Ein Praktikumsbericht


Ein Praktikumsbericht
 
  
Beim Durchschauen alter Aktenordner lässt sich so manch Interessantes finden. So auch meine drei Praktiumsberichte, die ich während meines Psychologiestudiums in den 70er und 80er Jahren an der Freien Universität Berlin absolvierte. Ein Praktikum in der Neurologisch-Psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses Berlin-Wilmersdorf in der Zeit von September 1979 bis Mitte Oktober 1979. Ein Praktikum in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin in der Zeit von Mitte Juli bis Ende August 1980.  Und ein Praktikum beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst in Berlin-Schöneberg in der Zeit von Mitte Juli bis 9. Dezember 1981.
 
Nun ist ja gewissermaßen absehbar, dass über kurz oder lang alles geschreddert und weggeworfen wird. So weiß ich zum Beispiel, dass meine Diplom-Arbeit, die ich im Februar 1984 im Fachbereich Psychologie und Sozialwissenschaften I an der Freien Universität Berlin eingereicht hatte, physisch dort nicht mehr vorhanden ist! Die Diplom-Arbeiten werden nach 30 Jahren entsorgt.
 
Ich finde es sehr schade, wenn so alles einmal geistig Produzierte einfach verloren geht. Zwar kann ich hoffen, dass meine Nachkommen wenigstens meine Diplom-Arbeit aufheben werden. Für meine Praktikumsberichte wird dies aber bestimmt nicht zutreffen. Deshalb habe ich mich entschlossen, einen der drei Praktikumsberichte hier einfach mal in einem Blog zu veröffentlichen. Es ist der Bericht über mein damaliges Praktium in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik im Sommer 1980. Zwar haben sich die Kliniken, vor allem auch die Psychiatrie inzwischen doch stark gewandelt – man kann jetzt bei YouTube viele Videos dazu anschauen – jedoch ist so manches auch heute noch Nachdenkenswerte  in meinem alten Praktikumsbericht vorhanden. 
 
13. August 2018
 
Angeli44
 
 
.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-
 
 

 
 
Vorname Nachname                                                    
Straße HausNr.
Ort                                                             Berlin, den 4. 11. 1980
 
 
 
Praktikumsbericht
 
 
Vom 15. Juli bis zum 30. August 1980 war ich als Psychologie-Praktikantin in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik (KBoN). Frau W., Psychologin der Rehabilitationsabteilung der KboN (Stationen 12 und 12a) erklärte sich bereit, mich und eine weitere Kollegin der Psychologischen Instituts während dieser Zeit zu betreuen.

Das Praktium war für mich überaus lehrreich.  Die Konfrontation sowohl mit den verschiedensten Bereichen in der Klinik als auch mit den persönlichen Schwierigkeiten, die auftreten, wenn man sich mit psychischen Erkrankungen und deren Auswirkungen auseinanderzusetzen hat, ermöglicht mir für mein jetziges Hauptstudium eine gute Orientierung.
Prinzipiell hatten wir als Praktikanten zu allen Bereichen der Klinik Zutritt. Wir hatten Gelegenheit teilzunehmen an:
 
1. Ärztekonferenzen
2. 14-tägigen Psychologen-Treffen
3. Visiten auf allen Stationen (mit Ausnahme der Kinderstation    und der Patienten-Vorstellungsgespräche)
4. Ärztebesprechungen auf der Station 12 und 12a sowie – bei Anfrage – auf anderen Stationen
5. Ärzte- und Psychologen-Fortbildungsprogrammen
6. Therapie-Programmen:
- Musikgruppe der Rehabilitationsabteilung (REHA)
- Tanzgruppe der REHA

Seite 2
 
- Kochkurs der REHA
- Ausflüge mit Patienten der REHA
7. der Beschäftigungstherapie
8. der Arbeitstherapie
9. der Beschäftigung der Patienten in den Behindertenwerkstätten
10. Stationsrundgesprächen (Treffen der Patienten z.B. der Stationen 12 und 12a, um auf der Station vorhandene Probleme zu diskutieren)
11. Tanz- und Musikveranstaltungen der KBoN („bunte Abende“)
12. Einsicht in die Krankengeschichten
13. Möglichkeit der Co-Therapie bei der Gesprächs-Psychotherapie bei Frau W.
14. Diskussionen und Gespräche (Supervisionen) mit Frau W.
 
Dieses vielfältige Angebot erlaubte, sowohl die äußeren und inneren Strukturen der Klinik kennenzulernen als darüber hinaus mit einzelnen Menschen und deren Problemen konfrontiert zu werden und erste Therapieerfahrungen zu sammeln.
 
I. Strukturen der KBoN
Organisatorische Struktur
 
Die bisherige organisatorische Struktur der KBoN erfährt ab September 80 eine Neugliederung, nach der
1 Abteilung Neurologie – 1 Abteilung Rehabilitation – 2 Abteilungen allgemeine Psychiatrie – 3 Suchtabteilungen – 2 Abteilungen Gerontologie – 1 Abteilung Forensik – 1 Abteilung Oligophrenie – 1 Abteilung internistische Psychiatrie und 1 psychotherapeutische Abteilung eingerichtet werden. 
 
Seite 3
 
Außerdem existieren weiterhin noch 6 Außenstellen inform von Pfleglingsheimen; kleinere Häuser, in denen ungefähr jeweils 80 Patienten untergebracht sind.
Die neue Struktur unterscheidet sich von der alten vor allem darin, daß nun gleichgelagerte Fälle jeweils in einer Abteilung zusammengefaßt werden und die Stationenanzahl von 32 auf 12 (mit entsprechender Zunahme des Volumens) gesenkt wird. Die bisherige Kinderstation wird ganz aufgelöst.
Zur Zeit meines Praktikums befanden sich ungefähr 1700 Patienten in der KBoN und ca. 430 Patienten in den Pfleglingsheimen. Den ursprünglich 32 Stationen stehen 8 Chefärzte vor. Die Anzahl der Ärzte ist mir nicht bekannt; das Verhältnis zu den Chefärzten dürfte aber ungefähr 1:3 oder 1:4 sein.

Die Psychologen arbeiteten bisher – aufgrund ihrer geringen Anzahl – abteilungsübergreifend. Das bedeutet, sie versorgen jeder für sich mehrere Stationen, die in unterschiedlichen Abteilungen angesiedelt sind.  Viele Psychologen-Stellen sind – obwohl Verbesserungen ständig diskutiert und geplant werden – Halbtagsstellen, so daß entweder die Betreuung der Patienten vernachlässigt werden muß oder aber die Psychologen über ihre Einstellungsbedingungen und die Bezahlung hinaus tätig werden müssen. Mitte des Jahres 1980 waren 9 ganze Psychologenstellen vorhanden, wovon 5 ganztags und 8 halbtags besetzt waren. Im Zuge der Neustrukturierung der Klinik sollten auch die Psychologen-Stellen angehoben werden. Die Psychologen forderten 15 neue Halbtagsstellen. Aus den Diskussionen auf dem Psychologen-Treffen vom 16. Juli d.J. ergab sich jedoch,
 
Seite 4
 
daß die Leiterin der Klinik hierfür keinerlei Möglichkeiten sieht. Im übrigen waren die Psychologen bisher alle der III. medizinischen Abteilung zugeordnet, obwohl sie auch auf anderen Abteilungen arbeiteten, und konnten nur dort über einen gewählten Vertreter im Sinne des LKG an Entscheidungsvorgängen in der Klinik beteiligt werden.
An anderen Berufsgruppen sind Beschäftigungstherapeuten, Sportlehrer, Tanz- und Musiklehrer, Sozialarbeiter und Pflegekräfte vorhanden.
 
 Kompetenz-Struktur

Sämtliche letztendlichen Entscheidungen hinsichtlich der Behandlung eines Patienten und seines weiteren Lebensweges liegen eindeutig bei den Chefärzten. Es ist mir keine weitere gesellschaftliche Institution bekannt, in der in dieser Eindeutigkeit Macht – entgegen allen in der Demokratie bekannten pluralistischen Denkansätzen – in den Händen so weniger Menschen konzentriert ist. Dies ist vor allem deshalb so außerordentlich gefährlich, weil die Wahrnehmung der bei den Patienten vorhandenen vielfältigen, ja nicht nur psychiatrischen Probleme nur unter fachspezifisch medizinischen Kategorien erfolgt. Die Persönlichkeit, Lebensmöglichkeit, Entwicklungsmöglichkeit eines Patienten wird auf seine Krankengeschichte reduziert. Mit anderen Worten: Einmal wird Krankheit so nicht als ein Vesuch eines Menschen verstanden, Lebens- und Umweltkonflikte zu kompensieren, sondern als Schwäche, die es zu beseitigen gilt (ohne jedoch an eine reale Beseitigung der Schwäche zu glauben). Zum anderen wird die Persönlichkeit eines Patienten noch weiter dadurch reduziert, daß er nach einiger Zeit seiner Krankengeschichte angeglichen ist.

Seite 5
 
Der Patient kann nur noch durch die „Brille“ seiner bisher über ihn aufgezeichneten und in der Krankengeschichte
niedergelegten Anamnese, Diagnose, Krankheitssymptome, Verlauf der Krankheitssymptomatik usw. wahrgenommen werden. Er ist nicht mehr er selbst, sondern seine Krankengeschichte. (Es ist im Prinzip gleich, welchen Lebensaspekt eines Menschen man herausgreift und analysiert. Legt man diesen Menschen auf diesen einen analysierten Lebensaspekt fest, so hat man ihn „halbiert“, wenn nicht „geviertelt“ oder „geachelt“ und ihn gleichzeitig durch das jeweilige Instrumentarium der Analyse noch einmal einer „Prokustesbett-Situation“ ausgesetzt.)
Nun ist weiterhin bekannt, daß das Instrumentarium der heutigen Psychiatrie (und das gilt auch für die KBoN) hinsichtlich Diagnostik und Therapie sich fast ausschließlich auf einschlägige Tests und Medikation beschränkt. Die Tests mögen vielleicht die jeweilige gegenwärtige Persönlichkeitsstruktur eines Patienten erkennbar machen; welche Potentiale dem Nichtpatienten jedoch latent zur Verfügung stehen, vermögen sie nicht anzuzeigen; die jeweilige Medikation ist nur imstande, aktuelle, offensichtliche Krankheitssymptome zurückzudrängen und zu vermischen. Es ist also nicht verwunderlich, wenn nach derartiger Verfahrensweise in der Psychiatrie praktisch keine Heilungen konstatiert werden, was u.a. auch darin seinen Ausdruck findet, daß jeder „ordentliche“ Psychiater psychische und soziale Schwächen sowie seelische Störungen als unabwendbar bei einem Teil der  Menschen annimmt.
Bei den Psychologen der KBoN ist ein Bestreben sichtbar, die starren, zentralistischen Kompetenzstrukturen – mit allen sich
 
Seite 6
 
daraus ergebenden Konsequenzen – langfristig zu durchbrechen. Hierfür gibt es verschiedene Ansätze:

1. Die Psychologen fordern, organisatorisch den medizinischen Abteilungen zugeordnet zu werden, in denen sie tätig sind, um an Entscheidungsprozessen teilnehmen zu können. (Inwiefern die Neugliederung der Klinik diese Forderung bereits erfüllt, bleibt abzuwarten.)
2. Sie bemühen sich unabhängig von schon rechtlich abgesicherten Möglichkeiten um eine Kompetenzerweiterung in dem jeweiligen Bereich, in dem sie arbeiten. Sie versuchen, in Gesprächen mit anderen in den jeweiligen Abteilungen beschäftigten Mitarbeitern (Sozialarbeitern, Pflegern, Beschäftigungstherapeuten und auch Ärzten – in den jeweiligen Ärztebesprechungen) und den Patienten ein besseres Klima in den Stationen zu schaffen, um so die bisherigen starren Strukturen zu durchbrechen und langfristig an Kompetenzen beteiligt zu werden. Hin und wieder werden sie hierbei von meist jüngeren Assistenzärzten unterstützt.
3. Sie haben sich in einem Paper mit der Frage der bisherigen Psychodiagnostik auseinandergesetzt und sind dabei zu der Überzeugung gekommen, daß eine strikte Trennung von Diagnostik und Therapie äußerst ungesund sei. Sie plädieren also für das bisher so nicht praktizierte Zusammenfallen von Diagnostik und Therapie und für Teamarbeit auf den Stationen (siehe auch Punkt 2). Mit diesem Ansatz vertreten sie auf diesem Gebiet neueste wissenschaftliche Ansätze, die in der Diagnostik bereits ein Therapiegeschehen sehen.
4. Sie bemühen sich um die verantwortliche Leitung einzelner medizinischer Abteilungen, was bisher ausschließlich Funktion von Ärzten war. Hierbei müssen jeweilige juristische

Seite 7
 
Fragestellungen erörtert und abgeklärt werden. Aber die stärksten Barrieren, die es zu überwinden gilt, sind wohl nicht
die juristischen Fragestellungen, sondern das Festhalten der Ärzte an ihrer einmal gewonnenen Machtstellung.
Für alle diese Aktivitäten der Psychologen ist Zusammenhalt und Solidarität mötig. – Erste Anfänge scheinen in dieser Richtung in der KBoN schon gemacht worden zu sein. 


II. Kommunikationserfahrungen

Die Kommunikationserfahrungen möchte ich in zwei Kategorien fassen: Einmal in diejenige, durch die latente Ängste gegenüber psychisch Kranken und deren Lebenssituation wachgerufen wurden und aufgearbeitet werden mußten und zum anderen diejenige, durch die es möglich wurde, ein realistischeres Bild psychisch Kranker und ihrer Probleme zu erhalten und dabei gleichzeitig die Ohnmacht zu erfahren, nicht schnell und wirksam helfen zu können.

Zu 1.: Da ich zum ersten Mal in einer großen psychiatrischen Klinik arbeitete, drängte sich mir als erstes das Bild einer ungeheuer großen Anzahl kranker Menschen auf. Krankheit, die in unserer Gesellschaft letztlich zu Internierungen führt, war meiner Wahrnehmung bisher völlig entgangen, und umso erstaunter und entsetzter nahm ich diesen Teil gesellschaftlicher Realität zur Kenntnis. Fast die gesamte Zeit meinens Praktikums über versuchte ich, lange Wege innerhalb des Klinikgeländes zu vermeiden und auf kürzestem Wege meinen jeweiligen Arbeitsplatz zu erreichen. Dennoch begegneten mir auf dem Gelände und natürlich auch bei den jeweiligen Visiten und klinikinternen Veranstaltungen genügend Patienten der KBoN, deren Aussehen und Verhalten mich einerseits oft unangenehm

Seite 8
 
berührten und teilweise ängstigten, zum anderen aber auch zu einer Art jovialem „Solidaritäts“verhalten bei mir führten. Ich ertappte mich dabei, mein Verhalten ständig unter dem Gesichtspunkt größtmöglicher „Normalität“ zu kontrollieren, da ich nämlich des öfteren verhaltens- und auch aussehensmäßige Ähnlichkeiten mit den dortigen Patienten an mir feststellte, was es auf alle Fälle zu vermeiden galt. Es ist wohl so, daß man sich einerseits darüber wundert, nicht schon selbst längst zu den „Internierten“ zu gehören, zum andern aber gerade dies weit von sich weisen möchte, gerade auch in Anbetracht einer solchen Klinik wie Wittenau, deren gefängnisähnlicher Charakter einem ja sofort ins Auge springt. Es gab Situationen, z.B. bei Ausflügen, einem Kochkurs usw., in denen ich zwar zeitweise vergaß, daß ich hier gerade mit einer gesellschaftlich abgestempelten Spezies Mensch kommunizierte, jedoch wurde mein Vergessen zumindest dann hinfällig, wenn ich dann später mit den jeweiligen Krankengeschichten konfrontiert wurde. Dann konnte ich für alle Zukunft Herrn X oder Frau Y tatsächlich nur noch unter dem Gesichtspunkt seiner/ihrer Straftat (z.B. Sexualverbrechen an einem Kind), seiner/ihrer Ergebnisse bei Intelligenz- oder anderen Tests (die dann vielleicht einen IQ von 70 feststellten) wahrnehmen. Diese aus den Krankengeschichten herausgelesenen „Eigenschaften“ der jeweiligen Patienten sollten meinen Eindruck von diesen für immer prägen. Abgesehen davon konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß es fast eine Art voyeuristisches Vergnügen darstellte, so in den Krankengeschichten zu blättern und dabei auf so viel Leid, „Abartigkeit“ und gesellschaftliches Abseits zu stoßen. (Dies sollte nun keineswegs dazu führen anzunehmen, Praktikanten könne man – unter Umständen wegen fehlender Sittlichkeit oder

Seite 9
 
noch mangelnder Qualifikation – Krankengeschichten nicht anvertrauen. Vielmehr bestätigen sich an dieser Stelle noch
einmal meine auf S. 3 und 4 dieses Berichtes gemachten Ausführungen hinsichtlich der Festlegung von Patienten auf ihre Krankengeschichte und der Unmöglichkeit, ja Unwürdigkeit, Menschen in der dort gehandhabten Weise zu kontrollieren, zu beobachten und darüber hinaus hierüber auch noch genau Bericht zu führen.)

Zu 2.: Die uns betreuende Psychologin, Frau W., ermöglichte uns, an Psychotherapie-Gesprächen mit Patienten teilzunehmen oder auch von ihr allein geführte Gesprächstherapien im Nachhinein zu diskutieren. Dadurch wurde es uns möglich, differenziert die Probleme einzelner Patienten wahrzunehmen und sehr praktischen Anschauungsunterricht hinsichtlich durch Kompetenz-streitigkeiten verursachten Hin- und Hergezogenwerdens der Patienten zu erhalten.
So kommt es im Prinzip vor, daß Chefarzt, Oberarzt, Stationsarzt, Psychologe, Sozialarbeiter und vielleicht auch noch Pfleger hinsichtlich der zukünftigen Lebensgestaltung eines Patienten nicht nur für sich (sozusagen privat) unterschiedliche Anschauungen haben, sondern diese unterschiedlichen Anschauungen dem Patienten auch in Gesprächen mitteilen. Den Verwirrtheitsgrad eines Patienten, dem solches widerfährt, kann man sich ja ohne viel Fantasie vorstellen. Weiterhin passiert es, daß, nach der Erkentnis eines Patienten, sich am besten der Auffassung des Chefarztes zu beugen, da dieser ja sowieso letztendlich das Sagen hat, der entsprechende Chefarzt hinsichtlich der weiteren, für den Patienten geplanten Unternehmungen seine Meinung wechselt und sich so der Patient
 
Seite 10
 
nach vielleicht 5 oder mehr Visiten beim Chefarzt hinsichtlich seiner Lebensplanung wieder da befindet, wo er am Anfang
schon einmal stand. Diese innere – von mir beobachtete – Struktur muß verrückt machen, und mich hat eigentlich immer wieder gewundert, wie stabil einzelne Patienten sind, die dieses chaotische Spiel vielleicht schon seit einigen Jahren mitmachen müssen.

In der Anlage füge ich ein Schreiben bei, das ich mit einer Patientin der REHA-Abteilung Ende Oktober des Jahres bei mir zu Hause verfaßt habe. (Die Namen der betreffenden Patientin sowie der betreffenden Chefärztin habe ich weggelassen, um die von mir in meinem Vertrag mit der Klinik unterschriftlich verbürgte Schweigepflicht nicht zu brechen.) – Dieses Schreiben kann vielleicht annähernd den von mir oben ausgeführten Sachverhalt erhellen.

Die Psychologen sind natürlich bemüht, solche durch Kompetenzstreitigkeiten verursachten Informationswidersprüche aufzufangen und in Gesprächen mit Ärzten und Patienten klärend zu wirken. Aber gerade hier wird ihre fragwürdige Stellung innerhalb der Klinikstrukturen deutlich sichtbar. Angenommen, sie selbst vertreten eine genau entgegengesetzte Auffassung hinsichtlich eines Patienten, als sie der jeweilige Chefarzt äußert, wie haben sie sich dann zu verhalten? Sollen sie ihre, letzlich unwesentliche, Auffassung dem Patienten mitteilen, damit Informationswidersprüche schaffen oder sollen sie gleich in die Kerbe des Chefarztes hauen, von dessen Meinung sie aber eigentlich überhaupt nicht überzeugt sind?

Hinsichtlich der Einschätzung der Patienten und ihrer Kliniksituation mußte ich des öfteren schnell gefaßte Meinungen
 
Seite 11
 
und Beurteilungen revidieren, und zwar sowohl hinsichtlich des Schweregrades der Erkrankungen von Patienten als auch hinsichtlich der von mir zu leichtfertig eingeschätzten Interventionsmöglichkeiten der Chefärzte. Insgesamt konnte ich bei mir konstatieren, alle psychischen und psychosomatischen Erkrankungen zu bagatellisieren und sie zu stark nur unter dem Gesichtspunkt von Umweltschädigungen zu sehen. Also: Würden sich demnach die Umweltgegegenheiten für einen Patienten positiv verändern (bekommt er z.B. die Möglichkeit einer wirklich guten Betreuung, einer Berufsausbildung, einer Selbstversorgung in einer eigenen Wohnung, etc.), würde die Krankheit von selbst heilen. Oder: Konnte ein Patient durch sorgfältig geführte Gespräche, die ihm wieder Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen, dazu gebracht werden, seine bisherige apathische Haltung aufzugeben, war ich sogleich der Überzeugung, daß dies auch dem jeweiligen Chefarzt in den Visiten positiv auffallen müsse und er nunmehr in die von mir und dem Patienten gemeinsam entwickelten Zukunftspläne einwilligen würde. – In beidem irrte ich mich aber:
Es gibt fortgeschrittene Stadien neurologischer oder psychischer Erkrankungen, von denen aus es entweder überhaupt kein Zurück in das sogenannte normale Alltagsleben mehr gibt oder aber eine langwierige medikamentöse und/oder psychotherapeutische Behandlung notwendig ist, um auch nur annähernd einen Zustand zu erreichen, der es dem Patienten ermöglicht, in unserem Alltagsleben wieder Fuß zu fassen. Und von einem Chefarzt darf man nicht erwarten, daß er von einem Patienten geäußerte Zielvorstellungen hinsichtlich seiner Zukunft etwa überhaupt Ernst nimmt. Vielmehr hat er sich im allgemeinen bereits ein
 
Seite 12
 
Bild vom Patienten gemacht, das eigenes, selbstverantwortliches Handeln des Patienten nicht enthält. Natürlich kann ein solcher Arzt seine Meinung über den Patienten mit dessen Krankheitssymptomen jederzeit rechtfertigen, und es würde schwerfallen, dagegen argumentieren zu können.
 
Als Fazit sei noch der Hinweis erlaubt, daß in einer Gesellschaft, die den meisten ihrer Glieder verantwortliches Handeln verwehrt, diese eher von vornherein zu automatenhaften Arbeitskräften degradiert, dies gerade im Bereich der Psychiatrie, der Endstation menschlicher Degradation, besonders deutlich werden muß. – Tatsächlich wissen die meisten Patienten der REHA-Abteilung in Wittenau, mit denen ich darüber sprach, sehr genau, was für die Ärzte dort Rehabilitation psychisch Kranker bedeutet: die geistige und körperliche „Ermöglichung“ von Fließbandarbeit.
 
 
-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.
 
 
 
A N L A G E
zum Praktikumsbericht

 
 
Vorname, Nachname der Patientin     Berlin, den 24. 10. 1980
Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik
 
 
Seit Juni 1977 befinde ich mich in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik Wittenau. Ich befand mich von Anfang an in der Rehabilitationsabteilung der Klinik. Vorn 1978 bis 1979 arbeitete ich für ca. ein halbes Jahr in den Behinderten-werkstätten. Seit 1 ½ Jahren bin ich aufgrund eines immer wiederkehrenden Anfallsleidens krankgeschrieben.
 
Seit 1978 äußerte ich immer wieder ein Interesse, aus der Klinik entlassen zu werden und eventuell in einer Wohngemeinschaft zu leben (wobei die Möglichkeit bestanden hätte, von der Klinik ambulant weitebehandelt zu werden.)
 
Meine Wünsche in dieser Richtung konnten bisher nicht verwirklicht werden. Viele Gespräche mit der Chefärztin, Frau Dr. ... brachten diesbezüglich kein Ergebnis.
 
Seit September des Jahres wurde von Frau Dr. ... ins Gespräch gebracht, daß ich in ein Heim kommen solle. In ungefähr vier Gesprächen versuchte ich jedes Mal deutlich zu machen, daß ein Heim für mich auf keinen Fall infrage komme. (Ich mußte meine Kindheit und Jugend in einem Heim verbringen und habe heute als erwachsene Person – wie ich finde – einen berechtigten Anspruch darauf, mein Leben selbst zu gestalten.) Die von Frau Dr. ... angesprochenen Gründe für einen Heimaufenthalt – meine immer wiederkehrenden Anfälle und das Nichtvorhandensein einer Wohnung – kann ich keinesfalls akzeptieren. Es gib sehr viele Epileptiker, die außerhalb von Kliniken und Heimen leben und ihr Leben auch zu gestalten wissen. Daß ich nach drei Jahren Klinikaufenthalt keine eigene Wohnung mehr habe, darf als Grund auch nicht gelten. Wie hätte ich diese drei Jahre über eine eigene Wohnung noch finanzieren können?
 
Ich sehe in der Rehabilitationsabteilung der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik meine Interessen, Bedürfnisse und Wünsche keinesfalls mehr berücksichtigt. Vielmehr sehe ich, daß meine Bedenken überhaupt nicht mehr Ernst genommen werden und quasi über meinen Kopf hinweg bstimmt wird, was mit mir zu passieren hat.
 
Ich befinde ich in einer großen Notsituation und sehe mich daher veranlaßt, andere, außerhalb der Klinik bestehende Institutionen zu bitten, sich mit meiner Situation auseinanderzusetzen und mir zu helfen.
 
 
-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-
 
 
 Bild oben: Eigenes Foto, aufgenommen auf der Faschingsfeier der Senior*innen in der evangelischen Mittel- und Altstadtgemeinde Karlsruhe, Februar 2014.
 

 
 
 
 
 
  

Anzeige

Kommentare (4)

Christine62laechel

Sehr interessant, obwohl nicht nur leicht. Nun wird's nachgedacht.

Mit besten Grüßen
Christine

Angeli44

Danke, liebe Christine! Ja, so habe ich es damals, also 1980, erlebt. Inzwischen hat sich doch einiges geändert in den Kliniken. Ob immer zum Besten, ist aber die Frage.

Liebe Grüße und gute Wünsche für den Tag
Angeli Rose

Willy



Mit sehr viel Interesse gelesen, ohne ein Mensch vom Fach zu sein. Natürlich fast zwangsläufig) fiel mir (ohne dass dies mit ihrer Arbeit zu tun hätte) der Hochstapler, der sehr erfolgreiche Hochstapler, G.W. Postel ein.
Er erlangte mehr oder weniger Berühmtheit als Hochstapler, insbesondere durch seine mehrfachen Anstellungen als falscher Arzt (Psychiatrie) zwischen 1980 und 1995. Teilweise bekleidete Postel hierbei leitende Positionen und fertigte Gutachten bei Gerichten und ihm wurde weitere, noch höhere leitende Positionen angeboten.
Er wurde nicht wegen fachlicher Mängel enttarnt, sondern zufällig von Bekannten wieder-erkannt...
In kaum einen anderen medizinischen Bereich wäre ihm solch ein Aufstieg gelungen.
Das kann schon nachdenklich machen …
B.G.
Willy

Angeli44

Guten Morgen Willy! Das habe ich ja gar nicht gewusst! - Ja, schon bemerkenswert, eigentlich kaum zu glauben.
Wir haben uns damals schon noch durch alles "durchschuften" müssen.

Einen schönen Tag wünscht
Angeli Rose


Anzeige