Es war ein grauer Morgen, Gudrun kam gerade von einem langen Spaziergang mit Cora, ihrer Mischlingshündin zurück. Vor dem Haus, in dem sie wohnte, stand der Notarztwagen. Oh je, wen von ihren Nachbarn mag es wohl getroffen haben? War es vielleicht Herr Hoffmann, der gerade noch vor ein paar Tagen seinen 80. Geburtstag gefeiert hatte? Oder brauchte Silvia de Monti, die junge Italienerin, ärztliche Hilfe? Sie ist Diabetikerin und da kann schon mal eine Notsituation eintreten. Gudrun betrat den Hausflur. Gleich unten im Erdgeschoss bei Frau Krüger stand die Haustür weit offen, und ein Stimmengewirr schlug ihr entgegen. Frau Krüger war alleinstehend und so um die 60 Jahre alt......immer sehr gepflegt und noch sehr agil. Kinder hatte sie wohl nicht, nur eine Schwester, die gelegentlich zu Besuch kam. Der Schreck fuhr ihr durch die Glieder....sollte etwa Frau Krüger erkrankt sein? Sie hatte sie doch noch gestern am Briefkasten getroffen und einige Zeit mit ihr geredet. Putzmunter war sie, und sie haben zusammen noch gescherzt und gelacht. Aber nein, als Gudrun an ihrer Haustür vorbeiging, konnte sie ganz genau ihre Stimme hören. Gott sei Dank, dann war es bestimmt nur eine kleine Unpässlichkeit.
In ihrer Wohnung angekommen, nahm Gudrun sich vor, Frau Krüger später anzurufen. Vielleicht benötigt sie noch etwas aus der Apotheke. In dieser Nachbarschaft half man sich aus, wenn es erforderlich war......ansonsten lebte hier jedoch jeder sein Leben.

Es war schon einige Zeit vergangen, da ging Gudrun zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Nachbarin. „Hallo, Frau Krüger, hier ist ihre Nachbarin, wie geht es Ihnen?“ sagte Gudrun. „Ich sah vorhin, als ich mit Cora vom Spaziergang wiederkam, dass bei ihnen der Notarzt war. Kann ich etwas für sie tun?“ Am anderen Ende der Leitung begann ein zaghaftes Schluchzen. „Es ist alles so schrecklich, meine Schwester ist gestorben.“ Gudrun verschlug es die Sprache. Frau Krüger hatte ihr zwar gesagt, dass ihre Schwester sie besuchen wollte, aber dass die Schwester kränklich war, davon hatte sie nie gesprochen. „......aber“, sagte die Stimme am anderen Ende, „ sie könnten mir einen großen Gefallen tun. Ich komme jetzt nicht hier weg, weil ich auf einen Anruf warte. Hätten Sie wohl ein Aspirin für mich....ich habe entsetzliche Kopfschmerzen. Es ist einfach alles zu viel für mich.“ „Aber sicher, ich bring sie ihnen sofort “, antwortete Gudrun und legte den Hörer auf.

Schnell ging sie ins Bad, holte die Tabletten und machte sich auf den Weg zu ihrer Nachbarin.
Sie klingelte an der Haustür, die auch sofort geöffnet wurde. Sie schaute in verweinte Augen...es waren aber nicht Frau Krügers Augen. „Kommen Sie doch herein, Sie sind bestimmt die nette Nachbarin mit den Tabletten.“ sagte die Frau. Gudrun erschrak.......diese Stimme.....genau wie Frau Krüger! Das ist doch nicht möglich. Sie betrat zögernd die Wohnung und gab der Frau die Tabletten. „Dann.....dann sind Sie die Schwester von Frau Krüger......und Frau Krüger ist gestorben?“, schlussfolgerte Gudrun. „Ja“, antwortete die Frau „meine Schwester hat mich gestern abend angerufen und mir gesagt, dass es ihr nicht gut gehe. Ich sollte meinen Besuch noch ein paar Tage verschieben. Aber irgendwie war ich beunruhigt und bin trotzdem heute morgen losgefahren. Als ich dann an ihrer Wohnungstür schellte, öffnete niemand. Gott sei Dank habe ich einen Schlüssel zu dieser Wohnung. Ich schloss die Tür auf und fand meine Schwester tot im Bett.......schrecklich....ich kann es noch gar nicht fassen!“ Sie weinte..... Gudrun konnte nicht anders und nahm die Frau in dem Arm.“Sie haben die gleiche Stimme wie Ihre Schwester, und da dachte ich....es sei Frau Krüger, die mit dem Notarzt sprach...und später bei unserem Telefongespräch hatte ich den gleichen Eindruck.....es ist unglaublich!“,sagte Gudrun.
„Kann ich noch etwas für Sie tun“, fragte sie. „Nein danke, Sie sind sehr lieb und hilfsbereit, aber ich warte noch hier auf meinen Telefonanruf, und dann werde ich nach Hause fahren. Wir sehen uns dann doch sicherlich auf der Beerdigung“, sagte die Frau. „Ja, ganz bestimmt“, antwortete Gudrun und verließ die Wohnung.

Diese Geschichte ist im Kern authentisch. Personen, Dialoge etc. sind allerdings frei erfunden.
Sicherlich gibt es in Eurer Umgebung auch das Phänomen, dass sich die Stimme vererbt hat.
Schreibt doch mal darüber.....ich würde mich über eine Antwort oder Eure Geschichte freuen........Carla

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Kommentare (2)

Seija Mein Sohn hat auf dem Gymnasium eine Theateraufführung und ich war natürlich unter den Zuschauern.
Vorher und in der Pause unterhielt ich mich, mit mir bekannten Eltern. Am nächsten Tag wurde meine Schwester von ihrer Freundin angerufen. Sie fragte, ob sie eine Schwester hätte. Die bejahte das. Dann fragte sie, ob es sein könne, dass eben diese Schwester am vergangenen Tag in einer Vorstellung des Gymnasium gewesen wäre. Auch dies bejahte meine Schwester. Sie meinte, sie wäre darauf gekommen, weil ich die gleiche Stimme habe. Wir waren uns noch nie zuvor begegnet und meine Schwester und ich sehen uns auch nicht ähnlich. Nur die Melodie unserer Stimmen.....!
Seija
luzi Es war bestimmt eine schlimme Situation, wenn man das erlebt hat.
Es ist schön , dass Du es so ergreifend geschildert hast.Solche Begebenheiten bleiben einem lange im Gedächtnis.
Icj hatte übrigens als junges Mädchen die gleiche Stimme wie meine Cousine Annel. Tante Marie, ihre Mutter, konnte unsere Stimmen nie auseinanderhalten. Besonders, als ich dann endlich den Kleinheubacher Dialekt gelernt hatte.
Liebe Grüße luzi
Du wirst immer besser, mach weiter so

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