerschtä a zu Jungä?"
"Und wenn dä pups'ln mußtä, dann gehste naus! Wirscht's dir a olläs mark'n Franz'l", prüft Franz'ls Mama ihren Sohn, ob er auch noch alles im Koppe behalten hat.
Mit beiden Händen hält die Aufgeregte ihren lieben Fran'l an den Schultern fest. Für sein zustimmendes Nicken, drückt die gute Mama ihm noch je einen Schmotzä rechts und links auf seine Wangen.
"Kumm a glai wedä heemä, Lies'l und ass a dai Schnitt'n", sorgt sich Frau Kruschemann'l aus dem Niederdorfe. Einprägend ergänzt sie dann, dabei ihre Tochter festhaltend, " und wenn dir dä Kirschtä von dä Broutschnitt'n näj schmack'n duhn, Lies'l, dann bringstä sä jo wiedä heemä für 'n Babba ais Milchdibb'l, dä Babba duht sä dann ai dä Milch zum Ass'n weech moch'n. Heerschä a zu Lies'l", wird in dem Augenblicke Frau Kruschemann'ls Stimme etwas lauter, weil die Lies'l wo anders hin gucken tut. Die gehorsame Lies'l verspricht es.
Neben Frau Kruschemann'l aus dem Niederdarfe erinnert eine andere Mama ihren Liebling, "Kalli, mai liewä Jungä, tu näj immä spuck'n, heerschtä? Wenn dä schneiz'n mußt Kalli, dann tustä dos ais Tich'l, heerschtä? Owä bloß näj huchzieh'n! Doos mocht mä näj bei so viel'n Laitln", Schnell steckt sie ihm mit der letzten Ermahnung noch ein sauberes Schnupftich'l in die Hosentasche. Mit der anderen Hand streichelt sie gleichzeizig über seinen Wuschelkopf.
Auch der Peter von Bindernaz'n erhält letzte Ratschläge.
"Wenn dä strull'n mußt Peterle, dann tustä daan Herrn Lehrer kräftsch mit dä Händä wink'n, nouä", sprudelt es aus Mama Bindernaz'n heraus. "Und bis dä Herr Lehrer dann kumm'n tut, bleibstä ai dä Bankä stehn nouä nou! Owä tu um Guttswill'n jo näj ai dä nai'n Hous'n nailull'n, nouä, dos mochstä näj, nouä?
Der guten Mama Bindernaz'n steht die Sorge um ihren scheinbar sehr unzuverlässigen Sohn ins blanke Gesicht geschrieben. Sie umarmt ihren Jungen wie zum Abschied ein letztes Mal und übergibt ihn mit tränenden Augen dem Herrn Lehrer.
Der Bertl kommt besser weg.
Keine Ermahnungen, doch ja nicht am Daumen zu lutschen, oder mit den Fingern zu spielen,sich nicht schmutzig zu machen, wo er doch so fein angezogen sei und auch nicht gleich vor Schrecke ausreißen, wenn der Herr Lehrer ihm was fragen tut, nichts kriegt er zu hören.
Mama Erna ist voll beschäftigt, weil heute doch so viele Leute da sind, dass sie vor lauter gucken und nicken keine Zeit zum Schimpfen übrig hat. Ihr bleibt kaum noch die Zeit, ihren Kronsohn, den von dieser langen Herumsteherei schon schief hängenden Schulranzen wieder an seinen Platz auf den schmalen Schultern zu rücken und schnell noch die verrutschte Brille von der Nasenspitze nach oben zu schieben.
Bertl läßt alles ohne Widerspruch und stille stehend mit sich geschehen. So behält er seine Gnippskneich'n in der rechten Hosentasche.
Denn Bertl glaubt fest an sein und Erichs Versprechen, welches die Zeit nach der Schulstunde betrifft. Er hofft mit ganzer Kraft heute alles gut zu über stehn. Dabei erinnert sich Bertl an die Geschichte, die ihm seine Muddl am Abend zuvor noch erzählte, die Geschichte vom kleinen Jesus, der als kleiner Junge bestimmt mutig zur Schule gegangen war.
Bertl holt ganz tief Luft.
So erfolgt seine Übergabe an die in der Schultür stehende Respektperson Lehrer mit laut klopfendem Herze ohne weitere Zwischenfälle.
Auch Erich wird jetzt nur noch gut festgehalten, um schließlich beim Herrn Lehrer, halb gezogen, halb geschoben, abgeliefert zu werden.
So geht es noch eine Zeitlang weiter.
Die besorgte Mama vom Max'l Schickedanz räumt noch schnell die auffällig stark ausgebeulten Hosentaschen ihres Söhnleins aus. Sie fördert, ohne dabei sichtlich überrascht zu sein, aus der rechten Hosentasche zwei Gummibänder und fast eine Handvoll ovaler Kieselsteine, aus der linken eine Schachtel mit bunten Bindfäden und lebendigen Laufkäfern als gute Tauschobjekte zu Tage.
"Max'l, doos nimmstä mir näj aid Schulä mit nai, du Lausig'l, du, du". Die liebe Mama Schickedanz findet doch heute tatsächlich keine Worte mehr. "Kumm du mir mou heemä, jo, jo", seufzt die Geplagte halb hoffnungslos, halb drohend.
Sorgfältig streicht sie dann wie abwesend mehrmals ihr neues Kleid glatt.
Im Klassenzimmer dann, wo schon die Schüler vom zweiten und dritten Schuljahr sitzen und naigierlich sain, was da kommen wird, führt der Herr Lehrer Kasch jeden einzelnen Neuen zu seinen künftigen Lernsitzplatz.
In den drei Bankreihen warten vorn je drei Bänke auf die Neuen.
Vor ihnen, auf dem Podium,der alles beherrschende Lehrerkatheder. Daneben an der Wand die große schwarze Tafel, vor der sofort ein beunruhigendes Gefühl auf manchen der Neuankömmlinge, auch auf den Bertl, überspringt.
Die Tafel sieht aus, wie das mächtige Untier, welches nur darauf wartet, kleine Jungen aufzufressen.
Saach'nschmeedsfranz hat ihm gestern noch davon erzählt. Dem Bertl klopft bei seinem Anblick auf einmal das Herze bis an den Hals hinauf. So stark, daß seine Ohrwasch'ln wie eine glühende Ofenplatte aussehen.
Dan setzt er sich.
Der Bertl wegen seiner Brille in die erste Reihe, damit er auch alles sehen Kann, der Grieslhorst hinter ihm.
Dix'n Erich soll sich zu Bertl in die erste Bank setzen.
Aber, der Erich will nicht.
Da hilft auch kein Ziehen am Ärmel, wenn der Erich nicht will, dann will er eben nicht!
"Bitte setz dich, Erich", sagt der Herr Lehrer Kasch höflich zu ihm und nickt dem Guten aufmunternd zu.
Alle im Klassenraum, die Kleinen und die Größeren, sind stille. Der Erich bleibt, wo er steht.
"Bitte, setz dich auf deinen Platz", und zu den anderen gewandt, "packt eure Schiefertafeln raus und legt sie vor euch auf die Schulbank".
Laut polternd wird der Lehrerwunsch von den neuen Schülern folgsam erfüllt.
Lehrer Kasch geht inzwischen an der einen Bankreihe nach hinten und kommt an der anderen Seite wieder zurück.
Der Erich steht immer noch.
Bei den Stehmannl bleibt der Herr Lehrer Kasch auch stehen - und schweigt.
Wir sagen auch nichs.
Der Bertl hat ein richtiges Knödel im Hals.
Hinter ihm wird gekichert.
Alle Schüler gucken zu Erich.
Der beißt die Zähne zusammen. Ganz schmal sind seine Lippen, wie ein dicker Strich.
Alle passen nun auf.
Was wird geschehen?
An der Tafel, links, stecken in einem Papiereimer die Rohrstack'ln, von denen auch der Bertl schon voller Respekt gehört hat. Alle stack'ln aus jungen Haselnustrieben.
Aber, Erich bleibt stehen, wie 'ne sture Kuh vor'm Pfluche, wenn se näj ziehen will.
Der Erich steht immer noch.
Neben ihm der Herr Lehrer Kasch, jetzt ganz und gar Respektsperson.
"Na, Erich, möchtest du dich nicht doch hinsetzen?" Fragt er schon etwas lauter.
Das macht der Erich sein Maul uff und meint ganz mutig: "Ach Herr Lehrer, e möcht mich nej erscht hesatz'n, e geh jo glai weeda. Muss naus uff's Fald".
Dann nimmt er seinen Schulranzen mit Schiefertafel, angebundenem Schwamm und Lappen, wirft ihm gekonnt über die rechte Schulter, dass Lappen und Schwamm am Strick'l nur so durch die Gegend saußen, geht raus.
Einfach so.
Wir staunen alle.
Voller Achtung über so viel Mut guckt der Bertl seinem Freund nach, so, wie es die anderen auch tun.
Stille war's in der Klasse im Moment, bis der Erich uff dä Strouße wor. Auch der Herr Lehrer Kasch guckt ganz erstaunt zur Türe, durch die der Erich in die Freiheit strebte.
Dann wurde es laut, Herr Lehrer Kasch gibt die erste Pause im ersten Schuljahr.
Erich seine Mama war noch gar nicht zu Hause, sie erzählte noch mit ihrer Freundin aus dem Oberdorf, während ihr lieber Sohn Erich ohne weiteren Aufenthalt seinen Weg zum Rübenfeld zielstrebig angeht.
Dort sammelt er gemeinsam mit seinem Großvater, den Dix'n Naz, fleißig Rübenblätter fürs Viech, als ob nichts wäre.
Als es dann Abend wird, Dix'n Naz mit seinem Enkel und der einrädigen Schubkarre voll Rübenblätter nach Hause strebt,wird der Erich immer ruhiger.
Erich hat in der Pause, als er wieder zur Schule kam, so manches Zuggerbied'l von den Mitschülern bekommen und so manchen Freund dazu.
Weiter wird nix verraten, meint
olebienkopp

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Kommentare (1)

finchen .. sich nach wie vor so herzerfrischend.
Danke Olebienkopp
Deine treue Leserin
das Moni-Finchen

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