Der Schiffer

Autor: ehemaliges Mitglied

Irgendwann vor langer Zeit erhielt ein Forscher die Genehmigung für ein neues Experiment: Man finanzierte ihm die Erforschung, ob Meerschweinchen unter neuen Umweltbedingungen überleben können. Der Forscher wählte fünf benachbarte Inseln und brachte per Schiff auf jede Insel ein Paar Meerschweinchen.

Alle zwei Monate besuchte der Forscher die Inseln und legte an ihren Ufern Früchte und andere Gaben aus, die die Meer­schwein­chen gerne fraßen.
Auf Ratilda, der ersten Insel, waren bereits bei der ersten Wiederkehr keine Meerschweinchen mehr. Dort lebten Wildkatzen, und die Tiere hatten keine Chance, ihnen zu entkommen.
Auch auf Adsutzu, der zweiten Insel, überlebten die Meer­schwein­chen nicht lange. Jedes Jahr im Winter gab es viel Schnee, und die Tiere starben an der Kälte.
Auf Nozase, der dritten Insel, tötete Trockenheit alle Tiere, außer einigen Reptilien.
Auf der vierten Insel, Mapuba, überlebten die Meerschweinchen zwei Jahre, aber danach tötete der Inselvulkan alle Bewohner mit einem gewaltigen Ausbruch.
Nur auf der fünften Insel, Gortaro, nahm die Zahl der Meer­schwein­chen nach und nach zu. Und die Meerschweinchen auf Gortaro entwickelten Schritt für Schritt eine Zivilisation. Wäre der Forscher nicht ebenfalls beim Ausbruch des Vulkans auf Mapuba umge­kom­men, wäre wahrscheinlich ein großer wissenschaftlicher Bericht über die Entwicklung der Meerschweinchen auf Gortaro entstanden. Obwohl der Forscher nicht mehr wiederkam, blieb er in der Erinnerung der Meerschweinchengesellschaft erhalten. Weil der richtige Name unbekannt war, und weil der Forscher immer mit einem Schiff kam, sprachen die Meerschweinchen vom Schiffer.

Die Erinnerung an den Schiffer enthielt auch die Erinnerung an Schiffe. Anfangs glaubten die Meerschweinchen, dass es für normale Tiere wie sie nicht möglich sei, Schiffe zu bauen. Aber irgendwann entdeckte ein junges, neugieriges Meerschweinchen namens Nüerg, dass Holz im Wasser nicht untergeht. Nüerg begriff, dass das das Geheimnis des Schiffbaus ist. Nach langen Diskussionen und vielen Versuchen überzeugte Nüerg sechs Kameraden, zusammen ein Schiff zu bauen. Nach zwei Monaten war das Schiff bereit, und Nüerg beschloss, den Schiffer zu suchen. Die Kameraden Müatet, Ulgano, Rugulo, Jerg und Üatro begleiteten Nüerg, nur das sechste Meerschweinchen blieb daheim – darum bezeichneten die anderen in jedem Bericht diesen sechsten Kameraden als Feigling, dessen Name dem Vergessen anheim fallen sollte.

Nach drei Wochen Seereise sichteten die Kameraden Mapuba. Bei der Annäherung konnten sie nichts Grünes auf der Vulkaninsel sehen. Darum beschlossen sie einstimmig, nicht zu landen, sondern woanders zu suchen.
Als nächstes erreichten sie Ratilda. Die schöne Insel mit den grünen Gräsern und Wäldern gefiel ihnen, und sie fuhren eine Fluss­mündung hinauf, bis sie einen See erreichten. Dort legten sie an. Zuerst aßen sie, dann luden sie Gras und Früchte auf ihr Schiff. Ulgano und Rugulo gingen zurück ans Ufer, um weitere Früchte zu sammeln, als plötzlich eine weiße Katze erschien. Die Katze schnappte sich Ulgano, Rugulo flüchtete ins Unterholz. Nüerg erkannte, dass wegen der tödlichen Katze auch Rugulo nicht wiederkehren würde, deshalb befahl er, das Schiff in die Mitte des Sees zu steuern. Dort sahen sie der Katze zu, die am Ufer saß und die Überreste von Ulgano verspeiste. Schließlich erschienen weitere Katzen. Nüerg fuhr zuerst in Richtung auf die Stelle, wo der Fluss in den See floss. Alle Katzen, außer der weißen, die weiter fraß, gingen zur Mündung. Nun wechselte Nüerg plötzlich die Richtung – die vier Kameraden ruderten und erreichten schnell den Abfluss. Nur eine der Katzen wollte ihnen folgen, aber wegen der Geschwindigkeit des Flusses zwischen See und Meer entkamen die Meerschweinchen und waren bereits weg von der Insel, als die Katze die Flussmündung erreichte. In sicherem Abstand von dieser elenden Insel erinnerte Müatet an die verlorenen Kameraden Ulgano und Rugulo. Dann diskutierten sie über die Möglichkeiten und Chancen, dass Rugulo überleben könne. Wahrscheinlich – darin stimmten sie überein – war es unmöglich.

Adsutzu gefiel den vier Kameraden besser. Sie fanden alles, was sie zum Leben brauchten, und es gab keine gefährlichen Tiere. Ehrlich gesagt, sie waren allein. Aber nach einigen Wochen verschlechterte sich das Wetter, es fing an zu stürmen, Schnee fiel und es wuchs nichts Grünes mehr. Wieder beschlossen sie einmütig, die letzten Vorräte auf das Schiff zu bringen und einen so kalten Ort zu verlassen. Auf dem Heimweg besuchten sie auch Nozase, aber weil nirgends flüssiges Wasser zu sehen war, beschlossen sie weiter zu reisen, bis sie zuhause in Gortaro ankamen. Dort waren die anderen überrascht, dass Kameraden zurückkamen. Die Regierung veröffent­lichte ihren Bericht über die anderen elenden Inseln und ehrte öffentlich die gefallenen Kameraden Ulgano und Rugulo. Dann erklärten sie Nüerg, Müatet, Jerg und Üatro zu Nationalhelden. Aber man erinnerte sich auch an die Berichte vom Schiffer, der die Urahnen nach Gortaro brachte. Deshalb schuf die Regierung einen großen Gedenkstein, auf dem unter dem Schiff und Schiffsführer in goldenen Buchstaben der folgende Text stand:

Gedenke des Schiffers, des Weisesten unter den Weisen,
dessen große Liebe den Meerschweinchen half!
Obwohl es eine kahle Insel gibt,
wählte er eine grüne Insel mit vielen Pflanzen für uns.
Obwohl es eine gefährliche Insel mit mörderischen Tieren gibt,
wählte er für uns eine sichere Insel ohne Gefahren.
Obwohl es eine kalte Insel gibt, die unter grausamen Stürmen leidet,
wählte er für uns eine warme Insel mit ständig strahlender, warmer Sonne.
Obwohl es eine trockene Insel ohne Trinkwasser gibt,
wählte er eine wasserreiche Insel mit schönen Bächen für uns.
Gedenke des Schiffers, des Weisesten unter den Weisen,
dessen Wissen die Weisheit unserer größten Helden übertrifft!


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Original von Frank Stephan (Esperanto)
deutsche Übersetzung von Peter Becker (kunvivanto)


Diese faszinierende Geschichte fand ich Mitte der 90er Jahre in "LA VERDA KORO", der Zeitung der Esperantogruppe Karlsruhe. Das Ende der Geschichte erinnert(e) mich an Diskussionen mit Mitgliedern einer sehr missionseifrigen Sekte. Ähnlich wie die Meer­schweinchen glauben diese, dass Gott unsere jetzige Welt bis ins Detail so geplant hat, und bestreiten den Einfluss der Selektion. Genauso wie die Meerschweinchen nicht den Einfluss der Katzen sehen, können sich die Gläubigen nicht die Einflüsse anderer Lebens­formen, ja nicht mal die Haltung menschlicher Anders­denkender vorstellen. So wie die Meerschweinchen nicht die Möglichkeit sehen, dass der Schiffer bei absehbarer Untauglichkeit aller Inseln eine andere Lebensform für sein Experiment hätte wählen können (z.B. Pinguine), genauso können sich die Gläubigen nicht vorstellen, dass ein kleiner Unterschied in einer physikalischen Konstante im Stande wäre, ein ganz anderes Universum zu schaffen, das auch eine Evolution und intelligente Lebensformen enthielte – die wegen religiöser Scheuklappen sich nicht vorstellen könnten, das es Menschen wie uns geben könnte.

kunvivanto

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