Ein (damals) moderner Erlkönig (1889)


Ein (damals) moderner Erlkönig
Gar vielfältig sind die Persiflagen und Umdichtungen, die Goethes „Erlkönig“ ertragen musste. In Radebergs Stimmungsgesellschaft „Harmonie“ machte man sich im August 1889 solche Gedanken. Und um ja keinen Fehler zu begehen schrieb man an die Goethegesellschaft. Man wollte wissen, ob es strafbar ist, ein solches bekannte Gedicht in neuer Version vorzustellen. Die Herren in Weimar antworteten innerhalb von vierzehn Tagen. Radebergs Hobbylyriker wurden aufgeklärt, dass es den Begriff der „künstlerischen Freiheit“ gebe. Zudem wünschte man den Radebergern viel Erfolg bei der Rezeption des deutschen klassischen Erbes. Und so entstand eine Radeberger Fassung. Am 4. Oktober war „Premiere“. Unter dem Titel „Der modernisierte Erlkönig“ trug Lehrer Kraft das Gedicht vor. Vorsichtshalber legte sich der Lehrer noch den Künstlernamen Edmund Jürgensen zu, damit es in der Lehrerkonferenz oder bei der Schulaufsichtsbehörde keine Schwierigkeiten gab.
Hier der Text:
Wer reitet dort durch die Nacht so spät
Ganz ohne Latern‘ auf dem Velociped?
Das ist der Vater mit seinem Sohn.
Oh, welche Gesetzcontravention!

Mein Sohn, was birgst Du so bang Dein Gesicht?
Siehst, Vater, Du den Nachtwächter nicht?
Den nächtlichen Wächter mit Knarre und Spieß?
Der führt mich sicher ins dunkle Verließ!

„Sie unnützer Bursche, was machen Sie hier?
Sie kommen sofort zum Schulzen mit mir!
Sie ritten ohn‘ Licht an des Grabens Rand,
Dass Sie das nicht durften, war Ihnen bekannt!“

Mein Vater, mein Vater, und hörest Du nicht,
Wie zornig der Mann des Gesetzes spricht?
Sei ruhig, bleibe ruhig mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind.

„Na, junger Schlingel, wird es nun bald?
Wenn Sie sich sträuben, so brauch‘ ich Gewalt!“
Mein Vater, mein Vater, oh wie es mir geht,
Der Nachtwächter zieht mich vom Velociped!

Dem Vater grauset’s, er reißt aus,
Den Sohn bringt der Wächter ins Spritzenhaus.
Dort muss er sitzen bis morgens früh:
„Fünf Mark Geldbuße bezahlen Sie!“

Gestaltet nach einer Veröffentlichung in der Radeberger Zeitung „Das Echo“ vom 5. Oktober 1889.
Der Begriff Velociped wurde eigentlich 1885 durch Empfehlung der deutschen Radfahrvereine mit Fahrrad übersetzt und in Gebrauch genommen, es dauerte jedoch bis nach 1918, ehe dieser Begriff aus dem täglichen Sprachgebrauch verschwand.
Eine „Gesetzescontravention“ ist eine Handlung, die gegen die Moral oder das Gesetz verstößt. Im Zuge der Ablehnung französischer Wörter in der Zeit des Ersten Weltkrieges verschwand der Begriff sowohl aus der Alltags- als auch aus der Juristensprache.


haweger

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Kommentare (2)

finchen selbst ich habe den "Erlkönig" schon umgedichtet.
wahrscheinlich ist der "Sprachrythmus" sehr geeignet dafür.
Einen schönen Sonntag noch....
das Moni-Finchen
Allegra das werde ich speichern.
Vor etlichen Jahren trug eine Dame aus Dresden uns beim
Abendessen "Des Sängers Fluch" in sächsischer Version vor - unvergesslich!
In meiner Familie wurde der Erlkönig mit dem Zusatz "im Nachthemd mit brennender Kerze" aufgesagt:
"Wer reitet so spät durch Nacht und Wind,
im Nachthemd mit brennender Kerze,
es ist der Vater mit seinem Kind,
im Nachthemd ... usw."
Einen schönen Sonntag wünscht Allegra

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