Als ergänzende Anlehnung an Samaraab´s Geschichte "Michael - III ist die folgende fantastische Erzählung zu lesen:


Codewort: HDL


Entsorgung

Die Altgewordenen hatten einen entkronten Baumstamm herbeigeschleppt, seine Rinde abgeschält und den nackten Stamm im Zentrum ihres Ghettos abgelegt. Er sollte sie an das Vergangene erinnern. Vor wenigen Jahren war der Stamm noch eine mächtige Platane gewesen und hatte zusammen mit anderen den Weg zur Stadt gesäumt. Die Raumplaner argumentierten damals, die Bäume hätte man aus verkehrstechnischen Gründen fällen müssen. Nun sagen sie, das Straßennetz breche im Ghetto zusammen, wenn nicht auch dort die Straßen verbreitert würden. Sie glauben zudem, das "glitschig-schwarze Ungeheuer" beherberge gefährliche Viren, die schreckliche Seuchen unter der Bevölkerung hervorrufen könnten. Auf keinen Fall dürfe daher der Stamm liegen bleiben. Die Altgewordenen bestehen aber darauf. Ihre Stimmen zählen bei den Wahlen, bis sie mit siebzig entsorgt werden.
Ein alter, hagerer Mann mit einer starken Brille hat sich auf dem Stamm niedergelassen. Er trägt allen geltenden Regeln zum Trotz keine Atemmaske. Sein weißgegerbtes Gesicht hält er zwischen die Fäuste gepresst. In der nassen Kälte des späten Novembertages zittert sein Körper. Neben sich hat er eine große Tasche voller Bücher abgestellt. "Die letzten in der Stadt", sagt er, indem er auf die Tasche zeigt. Ich habe sie alle mehrmals gelesen und mein Leben lang sorg- fältig aufbewahrt.
Lange Nebelschwaden winden sich gespenstisch durch tiefe Straßenschluchten. Da und dort huschen Gestalten, die in orangerot gefärbten Overalls stecken, zwischen den Autos hin und her. Lichterketten, die aussehen als bestünden sie aus feurigen Augenpaaren, rollen im Schrittempo vorüber. Indem die Nacht hereinbricht leuchten die dichten Nebelstränge abwechselnd mal gelb und mal rötlich oder grün auf.
Meine neue Gasfiltermaske hat einen Kombi-Einsatz für Kohlenmonoxid und für Stickoxide, und die zusätzlich eingebaute Sprechautomatik arbeitet tadellos. Ich frage den Alten: "Frieren Sie nicht bei diesem scheußlichen Wetter? und warum tragen Sie keine Maske?"
"Die haben sie mir in der ZSH abgenommen", antwortet er.
"In der ´Zentrale für Sozial-Hygiene´", ergänze ich. "Man nennt sie im Volksmund auch Entsorgungsanstalt."
"Ach ja?" bemerkt der alte Mann bedeutungsvoll.
"Wenn sie hier sitzen bleiben und keine Maske tragen, werden sie entweder erfrieren oder zuvor ersticken."
Der Alte lächelt wehmütig und sagt: "Ja, so ist es. Absicht! Die von der Zentrale wollen es so. Das haben sie mir mitten ins Gesicht gesagt. Ich bin gegangen, weil ich in ein einigen Tagen siebzig Jahre alt werde und mich vor der Entsorgung in der ZSH fürchte. Meine Kleider haben sie mir weggenommen, bis auf das Wenige, was ich auf dem Leib trage. Nur die Bücher durfte ich mitnehmen." Er ringt um jedes Wort.
"Ich war immer der Meinung gewesen, man ginge mit den Menschen in der Zentrale besonders liebevoll um", sage ich.
Der Alte lächelt: "Das ist richtig, solange man die Siebzig noch nicht erreicht hat." Er greift nach meiner Hand und bittet: "Setzen Sie sich neben mich. Das ´Zu-Ihnen-hinauf-Sehen´ strengt mich zu sehr an. Ich bin müde geworden. Meine Kräfte schwinden immer mehr". Er fügt hinzu: "Legen sie was unter! Der Stamm ist feucht und kühl. Es ist unangenehm, darauf zu sitzen. Dieser Ort hier ist wie für das Ende geschaffen."
Ich denke, vielleicht will er sich selbst bald ein En- de setzen.
Er muss meine Gedanken erraten haben. Als möchte er mich trösten sagt er mit leiser Stimme: "Sie brauchen sich nicht vor ihm zu fürchten, vor dem Tod, meine ich. Er ist unser Freund. Wir müssen lediglich bereit sein und mit ihm gehen, wenn er uns die Hand reicht."
Ich beginne zu frieren und rücke näher an den alten Mann heran.
"Ja, so ist es recht", sagt er. "Zusammenrücken. Das hätten wir beizeiten tun sollen. Jetzt ist es zu spät." Er blickt mich fragend an: "Können sie lesen?"
Ich nicke, bin wie benommen.
"Die bis jetzt hier vorbeigekommen sind, wollen meine Bücher nicht haben. Sie könnten nicht lesen, sagen sie. "Haben Sie Interesse daran?" fragt er mich und deutet auf die Tasche neben seinen Füßen.
"Oh, ja", antworte ich.
"Dann können sie die Tasche mit den Büchern mitnehmen."
"Dankeschön!"
"Vielleicht sind Sie schon bald der letzte, der noch ein Buch lesen kann. Hätten die Menschen doch nur nicht mit dem Lesen aufgehört!" klagt er.
"Nicht doch!" beschwichtige ich den alten Mann. "Sie benötigen warme Kleidung und eine gut funktionierende Maske. Das ist alles."
"Sie verstehen mich nicht", sagt er. Ich sitze seit ge- stern Mittag hier auf diesem Stamm. Die Verwaltung der ZSH hat mir untersagt, mich mit jemand zu unterhalten. Ich habe es trotzdem getan. Nun haben sie mir eine Frist gesetzt."
"Was heißt das, eine Frist gesetzt?" frage ich.
"Jemand, der meine sämtlichen Bücher liest, solange ich noch lebe und auf diesem Stamm hier sitze, könne die Entsorgungsvorschriften im Zentrum für einen Tag aufheben lassen", antwortet er.
"Das ist ja großartig. Ich kann gut und schnell lesen", sage ich. "Ich werde gleich damit beginnen."
Der Altgewordene lauscht plötzlich einer ganz anderen Stimme. Wie mir scheint einer, die bloß er vernehmen kann. Offensichtlich hat er dabei mein Angebot überhört.
Ich wiederhole: "Ich werde die Bücher alle lesen. Noch ehe Ihre Kräfte sie verlassen."
***
Am nächsten Tag kehre ich an den Stamm zurück und finde den Alten auf mich wartend. Er schaut mir wortlos und traurig ins Gesicht. Er ist schwach und elend geworden. Mir wird kalt.
Ich nehme ihn in meine Arme und sage: "Wir haben gewonnen." Dann schließt er für immer die Augen.


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Kommentare (2)

ehemaliges Mitglied bin immer wieder überrascht Lieber Horst, und das was Du da schreibst, kann man kaum wirklich gut beschreiben, aber deine worte sind bei mir.....zuhause..

was kann passieren.... ja kann
warum kann das ........ weil wir eins vergessen haben...

schreiben will ich nicht darüber weil es ins eine ohr rein geht und ins andere raus
sonst würde es anders seine....

Ich Güss Dich auf,s Herzlichste Rolf

PS.... es gibt noch Inseln zu Verkaufen....mit Wasser und reich an Früchten und guten Boden........ mit vielen kann man so was kaufen....... lächel


oessilady hallo Harfe,deine geschichte verführt zum nachdenken aber allemal!
Sie zeigt auf, wie es sein könnte,wenn alles des profites wegen vernichtet wird
und ein Mensch nur mehr zählt,wenn er produktiv für die Umwelt ist.
Na wir hoffen doch,daß diese Horrorvision nicht zutreffen möge.Aber diese Geschichte mit den letzten Büchern ? Ob die sich nicht einigen Tages so ähnlich zutragen wird ?
Bei diesem Digitalisierwahn ????? Ich gehöre auch zu den hier beschriebenen Altersgenossen aber ich könnte mir ein Leben ohne Bücher einfach nicht vorstellen.
Kann dazu nur das Stoßgebet zum Himmel schicken(Ich weiß ja nicht obs da oben einen gibt der für die Bücher zuständig sein mag? )Herr erhalte uns die Fähigkeit Bücher lesen zu können bis zum Abgang von dieser Welt!Was Essen für den Körper so ist das Lesen die nahrung für den geist! dies so gesehen von berta

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