Die Geschichte vom weißen Kieselstein


Er lag unter tausenden von anderen Kieselsteinen in allen Formen und Größen am Strand. Eine lange Zeit war er sich seiner selbst nicht bewusst gewesen. Er hatte am Tag die Wärme der Sonne in sich aufgenommen und sie an die Kühle der Nacht abgegeben.

Dann eines Tages erwachte sein Selbstbewusstsein. Er erkannte, dass er ein annähernd runder und gänzlich weißer Kieselstein war – einer unter unzähligen. Es machte ihn sofort traurig, nur ein kleiner Teil einer riesigen Masse zu sein. Wohin der Kieselstein auch blickte, er sah nichts als Kieselsteine. Wie sehr beneidete er die Palme in seiner Nähe, deren Schatten jeden Tag eine Weile auf ihm ruhte. Sie stand allein und schön am Strand. Sie war einmalig, etwas ganz Besonderes.
Auch das Meer in seiner mächtigen Endlosigkeit, dem sprühenden Spiel seiner Brandung – war es nicht bewundernswert? In ständiger Bewegung, Ebbe und Flut erzeugend, und doch geheimnisvoll in sich ruhend.

Und was war er dagegen?
Ein unbeweglicher, kleiner, weißer Kieselstein, irgendwann an den Strand gespült und dort liegengelassen – in der Hitze der Sonne, der Kühle der Nacht preisgegeben, Regen und Sturm ausgeliefert – nur einer unter unzähligen seiner Art. Er war nicht einmal unter Seinesgleichen etwas Besonderes. Da gab es große, schwere Steine, die so leicht kein Sturm bewegen konnte. Andere besaßen wunderschöne Farben und Muster.
Seine Traurigkeit über sich selbst wurde noch größer. Wie gerne hätte er mit dem Meer getauscht, mit den Vögeln in der Luft, mit den Sternen am Himmel. Was half ihm sein erwachtes Selbstbewusstsein, wenn es ihm nur zeigte, wie klein und unbedeutend er war. Wenn er wenigstens ein paar schöne Farben hätte oder zumindest eine feine Faserung wie so viele Steine in seiner Nähe…

Eines Nachts erwachte der Stein aus tiefem Schlaf. Am Himmel strahlte der Vollmond und tauchte den Strand in ein seltsames, zartes Licht. Plötzlich hörte der weiße Kieselstein die leisen Stimmen zweier anderer Steine, deren Gespräch der Wind zu ihm trug. Als er merkte, dass sie über ihn sprachen, lauschte er aufmerksam damit ihm kein Wort entging. „Schau mal, der Weiße dort. Sieht er nicht wunderschön aus im Vollmondlicht? Er ist mir noch nie aufgefallen. Er hat wohl eine Schönheit die sich nur in einem bestimmten Licht offenbart. Gegen sein leuchtendes Weiß wirken alle anderen Steine ganz blass. Ob er weiß, wie wunderschön er ist?“ Am liebsten hätte der weiße Kieselstein jetzt vor Freude einen Sprung ins Meer gemacht. „Er liegt da wie eine große Perle, eben und rund. Ich wollte, ich wäre an seiner Stelle!“
Nun drehte sich der Wind und trug die leisen Stimmen der beiden Steine in eine andere Richtung.

Doch der weiße Kieselstein hatte genug gehört. Er dachte eine Weile nach und begriff plötzlich, dass es anderen Steinen genauso ging wie ihm: Auch sie sehnten sich danach, anders zu sein als sie waren. Und gerade die beiden Steine, die so gut über ihn sprachen, hatte er wegen ihrer Größe schon oft beneidet!
Vielleicht ging es ja auch der Palme so! Womöglich wollte sie lieber das Meer sein oder der Stern am Himmel. Und das Meer wollte am Ende lieber das Land sein. „Was mochte es sein, was einen so unzufrieden mit sich selbst machte“, überlegte der weiße Kieselstein. Durch einen Zufall hatte er erfahren, dass er, der einfache weiße Kieselstein, in einem bestimmten Licht schön und wunderbar anzuschauen war. Das hätte er nie für möglich gehalten. Gab es da nicht vielleicht noch anderes an ihm, das er noch nicht entdeckt hatte?

UND SO VERSUCHTE DER WEISSE KIESELSTEIN ZUM ERSTEN MAL IN SEINEM LEBEN, MIT SICH SELBST EINVERSTANDEN ZU SEIN.

Mit der Zeit fühlte er sich immer wohler in seinem glatten weißen Körper. Sicher, er war noch immer ein Stein unter unzähligen anderen, aber das störte ihn nicht mehr. Auch mit seiner Unbeweglichkeit hatte er sich abgefunden. Er lag an einem bestimmten Ort und dort würde er immer liegen bleiben, allein vom starken Wind manchmal leicht bewegt. Da ging es ihm wie der Palme, wie dem Himmel und dem Meer.
Auch sie konnten den Ort ihres Daseins nicht verlassen. Sie waren keine Vögel. So musste es wohl sein. Er hatte verstanden. Seine Sehnsucht danach, mehr von der Welt zu sehen als diesen Strand, war endgültig überwunden.

In der nächsten Vollmondnacht ging ein Liebespaar den Strand entlang. Die junge Frau entdeckte den Kieselstein und sagte zu ihrem Freund: „Schau, wie er im Mondlicht leuchtet! Wie eine große Perle!“
Die Frau bückte sich, nahm den weißen Kieselstein in die Hand und betrachtete ihn mit glänzenden Augen…

… DANN STECKTE SIE IHN IN IHRE TASCHE…

(Verfasser unbekannt)


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