"La cruche cassée",
von Jean-Baptiste GREUZE









Es kann schon vorkommen, daß stumpfe Melancholie, die schwarzgallige Langeweile, ein dämonischer Zustand wird - jedenfalls schluckte ich jetzt bereits drei Stunden, die Uhr in der Hand, Tropfen um Tropfen vom Gifte des Nervenbitters Melancholie, ach, nenn ich sie „ennui“, hinunter, bis ein verzehrend brennender Rachedurst mich aufspringen und in die Nacht hinaus rennen ließ.

*

Die leichenblassen Menschengrüppchen krochen als Prozessionsklümpchen verendender Herbstfliegen unter der Himmelreich-Allee von surrenden Bogenlampen einher, die gedämpfte Lichter verspritzten.
Straßenmädchen und abgewiesene Steh-an-der-Kneipe-Männlein schwirrten wie Fledermäuse um alle Ecken.
Ein Wortwechsel, eine Rauferei, ein verlogener Kuß, ein unverschämter Stoß gegen die Brust, ein Kneifen in Stoff und das Busenfleisch, ein flirrendes Tschau! - sei es was es wolle: Ich mußte in dieses mit erlahmender Triebfeder abschnurrende Leben eingreifen.
Ins volle Menschenleben?

Schon wollte ich aufs „Akropolis“ zugehen - pardon: ich sehe, weil mich die Schwule davor anstarren: es heißt Apopolis, als ein Kerlchen, knappe 18, mit sparsamstem Fotzenbärtchen, stieren Sonneblumenkuckern, mich im Vorbeischlendern wieder mit einem blauen Blick infizierte. Endlich bist du wieder da, Alfredo oder Petro! Ohne zu wissen, was ich tat, ging ich auf einmal neben ihm her.
„Wie geht’s--?“ Keine Antwort.

Er, war recht ein Feminines, sah aus wie das Mädchen auf dem Bilde "La cruche cassée"; ein rührend zartes Gesichtchen mit zum Kuß überredenden Lippen und großen blauen Unschuldsaugen, die im Zorne sicherlich schwarz wie die Nacht in bläulichen Blitzen gewitterten.
Er wandte sein Gesicht plötzlich zu meiner Seite und blickte mich voll und fragend und sehnsüchtig an. „In meinem Herzen lag ein Stürmen wie von aufgerollten Fahren. Verdammt - Junge!"
Oder heißt es: „ein Sehnen wie von aufgerollten Bannern...“? Im kurzen, geilen Augenblicken war uns beiden Stromern der Preis für eine Stunde - „mit allem, auch a tergo! - Ne, nix mehr anal mit dir, Freundchen! Wie hast du mir da - na, basta!“ - gleichgültig, und wir schritten wortlos-einverständig Arm in Arm weiter. Ich streichelt ihm die Sorgenfalten...

Wir bogen in dunkle Seitengassen, nach rechts, und nach links, dann wieder nach halbrechts, am Sahara-Trödel vorbei, und kamen endlich durch ein muffiges Haustor, in ein finsteres Treppenhaus und einen stockdunklen Korridor hoch in sein wüstengelb und dattelgrünblättrig gestrichenes Zimmer. „Alberto Frater“ heißen iche gezz. Vastanden, Deutschherr!“
Unverschämt! Warum leugnet der mich? Der will mir keinen Rabatt mehr geben! Das! Na!

Mit einer schüchternen Bewegung zündete er die neue, tiefhängende Gaslampe seitlich über dem Bett an und zog die Fenstervorhänge zu (das Zimmer war ein Eckzimmer, eine sogenannte Vollbude). Dann strich er sich die Kurzstruppelhaare zurück und sah mich an - kalt lächelnd, zischend: „Weh dem, der Wüsten birgt! Finstero Kumpelo! - Nur noch geschäftlich! Garantiert!“

Ich - zögerte - als er zur Tür wies - nickte ich. Lieber in einer Oase - als -

*

Mich packte ein unerbittlich heißer Ingrimm bei dem Gedanken, daß diese atmenden Siebzehneinhalb Jahre bis zu diesem Augenblick ohne mein Wissen gelebt hatten - sie gehörten mir! Ein Gerhard-Basta drauf! Hatte man mich doch Tag für Tag in diesem Sommerheiß beraubt und bestohlen! Wer hatte es gewagt? ... aber nun war ja alles wieder gut. Und wenn alles wieder gut ist, kann jegliche Umarmung, jeglich pulsendes Eindringen in Höhle und Schleim und - zur Hoffnung, gar Erfüllung werden.

Was denn? Die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut: Gar schnell spielten unsere Hände für sich und miteinander, so daß sich die fremden Finger wieder freundlich begegneten, bettelten und sich umschlangen und in die Löchlein drangen und zuckten und stießen und wie schwitzten...

*

Aber da geschah plötzlich etwas: als ich einen seiner zarten Finger sanft preßte, brach er ab. Ich blickte nach seinem Gesichtchen - es lag geschlossenen Auges lächelnd da wie vorhin und schien nichts zu spüren. Ich sah rasch auf die Hand: entsetzlich, der Finger war wirklich abgebrochen, - und aus seiner Bruchstelle floß kein Blut, sondern er war schwarz wie eine fies-taube Nuß, wie ein schwammiger Pilzbollen, ja, so ein stinkend blähender Boviste, von dem beim Knicken und Stochern, Beißen und Reißen und zitterndem Stechen ein leichter Rauch aufsteigt, Spuren von Liebe, Sporendampf.


*

Ich wartete, wagte es nicht, ihn zu wecken. Ich war in ruhig ergebenem Warten hilflos. Unwillkürlich versuchte ich, das fragmentierte Fingerchen - mit meinem Bernstein-Ringlein, das er lustlos erfreut akzeptiert hatte („aber nur für unsere Fickstündchen!“) - wieder anzustückeln. Unwillkürlich faßte ich dabei die anderen Finger der Hand fester an - auch sie brachen mit demselben leichten Rauch ab, auch sie waren innerlich von trockenem, schwarzem Schwammfleisch! Ich kann es jetzt kaum begreifen, was da über mich kam: ich faßte die süße Hand mit einem Griff und brach er an der Handwurzel ab - tauber Nußdreck! Er lag lächelnd da und wollte es nicht wissen. Mich ärgerte es, daß er immerfort immer noch lächelnd dalag! In einer kalten, wißbegierigen Raserei packte ich den weißen Arm - er brach ab, auch er, und ließ kein Blut.
Die Lust dieser Wut und Kälte habe ich in meinem Leben nie wieder gefühlt: ich sprang auf und griff nach ihren Füßen - sie brachen knackend über den Knöcheln - taube Nuß! Ich zerbrach die Schenkel, riß die Joop-Strümpfchen runter, ich packte die Stümpfe und riß den Rumpf entzwei, ich knickte das Genick, - mit einem Griff hatte ich den Kopf beim Goldhaar und hielt ihn hoch! Einen Moment wollte mich seine Köstlichkeit übermannen - aber ich sah ja doch den schwarzen Schwammschrott am zerbrochenen Halse! da half nichts, da mußte ganze Arbeit gemacht werden! Ich fuhr mit beiden Händen in seinen Mund, griff Unterkiefer und Oberkiefer fest an, und riß den Kopf auseinander. Und brach in ein Triumphgeschrei aus: schwarz, taube Nuß! ein Rauch aus Sporen, schwarzstiebend - das war alles!

Aber mein Geschrei hatte mich selber erschreckt; was nun folgte, war eine ekelhafte Stille, in der auf einmal ein leises Kratzen an der Tür, wie von einem Hunde, vernehmbar wurde. Ich blieb unbeweglich auf dem Bett sitzen. Plötzlich kicherte jemand hinter der Tür, pustete durch das Schlüsselloch und quietschte jetzt in den höchsten Tönen: „Muckeli-i, mach auf, Schatzi-i ist da! Tomm, mach Theodoro aufi!“ - und kratzte dann wieder eklig. Ich war ja ein Mörder! Herrgott, was hatte ich getan - wenn man mich hier fand - ein Mörder, furchtbarer Name!

Ich saß noch immer regungslos. Aber schon war das Zimmer in eine gewisse Unruhe gekommen. Es fing in den Wänden an, als ob Mäuse auf einander Jagd machten, dann tauchten in den Tapetenrissen pilgernde Wanzenzüge auf, dann glaubte ich, irgend etwas die Gardinenstangen entlanghuschen zu sehen ... Ich sprang umher und zog mich an. Wo ist die verdammte Hose!

Zeit? Ach -
Ein Blick auf die Leichenstücke: tot ist tot, aber den Haarschopf riß ich herunter und steckte ihn mechanisch in die Tasche. Jetzt war schon alles einerlei: hatte er Geld bei sich? ... Keine Zeit! Es begann sich auch schon im bretter-klappernden Korridor allerhand zu regen; ich hörte es ganz genau. Es war sicherlich nichts Gutes, es war wie ein leises Trappeln und Trampeln von einer ganzen Menge Menschen. Sie schienen rhythmisch „Tritt auf der Stelle“ zu machen, diese Bestien.

Jetzt versammelte ich in mir Mut für das Aufbrechen der Tür, aber einen Moment blieb mein Blick an der Tapete hängen. Daß ich das gar nicht bemerkt hatte: sie war in einer leisen, wellenförmigen Bewegung, sie starrte mich aus tausend wutrollenden Augen an, diese Tapete! Jetzt hörte ich hinter mir ein Geräusch: irgend etwas Behaartes, Langschwänziges, Luziferisches war mit einem Riesensatz vorn Schrank auf die Lampe gesprungen, schaukelte, mit allen klammernden Vieren dran hängend, auf und ab, und biß plötzlich in den zerkrachenden Glaszylinder hinein, daß das Licht sofort auslöschte; - um Gottes willen, nur fort, jetzt mußte man fortlaufen!

*

Ich stürzte an die Tür, ich riß sie auf und trat mit einem mannshohen Fußtritt ins Dunkel. Das saß! Die Kerle fuhren schreiend zurück, der ganze Korridor war voll von ihnen: Pilze, Pilze, lauter übermannesgroße Pilze wie Monster drängten sich wackelnd und trampelnd im Korridor und traten einander auf die Füße. Fäuste voran, stürmte ich in sie hinein, ich trat mit dem Absatz nach allen Richtungen, ich mußte durch, bis zur Außentür! Die Kerle zerbrachen mit schwarzem Rauche, es war zum Ersticken bedrängend! Und immer neue Rotten und Racker wackelten im trotzigen Gänsemarsch heran und kämpften sich vor. Endlich war ich an der Tür. Gott sei Dank, es hing keine Kette vor, ich war draußen.

Ich nahm wohl drei Treppenstufen auf einmal, hörte unten hetzende Stimmen, schaute mich um - und ging dann gesetzt und langsam an den Nachbarsleuten vorüber. Durch viele Straßen ging ich, ich mußte immer schneller schreiten, und lief endlich immer schneller joggend durch einen Lohrberg-Park, wo ich auf einer Doppelbank in der Nachtkühle zusammenbrach.
Bis zur Buchhändlerschule, wo ich Kongo-Müller als Nachtwache wusste, schaffte ich es nicht mehr.
Eine Gaslaterne durchschien schmierentheaterhaft die nächsten Zweige der Linden.

*

Rast und erschöpftes Aufatmen. Ich griff in die Jackentasche ... ich Idiot! damit man mich am Leichenskalp zu fassen kriegte! Aber in der Tasche gab es keine Strähne Haar mehr zu fassen. Als ich meine Handfläche ans dämmrige Licht hob, konnte ich nur flockig schwarzen Staub darauf erkennen.
Ich japste noch; atmete dann zehnmal tief durch - und blies ihn in die Luft: Aschermittwoch für einen Geliebten.

Basta! Puh, kein Alfredo mehr! - Gebe Gott, daß ich mich nie mehr an diesen mörderischen Abend erinnere.


[Told by Evan Jastoshforman; translated by Reinhard Heider-Schimpf. © 2005]

*

Hinweis auf Greuze:

Greuze

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