Die Geschichte eines Düsseldorfer Hafenkindes und ihrer Zeit..


8. Fortsetzung.

Sie traf Fritz. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Aber auch ihm ging der Abschied
sehr nahe. Er versuchte, sie zu trösten. Sie weiß nicht mehr so recht, was er alles zu ihr sagte, doch trösten konnte er sie nicht.

Am nächsten Vormittag hatten sich sämtliche in Kopfing und in der Umgebung wohnenden, aus dem Rheinland Evakuierten, auf dem Schulhof einzufinden. Mitnehmen durften sie nur Handgepäck. Aber Elenas Mutter versuchte trotzdem den Sack mit den Betten mitzunehmen. Die Österreicher hinderten sie auch nicht daran.

Dann wurden sie auf bereitstehende Leiterwagen geladen. Viele Kopfinger nahmen, auch manche mit Tränen in den Augen, Abschied von diesem heiteren Rheinlandvölkchen, das nicht seinen Optimismus verloren hatte.

Ruth bekam, von dem aus Wien stammenden, nun als Pensionär in Kopfing lebenden Hofrat M..., zum Abschied einen wunderschönen Strauß roter Rosen überreicht. Ein Zeichen der Verehrung. Einige junge, mutige Burschen standen zu ihrer Liebe und fuhren trotzig mit.
Nur Fritz war nicht da. So sehr Elena auch Ausschau nach ihm hielt, er war nicht zu entdecken. Die Wagen zogen an und rumpelten durch den Hohlweg, Richtung Kopfingerdorf.

Am Ortsausgang stand Fritz mit seiner „Quetschn“ (Zieharmonika) und spielte: ”Zum Abschied reich ich dir die Hände und sag ganz leis` Aufwiedersehn“.......Ein letztes Lächeln, ein letzter Gruß.

Vom Feld in Kopfingerdorf winkten die Binderleute dem Zug noch lange nach.
Elena war todtraurig. Ohne jede Hoffnung. Ihr war, wie einem jungen Bäumchen zumute sein mag, das man willkürlich und mit Gewalt, samt seinen Wurzeln, ausgerissen hatte.

Sie wurden bis Schärding gekarrt. Die Nacht verbrachten sie in der total überfüllten Wartehalle des Bahnhofes. Am nächsten Morgen mussten sie eine, von den Amerikanern mit aufgepflanztem Gewehr gebildeten Gasse, durchschreiten - dabei mussten alle Sachen, die nicht als Handgepäck akzeptiert wurden, zurückgelassen werden. Mutters Handnäharbeit zur späten Abendstunde war, für`s Erste, umsonst gewesen - zum 2. Male abgebrannt.
Ich schreibe bewusst „für`s Erste“, denn Ruth und Elena waren fest entschlossen, sich den Inhalt dieses Sackes bei der ersten, besten Gelegenheit wieder zu holen und vielleicht, wer weiß ....vielleicht war Polen doch noch nicht ganz verloren.

Die Amerikaner kümmerten sich nicht um diese armselige Habe der Ausgebombten. Die jungen Männer, die ihre Liebsten bis zum Schluss begleitet hatten, packten das Strandgut wieder auf die Leiterwagen und brachten es getreulich zu den Bauern zurück, wo die jeweiligen Eigentümer gewohnt hatten. Nach dieser Prozedur, einer etwas harmloseren Art des Spießrutenlaufens , wurden alle Reichsdeutschen auf amerikanische Lastwagen verstaut und dann begann eine Wahnsinnsfahrt, die den Frauen und Kindern das Fürchten lehrte.

Ob Schikane oder ob sie immer diesen rasanten Stil fuhren, sie wussten es nicht - diese Fahrt nahm ihnen fast alles, was sie noch besaßen. Schultaschen, Handtaschen, Brillen, Hüte, Mützen, Tücher - alles wurde fortgerissen, flog bei der wilden Jagd aus dem halboffenen Lastwagen.
Auf diese Weise wurden auch der Reitergeneral „Seydlitz“, samt „Goethe“ und „Sappho“ hinausbefördert. Krampfhaft klammerten sich die Insassen des hinteren Lastwagenteils aneinander. Das waren keine Fahrer, das waren Wahnsinnige.

Endlich war diese Höllenfahrt zu Ende und sie wurden in bereitstehende Viehwaggons verladen. An den Bahnhof kann sich Elena nicht mehr erinnern. 20 Menschen mindestens in einen Stall.

Die Reise ging über Salzburg. Wunderschön lag die Stadt. Es wurde Abend und nach und nach gingen die Lichter in den Häusern an. Welch ein Anblick nach jahrelanger Verdunkelung. Ruth`s und Elena`s Gedanken waren woanders - die Schönheit des Anblicks schmerzte sie.

7 Tage und Nächte dauerte die Reise. Sitzend oder stehend verbrachten sie die Zeit.
Die wenigen Sitzplätze mußten von Zeit zu Teit getauscht werden. Die Beine quollen an. Jeden Tag bekam jeder “Reisegast “ ein langes dünnes Weißbrot und eine Fleischwurst. Die Fahrt wurde oft für Stunden unterbrochen. Man wusste nie, wann sie weiterging. Es gab natürlich keine Toiletten und so wurde jede willkürliche oder auch erzwungene Unterbrechung der Fahrt zur Erledigung der Notdurft genützt. Für Schamgefühl war kein Platz. Oft stand der Zug stundenlang und einige Mütter kleiner Kinder versuchten, zu den in Reichweite gelegenen Bauernhöfe zu gelangen, um dort um etwas Milch für ihre Kleinen zu bitten. Nicht selten fuhr dann der Zug ohne sie weiter.

Sie sahen fassungslos die Ruinenstädte Augsburg, Nürnberg, Würzburg, Mainz. In Köln wurden die ersten Evakuierten hinausbefördert. Ganz gleich, ob sie ein Zuhause hatten oder nicht. Auch die Alten, die im Laufe der Jahre Schutz vor den Bomben in Oberösterreich Schutz gesucht und gefunden hatten, fanden sich auf den kalten und nassen Bahnhöfen ihrer Heimatstädte wieder und wussten nicht wohin.

Endlich Düsseldorf. Den Tränen nahe, nahmen sie das erste warme Getränk von den Rot-Kreuz-Schwestern der Düsseldorfer Bahnhofsmission entgegen. Elena wurde notdürftig verarztet. Die Beine waren voller Geschwüre. Mehr konnten die Helferinnen nicht tun. Doch wo unterkommen? Sie konnten nirgendwo hin. Der Vater war vermisst. Das Zuhause abgebrannt, kaum Geld, nichts zu Essen.

Die Nacht verbrachten sie auf dem kalten Bahnsteig. Alles war überfüllt.
Eine Völkerwanderung hatte begonnen. Am nächsten Morgen gingen Ruth und Elena in die Kornhausstraße 2a, wo sie früher gewohnt hatten und wo der ehemalige Chef ihres Vaters eine primitive Baracke wieder aufgebaut hatte und einen Neubeginn wagte. Kohlen waren wieder gefragt. Wohnen konnten sie dort nicht ” Wir halten hier die Stellung, bis euer Vater wiederkommt ”, sagte der Chef.

Dann führte sie ihr Weg zum Polizeipräsidium am Fürstenwall. Sie sagten schlicht: “Wir sind gestern Abend angekommen, was sollen wir machen ? “


Der Polizeibeamte schaute sie mitleidig an und gab ihnen den Rat, so schnell wie möglich wieder abzufahren. „...habt ihr irgendwo auf dem Lande noch Verwandte? Dann fahrt dahin, ob die euch wollen oder nicht. Wir haben für all die vielen verhungerten Alten und auch Kinder keine Särge mehr, nur noch Säcke. „

Was hatte der stark gehbehinderte Herr Mandelarzt gesagt, der seine Stadt während des Krieges nicht verlassen durfte und irgendeinen Kriegsersatzdienst leisten musste, als er seine Frau und Kinder vom Bahnhof abholte - er sagte, und Elena hat es nicht vergessen: ” Und jetzt bauen wir unser schönes Düsseldorf wieder auf.“ - Kein Jammern und Klagen.

Fast unvorstellbar diese Ruinenlandschaft wieder aufzubauen. Elena und Ruth wären gerne in Düsseldorf geblieben. Sie waren jung und wollten nicht irgendwo hin, wo sie niemand wollte. Doch es musste sein. Sie fuhren noch am selben Tag in die Heimat ihres Vaters, der sie als junger Mensch verlassen musste.

Das war nach dem 1. Weltkrieg.


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Kommentare (2)

Ahne wie haben wir da in Mitteldeutschland ruhig gelebt. Es gab auch Bombenalarm, Leuna und Buna und die Brabag wurden auch dem Erdboden gleich gemacht, aber unsere Wohnungen hatten wir sicher und zur Ernährung trugen unsere Felder und Gärten bei. Ich spreche vom Leben auf dem Land, die Einwohner von Großstädten wie Leipzig, Halle, Merseburg, Magdeburg sehen das bestimmt anders als ich.
Danke für den neuen Beitrag.

Ahne
Traute Ja, es ging ja den Dagebliebenen auch nicht so gut, darauf kann man die Kaltherzigkeit verstehen mit der sie die Vertriebenen manches mal begegneten.
Das es in Österreich auch Vertreibung gab, wusste ich bisher nicht.
Hunger und Heimatlosigkeit, sind die folgen von Kriegen. Tod und Vernichtung von ungeheuren Werten, auch der Kulturgüter, sind die Folge von Kriegen. Aber die Menschen zeigen auch in ihrer Zähigkeit und Ausdauer und ihrem Erfindungsreichtum, warum sie immer noch auf der Erde sind.
Und ich hoffe, dass eine Zeit kommt, in der den Menschen verboten wird Waffen herzustellen.
Du hast beim Schreiben Tränen vergossen, als die Erinnerung wieder aktiv wurde, stimmts, aber dann wird es leichter.
Mit freundlichen Grüßen,
Traute

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