Die Badewannenglosse vom 07. Dezember 2009 (Benutzung auf eigene Gefahr!)


Die Badewannenglosse
vom 07. Dezember 2009



Was ich mag:

Es heißt ja bekanntlich: Im Anfang war das Wort. (Joh.1/1) – auf eine Transkription des altgriechischen Originaltextes verzichte ich in diesem Zusammenhang, denn die Zahl der Kenner und Könner des Altgriechischen soll ja nicht allzu zu groß sein, obwohl ausgerechnet diese alten Griechen die bedeutendsten Sprecher und Schwätzer des Abendlandes gewesen sind.
Daß auch sie die Vorbereiter und Verbreiter des Schriftlichen gewesen sind, wovon übrigens Platon gar nicht so begeistert war (Phaidros!), behandeln wir im Sommersemester 2020). (Dazu äußert Sascha Lobo im aktuellen SPIEGEL [07.12.09, S. 142], daß es sich hier, bei dieser Klage Phaidros' [= Platon], vielleicht um eine versteckte Ironie Platons angesichts der üblichen Klagen über den Fortschritt der Kulturtechniken handeln könne.)

Gut, Goethes Faust übersetzte, verzweifelt wie er war und wie es uns jedenfalls der alte Goethe übermittelte, diese Stelle mit „Im Anfang war die Tat“, wobei ja hier offen ist, welche Tat oder gar Heldentat er damit meinte. Vermutlich klang ihm diese dämliche Volksweisheit in den Ohren, daß man nicht reden solle, sondern handeln ... Diese dußlige Leerformel plappern so geistig unbedarfte Mitmenschen vor sich her, um sich wichtig zu machen und um überhaupt etwas zu sagen, obwohl sie nichts zu sagen haben und zu melden haben.

Nun, nehmen wir an, daß am Anfang das Wort stand ... gleichsam eine göttliche Programmzeile (vermutlich in Turbo Pascal oder in Assembler), die dann diesen Urknall mit den bekannten Folgen auslöste.
Dann ging es allerdings wortlos, nicht tonlos, weiter, bis dann - vermutlich begann damit das Unheil der Menschheit? – irgendein so ein Urmensch, sicher ein Urweib, der das Spiel mit und am Lagerfeuer nicht mehr ausreichte (Shoppen war damals leider noch nicht allzusehr verbreitet, Shoppen per Fernsehen und/oder Internet war noch nicht populär.) ihr Wort an ihre Mitschwester richtete oder an ihren Urmann, etwa in der Art: „Liebst Du mich noch?“
Es könnte natürlich auch irgend so ein Urmann gewesen sein, der es nicht mehr aushielt und meinte, der damaligen Welt und Umgebung, hier in der Person seiner Grillpartner, unbedingt seine Meinung über nichts und alles mitteilen zu müssen. (Das Wetter hatte damals sicher auch eine existentielle Bedeutung gehabt.)

Ja, und damit wären wir unmittelbar in der Gegenwart (gell, so schnell sind Sie noch nie durch die Geschichte geeilt?). Was also ist den Menschen der Gegenwart offenbar am wichtigsten – so meine vage Vermutung – immer und überall seine/ihre Meinung zu sagen und zu schreiben. Sicher, die menschliche Geschichte kann man auch, wenn auch nicht vor allem, als die Geschichte des Kampfes um die freie Meinung betrachten, was dann verfassungsrechtlich sich in der unantastbaren „Meinungsfreiheit“ niederschlug. Jedermann und -frau kann sich, verfassungsrechtlich mehr oder weniger weltweit abgesichert (die klugen Chinesen sehen das gelegentlich etwas anders!), jederzeit und überall unbestraft über alles äußern. D.h. so lange, solange er damit niemanden schadet bzw. etwas an den Verhältnissen ändert. Die Leute aussprechen lassen, ob über Lehmann, Lehmann Brothers oder andere Lustigkeiten unserer Zeit; wenn sie Dampf ablassen können, ist das Schlimmste vorbei und es ändert sich auch nichts.



Was ich nicht mag:

... hier bin ich mir nicht sicher.
Soll es man begrüßen, daß die private und vor allem öffentliche Meinungsäußerung so ungehemmt und unbeschränkt heute überall erfolgen kann; wohlbemerkt mit weltweiter Verbreitung; frei nach dem Motto: Das Internet vergißt nichts. (Früher gab es wenigstens noch einen richtigen Festplattencrash.)
Oder soll man dieser Sucht, überall seine Sicht der Dinge zu verbreiten, eher kritisch gegenüber stehen? Die permanente Meinungsabsonderung also nicht mögen?

Sehen wir es zunächst so. Jemand hat eine Meinung. Man hat sich also sorgfältig, nach bestem Wissen und Gewissen wie man so schön zu sagen pflegt, mit einer Sache auseinandergesetzt. Man kennt einen Sachverhalt und nimmt, mehr oder weniger abwägend oder gar persönlich betroffen, dazu Stellung. Etwa einem Partner, Freunden gegenüber. Oder in der Öffentlichkeit: Versammlung, Lehrveranstaltung, in Form eines Leserbriefes oder eben als Beitrag irgendwo im Internet. Wobei man exakt trennt zwischen Sacherverhalt und eben persönlicher Meinung, Stellungnahme; diese auch sauber begründet, so daß die Meinungsäußerung nachzuvollziehen ist, gleichsam überprüft, beurteilt und bewertet werden kann.
Denn man kann davon ausgehen, daß eine Meinungsäußerung eine Resonanz erwartet, sonst könnte man sich diese Meinungsäußerung ersparen bzw. sonst bräuchte man die Umwelt nicht mit einer solchen belasten und belästigen.
Und nicht zuletzt hofft man doch, daß mit der – eben öffentlichen! – Meinungsäußerung in irgendeiner Form eine Wirkung erzielt wird.
Wie weit dies mit den Meinungsäußerungen im Internet noch geschehen kann, sei dahin gestellt.
Richard David Precht [Googeln oder Wikipedia!] schrieb neulich im SPIEGEL in Zusammenhang im Zusammenhang mit dem „Hickhack zwischen Peter Sloterdijk und der Frankfurter Schule (Axel Honneth u.a.) [Ausgabe vom 02.11.09, S. S. 150 ff.] von der „Fragmentarisierung der öffentlichen Meinung“, da etwa die meinungsführenden Zeitungen in ihrer Existenz bedroht sind. Informationen schwirren als Partikelchen in der unstrukturierten Welt des Internets herum, individualisiert, unverbunden. (Zudem auch meistens in der Form von Schwachsinn und/oder Unsinn)
Precht spricht hier eben vom „unbewältigten Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Das wird Ihnen sicher vertraut sein: Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit), einem Verlust der Öffentlichkeit und eben der öffentlichen Meinung, die einmal normgebend war. Diese Sozialnorm, so Precht, in der Form der öffentlichen Meinung, wird durch die Marktnorm, lies: durch die restlose Ökonomisierung und in Konkurrenz mit dem Medium Internet, „kannibalisiert“. Eine solche Gesellschaft kennt keine Normen, keine Weltanschauung etc. mehr, keine „Parteien“ (weniger politisch bzw. spezifisch gesehen), sondern nur noch anonyme User.

Hat früher eine öffentliche Meinungsäußerung, meistens in Form eines Leserbriefes, gewisse intellektuelle Anforderungen und Anstrengungen erfordert – möglichst genaue Kenntnis eines Sachverhalts, gegebenenfalls Auseinandersetzung mit einem Thema, sorgfältige schriftliche Formulierung – , gegebenenfalls stand als Überprüfungsinstanz ein Lektor davor und verhinderte das Dümmste und Schlimmste, so schreibt heute jeder so spontan und so oft, wie es wohl für möglich erscheint. Man möge mir den Vergleich verzeihen oder eben nicht ... manche Menschen scheinen gleichsam permanent markierend wie ein Köter ihre Meinungen zu verteilen. Vielleicht in der Art und Absicht: Hier bin ich, ich möchte mich bemerkbar machen. Gegebenenfalls: Ich warne Euch ... etc. (frei nach dem Motto: Hunde, die laut bellen, beißen nicht)
Ein verständliches Bedürfnis, wenn man sonst ein glanzloses Dasein führt, von niemanden bemerkt und/oder anerkannt wird. Ich kann mir erneut nicht den Vergleich des Kabarettisten Georg Schramm mit den öffentlichen Pißrinnen verbeißen. Meinungszwang, Meinungsdrang, nicht beherrschbar, nicht kontrollierbar. Eine Art ungeistiger Inkontinenz.


Über mich:

Nun schrieb ich ja bereits am 08. Dezember 2008 hier – in Form einer kleinen Zwischenglosse – bereits schon einmal davon, wie wichtig diese Meinungsäußerung vor allem für Groß und Kleinbürger ist, für jene Menschen, die seit ihrer frühen Kindheit unter einem Beachtungsdefizit leiden (zu früh abgestillt oder sich nie von der Prinzeßchen-Rolle emanzipiert oder vom Kronprinzendasein Abschied genommen?) und nun, in der Welt des Internets, die Möglichkeit sehen, sich überall zu äußern. (Und das Internet bietet da schier unendliche Möglichkeiten!) Dies alles – so meine Worte vor genau einem Jahr – „mit der gewichtigen-wichtigtuerischen Attitüde des Kleinbürgers (hier kann ich einmal sagen und zeigen, wer ich bin - auch wenn ich sonst und überall nichts zu sagen habe) so ein wenig (vor)urteilen, meine Meinung wie eine Monstranz vor sich hertragen: Ich bin der Meinung, daß ... worüber, ist ja wurscht, denn man hat eh keine Ahnung.“

Ein wenig aus meinem Leben (Die Rubrik heißt ja auch: Über mich). Letztes Jahr von Lenggries nach Flensburg, jemand fuhr die rund 1600 Kilometer mit. Und gleichsam wie ein roter Faden zogen sich seine permanenten Meinungsäußerungen entlang dieser Strecke. Das fing morgens an über Wetter, Strecke, Ausschilderung über Mittagessen, Zeitungen im allgemeinen und speziell über bestimmte Sachverhalte, über die er bereits "vor" der Lektüre fertige Meinungen parat hatte.
Ich habe ihn uneingeschränkt bewundert, denn ich als Dummerchen habe erst die Artikel lesen müssen, mich anhand mehrerer Zeitungen informieren müssen ... weitere Informationsmöglichkeiten stehen ja einem während einer solchen Radtour nicht zur Verfügung.
Und selbst dann war ich mir nicht sicher, ob und wie ich einen Sachverhalt beurteilen sollte. Denn meistens war ich zumindest persönlich nicht tangiert, kalkulierte die Möglichkeit ein, daß auch solche Artikel, Nachrichten ebenfalls selektiv und somit indirekt subjektiv geschrieben war, von Kommentaren oder gar Leitartikeln gar nicht zu reden – was sollte da meine Meinung? Wen sollte und wollte ich mit meiner Meinung belästigen? Wer will sie denn überhaupt hören?

Denn eine weitere Beobachtung ist, daß diese meinungsabsondernden Menschen offenbar gar keine Reaktion, keine Antwort oder gar eine Diskussion, eine substantielle Auseinandersetzung über das Thema erwarten. Oder gar dazulernen wollen; Gott bewahre!
Nein oder ja, und das ist eigentlich das Erheiterndste, sie sagen oft prologierend (gleichsam als Vorwort und/oder Einleitung) vor ihrer Meinungsäußerung: „Ja, eigentlich verstehe ich nichts von der Sache, aber ich will dazu sagen ...“ Köstlich, finden Sie nicht auch? Sicher könnte man jetzt Boethius zitieren: Si tacuisses ... Aber in diesem Falle neige ich doch zu einem Spontispruch: „Einfach mal die Schnauze halten!“ Oder wer es klassisch, volksnah und symbolisch-bildhaft liebt: Reden ist Silber (Blech, Schrott, Lehmann-Papiere), Schweigen ist Gold.


Nun habe ich den Verdacht, daß diese gleichsam anonymen, partikularisierten Möglichkeiten der Meinungsäußerung gesellschaftlich und politisch eine Art Ventil-, Ablenkungs und Verdrängungsfunktion haben. Und insofern von etlichen der Mächtigen und politisch und gesellschaftlich Verantworlichen sehr gewollt und gewünscht sind.
Nichts harmloser als das ... man initiiert selbst einen Protest und gibt den Menschen die Möglichkeit, sich so richtig zu empören und "Dampf abzulassen". Diese wiederum haben die Illusion, daß sie sich politisch und öffentlichkeitswirksam äußern können ...
... bei irgendwelchen öffentlichen Gesprächs- und televisionären Quasselrunden können dann die ein, zwei Betroffenen auftreten, genießen ihren publikumswirksamen Auftritt - "Hast Du gesehen, Mutter war im Fernsehen bei der Will/Illner/Maischberger oder sogar beim Plasberg!" - und bekommen sogar die Spesen vermutlich sogar großzügig erstattet. Ob sich jemals etwas an der Lage der betroffenen Menschen geändert hat? Und diese merken nicht einmal, daß ihr Auftritt im Sinne des Senders, Moderators und der Quote instrumentalisiert worden ist.

... und dann aber gehen diese meinungsäußernden Menschen, vermutlich erleichtert (semantisch auslegungsfähig) nach Hause, aufs Klo und/oder zappen sich weiter ...

So, das reicht für heute; das meint

Die Bertha
vom Niederrhein


In diesem Zusammenhang ein Hinweis auf das neue Buch "Payback" von Frank Schirrmacher und die öffentliche Resonanz darauf ... Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, der aktuelle SPIEGEL etc.


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Kommentare (1)

pelagia ... wenn sie Dampf ablassen können, ist das Schlimmste vorbei und es ändert sich auch nichts.
... Hier bin ich, ich möchte mich bemerkbar machen... )

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