Eine Reise ins Ungewisse


Herbst 1945.

Berlin erstickte in seinen Trümmern und war überfüllt mit Flüchtlingen. Gerade waren die westlichen Alliierten in ihren Sektoren angekommen – die Amerikaner besetzten Neukölln in Panzern mit geschlossenen Luken, die Russen hatten kurz vorher mit Lastautos und Panjewagen das Neuköllner Krankenhaus (aus)geräumt. Genau zwischen Abzug und Einzug wurde unser Schwesterchen Ilse in dem Krankenhaus operiert.

Mutter war in den Harz zur Großmutter gefahren. Da im Harz waren zuerst die Briten und Amerikaner eingezogen, bis dann die schon eroberten Gebiete von Mecklenburg, Mark Brandenburg, Anhalt, Thüringen, Sachsen, Slowakei im Tausch gegen die vereinbarten Berliner Sektoren für die Russen geräumt und an diese abgegeben wurden.

Mutter hatte im Harz Nachricht vom Vater vorgefunden, er war in Dänemark nach seiner Verwundung nach Schleswig-Holstein verlegt worden und hatte sich ins Ruhrgebiet entlassen. Also gedachte Mutter, mit uns in den Westen umzusiedeln anstatt, daß Vater in die Sowjetische Zone kommen konnte, was der Brite ja verhinderte.

Mutter schneiderte Rucksäcke zurecht, vorhandene Koffer waren zwecklos, weil es dafür in der siebenköpfigen Mannschaft nicht genügend lange Arme gab, so also Schultaschen, Beutel und Rucksäcke, daß jeder über drei Jahre etwas tragen konnte.

Wieder hieß es Abschied nehmen, dieses Mal in etwas Ungewisses.

Wir stiegen in den zwischen Königs Wusterhausen und Görlitzer Bahnhof in Berlin, jetzt auf eingleisiger Strecke pendelnden Zug, der uns bis Grünau mitnahm. Hier bestiegen wir die schon wieder, aber in Teilstücken auch auf dem nicht demontierten S-Bahngleis pendelnden Züge den Ring entlang. In Westend konnten wir dann das U.N.N.R.A.-Lager in der Sophie-Charlotte-Schule erreichen.

Ich frage mich heute immer wieder, woher Mutter alle die Informationen her hatte, wir hatten kein Telefon, es gab keine Zeitung, es gab einfach nur „Flüsterpropaganda“.

Das Lagerleben, wenn auch nur etwa zwei Wochen, war etwas Besonderes. Primäres Ereignis: die große Püste mit DDT, die täglich in die Kleider am Körper gesteckt wurde. Ohne Stempel darüber gab es nichts, was man zum Leben brauchte.

Zwei Buben, Beide von den Russen in Pommern aufgegriffen, zum Straßenbau bis an den Ural verschleppt, lagen in dem mit zehn Betten (oder waren es sogar noch mehr) versehenen Klassenraum, den auch wir zusammen bewohnten. Beide Jungs hatten Militärklamotten an, obwohl sie nie Soldat waren, so waren sie vom Russen wieder zurückgeschickt worden, krank. Der Ältere von Beiden saß oft teilnahmslos mit stierem Blick voraus am Bettrand, griff durch eines der wie im Schweizer Käse vorhandenen Löcher seines Unterhemdes, zog die geschlossene Hand wieder heraus, griff mit der anderen Hand nach dem Fund in der Hand und zerstörte das Getier mit hörbarem Knacken. Und das nicht nur einmal, damit war er zwischen den DDT-Pausen weiterhin beschäftigt.
Der Jüngere verstand sich auf’s Betteln und Kippensammeln, er war so behände und munter – für ihn mußte ich einmal meinen einen Stiefel ausziehen, womit Mutter an unsere Reisekasse kam, für 150 RM holten die Jungs für uns ein amerikanisches Weißbrot, für uns sieben Personen. Mutter gab von der Wäsche, die sie für den Vater mit eingepackt hatte, jedem der Buben einmal Unterwäsche ab.

Wenn im Hof die Thermokübel mit der amerikanischen Mehlsuppe mit zarten, kleinen, nur angelbaren Fleischstückchen geleert waren, machten wir uns über die an den Innenrändern noch haftenden Suppenreste her, unsere Mäntel erhielten dabei auch reichliche Portionen ab.

Es war sicher, daß der Brite bei seinen Rückfahrten von Berlin in den Westen auf seinen Lkw's Zivilisten mit durch die SBZ fuhr. So sollten wir dann auch irgendwann dran sein. Der Holländische Lagerarzt beschleunigte unseren Abtransport damit, daß er Mutter die beiden Buben und noch zwei Mädchen aus dem Kohlenpott, die die Russen in Pommern aufgegabelt und wie die Jungs verschleppt hatten, als zur Familie gehörend anvertraute, sie hinüber zu bringen.

Der Morgen kam, die Lkw’s, Bedfords, standen auf dem Schulhof. Während die Ladeflächen von Reisenden besetzt wurden, erlaubte mir der Britische Soldat, neben ihm in der Fahrerkabine über dem Motor Platz zu nehmen. Es ging die Avus entlang hinaus auf die Autobahn nach Westen. Auf den Brücken über die Betonpiste standen Russen mit ihren Gewehren. Der Britische Konvoi fuhr ruhig weiter, bis es zur durch Pioniere notdürftig instandgesetzten Brücke über die Elbe ging. Kurz darauf wurde ein Parkplatz angefahren, wo der Soldat einen Snack empfing. Schließlich hinter Marienborn und Helmstedt verließen wir die Autobahn und landeten in einem Lager seitab, Abschied von unseren Transporteuren.

Was das mal für ein Lager war, weiß ich nicht. Jedenfalls übernahm der dortige Lagerarzt unsere vier „Zusatzkinder“, steckte diese nach gründlichem Bad und einer Neueinkleidung ins Lagerhospital. Wir hatten uns Schwierigkeiten eingehandelt. Man meinte es gut mit den Ankömmlingen: man steckte noch Klumpen von Butter in den Kessel voll Milchsuppe, das vertrugen die meisten Mägen und Därme nicht, die Sitzreihen von Klos waren besetzt, und eigentlich wußte man nicht, ob man zuöberst oder zuunterst sich zu entledigen hatte.

Am nächsten Tag wurde Abschied von unseren „Zusatzkindern“. Auf einem Abstellgleis stand ein Zug mit Abteilwagen. Recht anstrengend, ohne Peron in die Abteile zu klettern mit dem Gepäck. Der Zug brachte uns nach Braunschweig. Von dort ging es weiter gen Westen. Eine Landkarte hatten wir nicht, man mußte also das Wissen aus dem Erdkundeunterricht und den letzten Luftlagemeldekarten anwenden, um in etwa den Reiseverlauf verfolgen zu können. In Braunschweig ging es weiter mit einem Zug über Hannover. Im ramponierten Hauptbahnhof hielt der Zug eine ganze Weile, ehe er sich weiter bis nach Wunstorf schleppte. Für die ganze Strecke hatte die Fahrt einen Tag ausgefüllt.

In der Nähe des Bahnhofs in Wunstorf lag eine Schule, wo man die Nacht auf Stroh in einem Klassenzimmer zubringen konnte. Im Hof hatte man in einem Verschlag einen großen Kessel aufgestellt, Kartoffelsuppe mit Schweinefleisch. Wir angelten uns den Schweinskopf, den man aus dem Kessel hinaus bugsiert hatte und der nun da im Dreck mit all seinem Fleisch verloren lag. Wir schnappten uns das Ungetüm und schabten die Fleischreste ab. Schließlich mußte doch einmal endlich der Hunger gestillt werden.

Am nächsten Morgen ging es wieder zum Bahnhof. Lange mußten wir warten, bis endlich am Nachmittag ein Güterzug hielt. Auf den offenen, mit Benzinkanistern gefüllten Wagons fanden wir unter vielen Mitreisenden zusammen Platz. Es war trockene Herbstluft, wir hatten Glück, daß es nicht regnete. Die Lokomotive voraus schleuderte Krümel aus ihrer schmutzigen Kohle über den Zug hinweg, traf die Reisenden damit, man durfte nicht in Fahrtrichtung schauen, sonst hatte man nicht nur einen „Elefanten“ im Auge.

Mußte man da oben, wo es keine Toilette gab, dann schmiß man ein paar Kanister über Bord, damit man sitzend den Allerwertesten außenbords halten konnte usw. usw. Mutter gab gegen abendliche Kälte an uns Bettlaken aus, in die wir uns paarweise einhüllen konnten. Von Wagon zu Wagon wurde Schwarzhandel betrieben. Der Zug rollte und rollte. Vor einer Behelfsbrücke wurde gehalten, ein Gegenzug mußte erst vorbei. Dann schaukelte unser Zug über eine Pionierbrücke von einem Ufer der Weser zum anderen. Es dämmerte allmählich. Die Sonne wollte im Abendrot verschwinden. Sie illuminierte schnell noch die Porta Westfalica in gelbrotem Licht. Ein so schönes, alle Probleme hinweg scheuchendes Schauspiel. Dann kam die Nacht heran. Noch immer rollte der Zug voran.

In Hamm in Westfalen heulten die Sirenen: Sperrstunde. Der Zug hielt eine Weile. Bald darauf sollten wir den Zug verlassen. Wir bekamen einen Zug mit lauter im Krieg aus den besetzten Ländern geklauten Packwagen, in einem Belgischen fanden wir mit einer Aachener Reisegruppe Platz. Ich sammelte alles Gepäck ein und machte mir darauf eine Liegestatt. Und weiter ging es durch das Dunkel der Nacht.

Die Wagons waren lose aneinander gekoppelt. Wenn die Lokomotive anzog, dauerte es einige Wagenlängen, bis der Anfahrruck unseren Wagon mitriß. Nun gut, doch als ich da auf meiner „Bettstatt“ mit Kopf voraus ruhte und der Zug seine Wagen beim Anhalten wieder aufeinander sausen ließ, knallte ich mit dem Kopf gegen die Wagonwand, der Sternenhimmel …

Wir mußten in Essen-Altenessen raus. Der Zug kam im Nebel in der Nacht zum Stehen. Wir stiegen aus, besser: es war ein Hinunterklettern, und nicht ganz einfach. Während Mutter und ich den inzwischen schon unten zwischen den Gleisen gelandeten Geschwistern das Gepäck noch herausreichten, rollte der Zug wieder los. Alles brüllte, bettelte um Halt. Der Zug rollte langsam, aber ohne Halt na so’n Kilometer weiter vor. Ein Schaffner kam mit seiner Karbidlampe heran, tröstete uns, müsse doch der Zug nur etwas vorziehen.

Im nebligen Morgengrauen fanden wir uns wieder auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Essen-Altenessen. Truppe komplett, Gepäck komplett, Alles in Ordnung. Der Bahnsteig war voller Leute, Kumpel, die von und zu der Arbeit fahren wollten. Ein Zug kam, Güterwagen und Personenwagen ohne Sitzgelegenheiten. Man mußte sich sputen, wollte man mitfahren. Mutter und die Geschwister fanden in einem Personenwagen Platz, ich klemmte mir in einem vorausfahrenden Güterwagen das mir überlassene Gepäck zwischen die Beine. Umfallen konnte man nicht, der Wagon war gefüllt wie ein Glas mit Spargelstangen, dicht an dicht. So ging es bis nach Oberhausen.

Oberhausen, hier mußten wir auf den Zug nach Hamborn warten. Gelegenheit für die „Bahnpolizei“ bei Mutter für unser mitgeführtes Gepäck zu kassieren – wer fragte da nach Gesetzen und Rechtmäßigkeit?! In Hamborn ging es zu Fuß über die Behelfsbrücke über den Emscher-Kanal hin zu der am anderen Ufer abfahrende Straßenbahn in Richtung Dinslaken. In Walsum verließen wir die Bahn. Noch einige Zehnmeter und wir standen vor einem geklinkerten Haus mit Laden.

Eine Frau mit lebhafter Stimme begrüßte uns, rief Alle zusammen, eine ganze Reihe von Namen. Und sie rief auch „Hans“ oder rief sie gar „H.-O.“ – damit war unser Vater angesprochen. Nein, nein, er weigerte sich, zu glauben, daß wir leben, hatte er doch das Schlimmste erwartet, bei dem Einmarsch der Russen, der so verbreiteten Propaganda und allen ihren daraus entstandenen Kurzschlußhandlungen.

Hier war erst einmal die Reise ins Ungewisse zu Ende. Was dann folgte, sah man weit positiver, hatte hoffnungsvollere Augen je weiter das Kriegsende sich entfernte. Eines war das Schönste: „Wir haben Alles heil und gesund überstanden!

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Kommentare (2)

ortwin Guten Morgen, heute am 4.Adventsonntag!
Ach, weißt Du, das sprudelt im Augenblick so aus meinem Inneren heraus, da muß ich schreiben.
Und darin bestärkt mich meine Irene, mit der ich nun heuer das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel in Berlin - im letzten Jahr war das in Ingolstadt - feiere.
Mag es auch draußen kalt sein, das gehört doch zum weihnachtlichen Feste, so werden wir das nachholen, was uns spätestens 1939 genommen und erst allmählig seit 1949 wieder zu erleben geschenkt wurde.
Dir ein schönes Fest beim Dahinfließen der Lahn, an deren Quelle (und die der Eder und der Sieg) ich mir einen Christbaum für meine Kinder schlagen durfte. Bis bald! Dieter
tilli Lieber Ortwin !
Alle deine Erinnerungen, gehen tief ins Herz. Das ist für unsere Generation.
leider unsere Kindheit, die wir nicht hatten. Gut,das heute keiner unserer Kinder solche Erinnerungen, haben wird.Hoffentlich auch nicht unsere Enkelkinder.Diese Hoffnung, ein Leben in Frieden gibt unseren Leben die Kraft,Vergangenheit zur vergessen.
Grüsse Tilli

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