Zwanzig nach sechs. Ich bin aufgestanden – da musste mal jemand. Es wird Zeit, die Sachen zu packen – doch erst einmal Waschen uns Anziehen. Sachen packen? Wozu?

Irene möchte heute zum Klassentreffen nach Niesky. Niesky? Aus der Stadt stammt sie, wurde da vor zweiundsiebzig Jahren geboren. Doch die längste Zeit seitdem wohnt Irene schon in Berlin, seit sie geheiratet hat und mit ihrem verstorbenen Mann mitgegangen ist, Beide der Arbeit wegen.

Zurück nach Niesky? Nein! Auf keinen Fall! Da wohnt eben nur noch ihr fünf Jahre jüngere Bruder, hat das elterliche Anwesen übernommen. Hat dort eben noch feste Wurzeln, während Irene ihr Lebenszentrum Berlin ist, südöstliches Berlin, inklusive der Gräber von Mann und Sohn.

Niesky! Wo liegt das? Niesky liegt in der Lausitz. Niesky gehörte zu Niederschlesien. Nur ein Rest von Schlesien, den man nach der Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und Abtrennung der Gebiete östlich von Oder und Neiße verwaltungsmäßig dem Land Sachsen (wiedererstanden nach der Wende) zugeteilt hat.

Wie alles, was da im Osten und nahe der Staatsgrenze liegt, leidet das Land unter der Auflösung der DDR und der Abwanderung der jungen Bevölkerung, weil da einfach nichts mehr richtig läuft.

Und nun fahren wir mit Irenes Auto zum zweiten Mal in diesem Jahr nach Niesky. Anja, Irenes Tochter, hat eine Menge Sachen zusammengepackt, die da auf dem Polenmarkt gegenüber Niesky noch Absatz finden.

Eigentlich sind es nur noch Heimatgefühle und das „Wiedersehen des Buddelkastens“, die nach Niesky lenken, so, wie mich mein Heimatgefühl nach fünfundsechzig Jahren doch noch nach Berlin brachte. Irene hat mir das Nachhausekommen erleichtert.

Irgendwie ist uns Beiden eine Vertrautheit mit dem „Östlich der Neiße“, also mit Schlesien gewachsen. Und es sollte mich nicht wundern, wenn uns das Wetter beflügelt, nach dem Klassentreffen mal so eben wieder hinüber zu fahren – nur schade, dass man kein Polnisch kann.

Irenes Herkunft erkannte ich an dem Mitklingen von „Schlesisch“ in ihrer Aussprache – ganz einfach: als wir 1945 nach Hämelschenburg in Niedersachsen landeten, kamen 1946 die echt Vertriebenen, Schlesier und Ostpreußen, auch dort hin – man hörte ihre Sprache, erfuhr aus diesem „Heimweh“ so vieles von ihren Heimaten, fühlte mit. Berlin war „out“ und wir eben auch ohne die „Heimat“.

In Berlin sagte man früher: ein echter Berliner kommt aus Schlesien! Ich nenne nur zwei Bahnlinien, die das in damaliger Zeit unterstützt hatten: „Berlin Schlesischer Bahnhof – Breslau“ und „Berlin Görlitzer Bahnhof – Görlitz, Glatz, Breslau“. Und an der Görlitzer Strecke, in Eichwalde wurde ich mit meinen Geschwistern neun Jahre lang groß.

So war es eben dieses „gemeinsame“ Zuhause, das Irene und mich via Internet zusammenführte. Und so geht es mit dem vollgepackten Auto raus aus Berlin, die Autobahn gen Südost, in Bad Muskau mal schnell polnisch tanken und dann mit voller Wucht gebremst in der Werkmannstraße in Niesky.
Adieu!
ortwin

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Kommentare (1)

ortwin Tja, wir sind früh gestartet. Alles lief gut. Anfänglich ging es nur Stop and Go bis zur Autobahn, typischer Berufsverkehr. Doch dann konnte Irene dem Wagen die Sporen geben. Bald lag auch der Berliner Außenring A10 hinter uns. Die Görlitzer Strecke wird auf sechs Spuren ausgebaut, also ab und an Baustellen - doch es lief - und: Laster, ab und zu im Pulk. Aber es ließ sich fahren.

Wie gesagt: Tanken "jenseits" von Bad Muskau. Als wir dann zurück aus Polen weiter in Richtung Niesky rollten, setzte sich so'n Auto mit Blaulicht vor uns - man hatte der es eilig! - und "FOLGEN". Nun rechts ran. Der Zoll war neugierig, was da auf der Rückbank für eine Koffertasche (östlicher Art) lag. Das wollten sie wissen, was da drin war. Wir nahmen es sportlich und fröhlich auf "die Jungs brauchen doch auch ihr Erfolgserlebnis" - nur war es eine Art Frühsport ohne Protokoll. Alle vier lachten wir: die Sonne kam aus dem Neben heraus.

Zum Mittagessen waren wir superpünktlich in Niesky angekommen.

Inzwischen hat der LapTop Kontakt mit der Außenwelt bekommen.

Ich grüße herzlich
ortwin

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