Eigene Grenzen.
Jeder Mensch sollte so ab und zu an seine eigenen Grenzen stoßen. So in unregelmäßigen Abständen raffe ich mich auf, um zu erfahren, wie weit und wie viel ich noch schaffe.
        Es war ein Frühsommertag, eine Tagestour mit dem Fahrrad hatte ich mir vorgenommen. Vom Elbestrand durch die Lüneburger Heide und zurück, etwa 12 Stunden waren eingeplant, die Entfernung sollte sich von selbst ergeben! Wenig, aber nötiges Gepäck , etwas Marschverpflegung und mineralhaltige Getränke in den Packtaschen. Leichte Bekleidung war angesagt, es sollte laut Vorhersage ein warmer sonniger Tag werden. 
        Frühstück dann um 5:00 Uhr, währenddessen auf meiner Radwanderkarte ganz grob die Streckenführung angeschaut und schon bald darauf saß ich bereits auf meinem Eselchen und wir beide radelten über die Elbbrücke in Richtung Süden!
        Welch ein wundervolles Gefühl, in der frischen Morgenluft mit zügigen Tempo durch die Morgenstunde zu radeln, das Herz jubelte mit den Lerchen und Amseln vereint in den jungen Tag hinein. Selten bin ich so mit der Natur vereint wie in solchen Stunden, die für mich immer etwas Bewundernswertes darstellen.
Gegen 9:00 Uhr sah die Sache dann schon ein wenig anders aus. Die höher gestiegene Sonne schickte mir freude- und wärmestrahlend ihre Grüße entgegen. Im relativ kühlen Schatten einer mächtigen Buche an einem Feldrain ließ ich mir eine erste Mahlzeit schmecken. Lang vermisst, solch ein Frühstück in der freien Natur. Was kümmerte mich da die Ansammlung von Ameisen? Sie waren ja schließlich vor mir da und hatten dort anscheinend Hausrecht! Jedenfalls benahmen sie sich so und zwangen mich auf diese subtile Art, meinen Sitzplatz zu verlegen. Abschließend einigten wir uns dann zwangsweise, wobei ich ihnen einen Krümelrest zukommen liess.
        Es ist schon schwer, aus einem schattigen Bereich in das grelle Sonnenlicht hinüberzuwechseln, mir fiel es besonders schwer, da ich ja schon einige Kilometer hinter mir hatte. Also: Zähne zusammengebissen und weiter.
Im nächsten Ort verpasste ich natürlich trotz Radkarte den richtigen Weg, den ich mir ausgesucht hatte. Ein Blick: Okay - dort hinten links führt auch ein Weg zu meinem nächsten Ziel. Warum also zurückfahren? Also folgte ich dem alternativen Pfad. Das hätte ich besser nicht tun sollen! Zunächst eine gut ausgebaute schmale Straße, etwas später aber ein sandiger Waldweg, der von Kilometer zu Kilometer immer tiefgründiger wurde. 
        Irgendwann wurde dann das Radeln nicht mehr möglich. Und so schob ich dann meinen Esel durch den Sand, einem imaginären Ziel entgegen, das laut Karte bald auftauchen sollte. Was dann zunächst auftauchte, waren zwei entzückende Reiterinnen auf ihren stolz dahin trabenden Rössern. Auf meine bescheidene Frage, ob wir nicht tauschen sollten, wehrten sie dann aber doch mit Vehemenz ab! Wenigstens aber trösteten sie mich damit, dass dieser Weg doch bald wieder einer befestigten Straße weichen würde.
        Und endlich, nach etwa einer Stunde, traf ich dann wieder auf eine Landstraße, die mich von diesem dünenartigen Sand erlöste. Leider aber erwartete mich hier die Sonnenglut, die schattenspendenden Bäume natürlich auf der anderen Straßenseite. Also noch mal kurz Rast gehalten, erneut Sonnencreme aufgetragen und weiter gefahren, Steigung und Abfahrt, Abfahrt und Steigung. Dazu etwas über 45º C, wenn mich mein Thermometer am Radcomputer nicht täuschte.
Die ersten Anzeichen von Schmerz machten sich dann ab km 100 bemerkbar. Ein leichtes Ziehen, Zwicken in einer Kniekehle, anscheinend warnte mich da ein Innenband, ist doch schön, wenn die einzelnen Körpersegmente sich melden, nicht wahr? Und der linke Oberschenkel sagte mir, dass er überlastet sei und ich ihn wohl erst ein wenig massieren sollte. Gesagt, getan. Neue Pause, leichte Massage der Beine, eine Magnesium-Kapsel geschluckt. 
Etwas später dann eine Zwischenmahlzeit aus leichten Nahrungsmitteln, Bananen, Milchreis, dazu "viel" Wasser. Gegen 14:00 ging es weiter. Die Beine hatten sich erholt, meine Sitzfläche dagegen machte sich bemerkbar! Trotz Radlerhose und ausreichendem Fettauftrag waren Beschwerden doch schon spürbar, während des Fahrens weniger, dafür jedoch nach jeder Pause!
        Aber das war nun gleichgültig, ich hatte ja erst den halben Weg hinter mir. Sozusagen auf dem Zenit schlug ich nun den Rückweg ein, natürlich auf einer anderen Route. Die Hitze machte sich nun doch deutlich bemerkbar. Und dann der Wind; unerklärlicherweise hatte er sich gegen mich verschworen und wehte ständig von vorn. Die Beine schmerzten, die Sonne brannte auch um 15:00 noch unbarmherzig und jede Steigung, die in der Ferne sichtbar war, wurde von mir mit einem Aufstöhnen begrüßt. Diese selbstgewählte Tortur ging zunächst etwa 90 Minuten weiter, dann die nächste Ortschaft.
        Mein suchender Blick fand genau das, was ich seit längerer Zeit ersehnte: Eine Eisdiele. Kaum vorstellbar, wie man sich so auf etwas freuen kann, das nur in der Einbildung existiert und dann plötzlich auftaucht. Endlich »Halt«. Das Absteigen fiel schon schwer, dann mit müden Beinen auf die Terrasse gewankt und ein schattiges Tischchen gesucht. Und schließlich in Eis geschwelgt - selten habe ich mich so über ein Eis gefreut wie hier zu diesem Zeitpunkt! Am liebsten hätte ich mich hineingelegt.
        Den Genuss zögerte ich lange hinaus, ich wusste ja, dass es weiter gehen musste, schließlich lagen noch ca. 80 km vor mir. Kurz ein Handy-Anruf zu Hause. »Ja, alles in Ordnung, keine Probleme, macht euch keine Sorgen, alles im grünen Bereich!« Wobei das »Grün« schon längst zum »Orange« gewechselt war!
Oh großer Manitou, ich brauchte ungeheuer viel Selbstüberwindung, damit ich mich wieder mit Elan auf den Sattel schwingen konnte.
        Das heißt, mit dem »Schwingen« war es nicht so toll. Unter schmunzelnden Blicken der anderen Eiscafé-Gäste schaffte ich es dennoch, Ledersattel und Sitzfleisch in eine geeignete Position zu bringen, die es dann zuließ, den Weg fortzusetzen. Immer noch die strahlend schöne Sonne, diesmal jedoch von der anderen Seite. Der Bräunungsprozess musste ja wie auf dem Hähnchengrill von allen Seiten geschehen. Und wie ein Brathähnchen kam ich mir letztlich auch vor; nur haben die es besser, sie brauchen keine Wegsteigungen mehr bewältigen!
Nach weiteren zwei Stunden wieder eine Pause eingelegt, mein Wasservorrat ging zur Neige. Ein Supermarkt auf der grünen Wiese lud mich äußerst werbe-freundlich ein, ihn zu besuchen. 
          Gesagt, getan! Die junge Dame an der Kasse schaute mich mitleidig an, allzu oft wird ihr sicher nicht solch ein Trottel begegnen, der bei 45° in der Sonne auf dem Rad seine Kreise zieht! Nichtsdestoweniger stärkte ich mich draußen irgendwo im Schatten ausgiebig, Bananen, eine Schale Erdbeeren und ein Müsliriegel, dazu ein Liter pipiwarmes Wasser! Kühle Getränke waren leider nicht mehr im Laden vorhanden.
        Danach erneut das vermaledeite Aufsitzen. Dann der linke Oberschenkel, der wieder einmal seine Warnsignale aussendete. Ich beruhigte ihn mit zärtlichem Streicheln, anschreien konnte ich ihn ja nicht, er hätte das missverstanden und eine Revolution gestartet.
         Die letzten 30 Kilometer bewältigte ich glücklicherweise ohne Steigungen, die Sonne hatte ihren Streit mit mir aufgegeben und zog sich langsam in ihre Kemenate zurück. 
So war es dann doch noch ein ziemlich angenehmes Reiseende; als ich gegen 20:00 Uhr auf der Elbbrücke war, die ich am Morgen entgegengesetzt überquert hatte, kamen mir die gefahrenen 230 km gar nicht mehr so lang vor. Und dann lockte ja auch die kalte Dusche, die ich ausgiebig genießen wollte...

Warum ich mir das nun angetan habe? Tja, im Grunde genommen weiß ich es selbst nicht. Oder doch, siehe oben: Die eigenen Grenzen erfahren.
Und zudem: Es war ja nicht das erste Mal! Unzählige Male bin ich mit dem Rad schon durch Europa geradelt, Tausende von Kilometern habe ich hinter mich gebracht.
Aber damals war ich auch noch keine achtzig Jahre alt...

©by H.C.G.Lux

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Kommentare (6)

ehemaliges Mitglied

Hallo, lieber Pan,
was für ein schöner Radelbericht, man spürt tatsächlich selbst deine Anstrengungen, so als wenn man mitfahren und mitleiden würde.👍😉 Und bei der Strecke von 230 km am Stück (was für eine Mörderstrecke) auch kein Wunder, die würde ich gar nicht schaffen. Bei mir persönlich ist bei 50 km Schluß und die schaffe ich auch nur, weil ich den ganzen Sommer über trainiert habe.😆
Ein schönes Wochenende wünscht
Jutta

Pan

@Juttchen  
Ach Jutta, heute sieht es schon ein wenig anders aus, aber dennoch, Du weißt ja: Wer anfängt, kann verlieren. Doch wer gar nichts tut, hat schon verloren!
Grüßchen von Horst

Syrdal


Ja, lieber Pan, so ist das, wenn man sich im Geiste noch so richtig taff und kräftig und leistungsfähig und unternehmungslustig und… und… und… fühlt und deshalb allzu gerne mal wieder „Berge versetzen“ möchte. Wer kennt das nicht, es geht mir ja selbst oft so. Aber sehr bald beim Lesen deines mitreißenden Radlerberichtes kam ich dann doch schon in eine wahrhaft mitleidige, ja sogar in eine nahezu physisch mitleidende Stimmung, die mir dann spätestens beim „Eisbecher“ zur abschreckenden Warnung wurde mit der eindringlichen Lehre, jedweden Gedanke an eine solche oder auch nur im mindestens ahnbar ähnliche Tour schon beim leisesten Anflug des aufkommenden Verlangens vehement und konsequent zu verjagen. – Hoffentlich erinnere ich mich dank deiner „Grenzerfahrung“ dann auch daran, wenn es mich mal wieder juckt, den Nanga Parbat zu besteigen. Doch jetzt weiß ich: Viel lieber sind mir die ehrbaren Ruhebänke in den sanften grünen Auen der für „alte Spaziergänger“ sehr bequemen sonnenbeschienenen Niederungen…

...das schwört heute mit freundlichem Radlergruß
Syrdal


Nanga Parbat.jpg

Pan

A ch ja - das mit dem "Berge versetzen"  hatte schon seine Zeit.
Heute sind sie auf "Maulwurfhügelgröße" geschrumpft.
Trotzdem - da merkt man, was 5 Jahre im Alter ausmachen.
Mit Radlergruß zurück
von Horst🚴

MissMia

Meine vollste Bewunderung, fürs Durchhaltevermögen.
Ich versuche es auch ab und zu, weniger mit dem Fahrrad, mehr mit meinen Füssen.
Aber ich merke immer wieder, ich verlasse ungern meine Komfortzone, sobald es an meine Reserven geht und es Überwindung kostet weiter zu wandern, gewinnt mein innerer Schweinehund die Oberhand.
Ich arbeite aber dran.
Sehr anschaulich wie du schreibst, habe das sehr gerne gelesen und wäre gerne jetzt so fit wie du mit achtzig Jahren.
Das macht Lust auch mal meine Wandererlebnisse zu beschreiben.
Danke, wirklich ein schöner Blog.

Pan

@MissMia  
Danke Dir, aber das ist auch schon 7 Jahre her, heute bin ich schon etliche Wochen älter ...
 


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