Die Wahrsagerin hat kein Wechselgeld


In Gdynia (1979)

Unser Stadtbummel führte uns auch zu einer großen Markthalle, in die wir hineingingen. Wir wollten nichts kaufen, sondern hatten vor, uns das Treiben dort drinnen näher anzusehen. Ich genoss die angenehme Kühle und meine Frau staunte über die angebotenen Waren.
Wir gingen weiter, bis wir in eine etwas dunkle Ecke gelangten. Dort befand sich eine Gruppe von Leuten, die uns scheinbar schon erwartet hatten. Ich ahnte nichts Gutes und hielt meine Tasche mit dem Geld und den Papieren besonders fest. Die Kinder beorderte ich dicht zu mir und wir hielten einen Sicherheitsabstand von der Gruppe. Meine Frau ging weiter und wurde prompt von einer älteren Dame, die wie eine Kräuterhexe aussah, auf Polnisch angesprochen.
Als es Verständigungsprobleme gab, schaltete die Hexe sofort auf Deutsch um und sagte: „Bitte geben mir einen Złoty. Ich sagen Zukunft voraus.“
Meine Frau kramte in ihren Taschen, fand aber nur einen 10-Złoty-Schein. Sie gab ihn der Wahrsagerin, worauf diese sofort begann ihr aus der Hand zu lesen. Dort sah sie angeblich, dass meine Frau dereinst zu einer Tante in den Westen reisen dürfe und dass sie noch einen Sohn bekäme.
Nach diesen Mitteilungen blieb meine Frau stehen und wartete auf das Wechselgeld. Wenn ich sie nicht an die Hand genommen und weggeführt hätte, stünde sie wahrscheinlich heute noch dort.
So verlor sie zwar den uneingeschränkten Glauben an das Gute im Menschen, war aber um eine Erfahrung reicher.
Die Tante im Westen durfte sie tatsächlich viele Jahre später besuchen – auf den dritten Sohn warten wir jedoch noch heute.

Aus dem Kapitel "Chałupy (Polen)
" des Buches  "Reisehusten" von Wilfried Hildebrandt

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Kommentare (2)

iverson

Die Erinnerung  an das Erlebnis
ist jetzt das Wechselgeld.Es wird wohl immer mal erzählt werden.So war es und man kann darüber schmunzeln oder sich👎 ärgern??
Einige Erlebnisse hatte ich auch auf meine Reisen.Keine Wahrsagerin aber Geld spielte auch eine Rolle.Habe da aber nicht "mitgemacht",aber es passiert sehr schnell..
 

Christine62laechel


Da sind sich die Wahrsagerinnen weltweit wohl ähnlich, vor allem die "Straßenhexen". Und an der polnischen Seeküste. :) Als ich 1972 in Świnoujście war, wollte eine solche Dame mir und meinem damaligen Freund auch manches sagen. Mir sagte sie, ich sollte auf keinen Fall meine langen Haare schneiden lassen (ich hatte einen künstlichen Zopf angefestigt, das war damals trendy), und meinem Freund, dass es beneidenswert wäre, von einer sooo guten und reichen Familie er entstammen würde. Und er war, ähnlich wie seine Eltern, eher nicht gerade ein Krösus...

Mit Grüßen
Christine


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