Erinnerungen an die Berge ...


Erinnerungen an die Berge ...



Oft suche ich in meiner Vorstellung, wo ein gewisser Ort wohl hingehören könnte und finde diesen Namen dann ganz woanders …

Heute war es Büsingen. Nein, in meiner norddeutschen Umgebung gibt es keinen Ort dieses Namens. Auf der Karte fand ich ihn dann ganz im Süden unserer Republik, nahe dem Bodensee an der schweizer Grenze. Den Bodensee hatte ich zweimal in meinem Leben besucht, einmal ging 1965 unsere Hochzeitsreise dort hin, ein zweites Mal besuchten ich mit meiner Familie zehn Jahre später den Bodensee, machten aber auch Abstecher in die Schweiz, nach Liechtenstein und nach Österreich. Das Örtchen Büsingen lernte ich dabei nicht kennen.

Nicht nur die Nordsee, auch die Alpenländer, hohes Gebirge waren immer Sehnsuchtsorte für mich. Das führte dazu, dass ich mir nach der Hochzeit ein paar Tage im Süden unserer Heimat zu verbringen wünschte. An die See wollte ich dieses Mal nicht, auch nicht ins Sauerland nach Brilon-Wald in die Hütte (heimliches Ziel meines Mannes!) – als Hochzeitsreisenziel?? Nee … Der Bodensee lockte mich.

Mein Mann lieh sich den VW-Käfer seines Onkels und dann düsten wir los. Wir nahmen die westliche Route, durchs Ruhrgebiet in Richtung Schwarzwald. Für mich war es wunderschön, Deutschland in vielen Facetten zu sehen, dieses Mal mit dem Pkw, nicht mit dem Zug, wie ich es als Kind einige Male, einmal sogar mit einem herrlichen Sonnenaufgang, durch das Zugfenster zu sehen, erlebte. Auch irgendwo unterwegs einen Halt einzulegen, dort wo es uns gefiel oder der Hunger uns ein Lokal aufsuchen ließ. Aber schon im Schwarzwald war es uns fast nicht möglich, uns mit den Einheimischen in ihrem Dialekt zu verständigen, beispielsweise in einer Metzgerei, die draußen auch selbst gekochte Speisen anbot, uns verständlich zu machen. Da halfen nur noch Handzeichen … Aber wir konnten sehr lecker speisen!

Halt gemacht haben wir dann in Meersburg am Bodensee. Für Münsteraner ist oft die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in der Schule wichtig. Ihr erster Lebensraum liegt ja ganz in der Nähe meiner Heimatstadt, Schloss Hülshoff bei Havixbeck und Haus Rüschhaus nahe Nienberge. In der münsterschen Promenade steht ihr zu Ehren an einem kleinen Abhang eine Büste der Dichterin. An diesem kleinen Abhang unter dem steinernen Blick Annettes brachte ich später einmal meinem gerade zweijährigen Sohn das Schlittenlenken bei.



Als 14-Jährige habe ich mit den Mitgliedern meines Schreibmaschinenkurses einen Fahrrad-Ausflug nach Haus Rüschhaus gemacht, wo dort dann Rast gemacht wurde. Da lag es für mich Jahre später nahe, nun am Bodensee die Stadt zu erkunden, die Annette von Droste-Hülshoff später für sich wählte.


Aber natürlich wollten mein Mann und ich auch den Rheinfall von Schaffhausen sehen, sind in die Schweiz zum Flughafen Kloten (Basel) gefahren (1965 fast noch ein Abenteuer für uns) oder auch hinter dem österreichischen Bregenz hoch in die Berge gefahren. Aber bei ca. 2000 Höhenmetern war für uns Schluss. Mein Mann hatte Höhenangst und mir bekam kreislaufmäßig die Höhe nicht. Mir war, als hätte ich zu viel Sekt getrunken … In angenehmer Erinnerung habe ich die Bodensee-Hafenstadt Lindau. Es hätten noch viele Orte mehr sein können, aber mein Mann fürchtete, sein Onkel könnte später über die gefahrene zu hohe Kilometerzahl ärgerlich sein. Das wollte er nicht riskieren und wir mussten ja auch wieder nach Hause. Von fast ganz im Süden der Republick bis ziemlich in den Norden waren es 900 km!

Zehn Jahre später kam ich auf die Idee, mit unseren Kindern, inzwischen achteinhalb und fast vier Jahre alt, noch einmal in die Berge nahe dem Bodensee zu reisen. Dieses Mal hatten wir unseren eigenen Ford-Taunus, in dem wir die Ladefläche mit unserem Gepäck für immerhin vier Personen auslegten, darüber Decken und Kissen, falls unsere noch kleine Tochter dort eine Zeit lang schlafen wollte. Das sahen wir als nötig an, denn einerseits fuhren wir schon in der Nacht los, andererseits hatte sie die Gewohnheit, auf Autofahrten bereits nach einer Viertelstunde sich zu übergeben. Immer wenn sie im Fond des Pkws zwischen den Rücklehnen des Fahrer- und Beifahrersitzes stand, flog die Landschaft zu beiden Seiten zu schnell vorbei, was ihr stets Übelkeit verursachte. Aber sie war nicht davon abzubringen, auch zur Seite zu schauen. Also mussten immer ausreichend Plastiktüten mitgenommen werden. Kinder wie heute in ihren Kindersitzen im Pkw anzuschnallen war damals noch nicht möglich oder gar üblich.

Doch auf dieser Fahrt gab es von ihr keine solchen Anzeichen, obwohl sie auch dieses Mal an ihrem gewohnten Platz stand. Aber es war ja dunkle Nacht. Dafür legte sich unser Großer auf die bettähnliche Ladefläche und schlief, bis wir fast an der Grenze zum Vorarlberg waren. Und unsere Lütte futterte die ganze Zeit, was das Zeug hielt. Das wiederum hätte ich eher dem Jungen zugetraut. Aber der wollte nix.

Nun hieß es für meinen Mann eigentlich: gleich sind wir da. Aber es war noch eine elende Sucherei nach dem Örtchen
Raggal und von dort auch noch zum Ortsteil „Litze“. Ohne Navi war auch das in den 1970er Jahren noch abenteuerlich. Ich hatte dieses Mal zuvor von zuhause aus gebucht, eine kleine Wohnung in einem Bauernhaus, wo wir uns selbst versorgen wollten. Ich ahnte ja nicht, was der Name „Litze“ in Österreich bedeutete: Klar, Österreich ist Alpenland, auch an den Berghängen kriechen noch Ortsteile in die Höhe, bestehen meist aus verstreut liegenden Bergbauernhöfen, die sich quasi wie ein Band in einem Tal wie eine Litze bandartig zum eigentlichen Ort – vor allem im Bezirk Bludenz für Raggal und Sonntag – hochziehen, so noch zum Ort gehörend eben Litze genannt werden.

Irgendwann gab es keine asphaltierte Straße mehr, die nach Raggal-
Litze führte, nur noch den Wirtschaftsweg – für Trecker mit Schottersteinen gefüllt und gut befahrbar, aber für Pkw?? Mein Mann fluchte, ich fühlte mich schuldig, eine Unterkunft hoch oben in den Bergen gewählt zu haben. Und ständig hörten wir die nicht gerade kleinen Schottersteine unter den Wagenboden knallen. Hinzu kam die Höhenangst meines Göttergatten. Aber schließlich fanden wir doch noch den Hof, auf dem wir unsere Unterkunft gebucht hatten. Der Bauer hatte in seiner Scheune eine nagelneue kleine Wohnung für Gäste geschaffen. Wir waren die ersten Urlauber in dieser kleinen gemütlichen Unterkunft. Teilweise konnte man durch die Holzwände nach draußen sehen, wenn wir zum Bad gingen.

Wir waren müde, hungrig und durstig. Also fragten wir, wo wir etwas kaufen könnten. „Nein, hier oben gibt es keine Kaufmöglichkeit. Da müssen Sie schon nach Bludenz fahren. Aber im Kühlschrank habe ich noch ein paar Flaschen Bier, davon kann ich Ihnen welche holen.“ Natürlich wollte mein Mann ein Bier. Also verschwand der Bauer – und ward nicht mehr gesehen. Es dauerte fast eine Stunde, dann kam er mit zwei Flaschen Bier an unsere Tür. Auf die Frage, warum das so lange dauerte, gab er Antwort: ja, der Kühlschrank ist ein großer Gemeinschaftskühlraum für ihn und die weit verstreut lebenden Nachbarn und liegt auf halber Bergeshöhe. Da musste er erst hinunter und dann natürlich wieder hochstapfen. Allein eine Frachtfuhre von oben bedienen und am „Kühlschrank“ die gewünschten Flaschen in die Fuhre geben, um den Lastenaufzug wieder heraufzufahren ging ja nicht. Für uns Flachlandtiroler eine unvorstellbare Angelegenheit.

Naja, man richtet sich halt nach den Gegebenheiten ein. Speisen hatten wir mitgenommen, so dass erst einmal für diesen Abend alles okay war. Aber in der Nacht rumorte es im Kinderzimmer. Unser Sohn hatte alles von sich gegeben! Der Durchfall hatte seinen Kopf in Mitleidenschaft gezogen und das Erbrochene fanden wir noch zwischen seinen Zehen wieder. So eine schlimme Situation hatte ich noch nie erlebt!! Und es war mir fürchterlich peinlich, denn so als erste Urlaubsgäste hatten wir nun zumindest ein Bett samt Bettzeug total und eklig verschmutzt! Aber die Bauersfrau, selbt Mutter von drei jüngeren Kindern, sah das nicht wirklich als Problem an. Sie habe eine große Waschmaschine, in die (bis auf die Matratze) alles hineinpassen würde! Wir sollten uns keine Gedanken machen. Aber für den Jungen mussten wir nun doch einen Arzt oder zumindest Medikamente haben, um sein Erbrechen und den Durchfall zu stoppen. Es dauerte Stunden, bis der Doc – auch aus Bludenz – eintraf. Dann aber ging es unserem Sohn schnell wieder besser.

Nun hätten wir kleine Ausflüge machen können, aber unser Wagen versagte den Dienst! Wir musste zusehen, wie wir als ungeübte Norddeutsche in dieser Bergwelt unsere Freizeit verbringen wollten. Der Wagen musste in die Werktstatt in Bludenz. Eine Kopfdichtung, ein Teil für eine DM, war gerissen. Sie musste erst in Köln für diesen Pkw bestellt werden und es dauerte drei Tage, bis sie eintraf und eingebaut werden konnte. Es wurde eine Reparatur für eine Summe von 300 DM! Im Übrigen musste mein Mann in Bludenz auch noch Quartier nehmen, weil ohne Wagen kam er nicht wieder in die Berge zu uns in die Unterkunft.

Er war so bedient, dass er sofort von dieser Unterkunft wieder weg wollte. Obendrein hatten wir dort oben ab mittags den Nebel auf dem Tisch! Morgens herrlicher Sonnenschein mit großartiger Fernsicht, ab etwa 11 Uhr mittags gab es dicken Nebel! Aber als Langschläferfamilie ab mittags Ausflüge in die Berge zu machen, wo es stets nur mit Klettern bergauf und bergab verbunden war, und das bei Nebel, das wäre mit Kindern gefährlich gewesen. Die Bauersleute hatten ein Einsehen mit unserem Pech und ließen sich darauf ein, dass wir den Urlaub bei ihnen kostenfrei abbrachen.

Wir fanden dann eine Unterkunft in Thüringen (Vorarlberg), waren froh, nicht mehr oben in der hohen Bergwelt des Großen Walsertals vorsichtig sein zu müssen und übernachteten dort einige Male, bevor wir weiter zum Bodensee fuhren. Von Thürignen aus konnten wir sehr gut beobachten, wie sonnig es über dem Bodensee blieb und wie sich täglich der Nebel über dem Großen Walsertal wieder breit machte. Wir fuhren zum Bodensee und nahmen erneut in Meersburg Quartier.

Doch in diesem Jahr war es Ende Mai so heiß, dass es sogar eine Schnakenplage gab. Die Luft war erfüllt von diesen großen stechenden Viechern, so dass uns nicht viel anderes übrig blieb, als täglich mit einem Bodenseeschiff übers Wasser zu schippern, mal nach Mainau, öfter mal nach Lindau und immer wieder einfach nur, um auf dem Wasser zu sein …

Ich werde nie vergessen, wie sich unsere Kleine auf dem Schiff immer wieder darüber amüsierte, dass die Bugwelle an der Schiffswand hochspritzte. Sie hatte keine piepsige Kleinmädchenstimme, ihre Stimme war dunkel und ebenso ihr Lachen. Jedesmal, wenn sie vor Freude juchzte, lachte, lachte eine ganze Gruppe Menschen um uns herum, die nur deswegen dort stehen geblieben waren, weil sie das Lachen unserer Tochter gehört hatten, erneut hören wollten. So ein kleines Mädchen und diese Lache!!

Uns weiter im Umland des Bodensees umzusehen, dazu war es einfach zu heiß und die Schnaken waren überall. Lediglich einmal haben wir dann eine kleine Bergtour gemacht, einmal haben wir die Insel Mainau besucht. Eigentlich wollten die Kinder und ich gern mit der Gondel einen Berg hinauffahren und anschließend zu Fuß wieder herunter wandern. Aber auch vor einer Gondelfahrt hatte der Papa Angst, empfahl den Kindern, tüchtig zu klettern, zu laufen, damit er in der Gondel den Kindern nicht unangenehm auffiel. Lieber nahm er seine Tochter, wenn sie über Müdigkeit klagte, auf den Arm und trug sie eine Strecke den Bergweg hoch. Dass ihn viele Ängste plagten, erfuhren wir erst, als unsere Kinder erwachsen waren.



Aus diesem Urlaub weiß ich auch, wie gefährlich so ein leicht dahin plätschernder Bach im Gebirge sein kann. Wir kletterten in dem Geröll herum, ohne uns dabei etwas zu denken, suchte ein paar hübsch geformte Kiesel. Einige Tage später gab es ein starkes Gewitter und dann sahen wir, dass dieses Bächlein, dessen Wasserdurchlauf im Fast-Trockenzustand kaum zu sehen gewesen war, plötzlich als reißender Fluss sein Bett füllte. Dass es weiter oben auch noch einen angestauten See gab, von dem auch gelegentlich Wasser abgelassen wurde, das dann aufgrund der Menge und des Gefälles ebenfalls so reißend herunter strömte, dass es jeden mitgerissen hätte, der sich zufällig im Bachbett befand, erfuhren wir erst nach dem Gewitter.

Nie wieder war es möglich, als Familie oder auch später als Rentner nach Österreich oder in die Schweiz zu fahren. Mein Mann kannte das Sauerland zur genüge, hatte viele Ferienzeiten als Kind und Jugendlicher in einer Hütte bei Brilon-Wald verbracht und liebte es, die Leute, die ihn das erste Mal dort hin begleiteten, den steilsten Hang hinaufzuquälen, weil man dann, oben angekommen, einen weiten Rundumblick hatte. Doch das ist überhaupt kein Vergleich zu den Aussichten von den Höhen der Wanderwege in den alpinen Bergen. Aber von hohen Bergen, richtigen Bergen wollte er nie wieder etwas wissen.

So oft ich mit meiner väterlichen Familie als Kind auch auf einer der ostfriesischen Inseln war, es gab immer als Abwechslung alle zwei Jahre einen Urlaub in den Bergen,


als Neunjährige war ich in Unterwössen, wo mich nach dem Schwimmen im Freiband Oberwössens eine Wespe auf diesem Steg in den Po stach!,


Auf einem Spaziergang entdeckten wir dieses kleine Häuschen, das wohl Kindern aus dem nahen Ort als Spielhütte diente. Auch Reit im Winkel besuchten wir.

Drei Jahre später fuhren wir mit dem Zug über Kufstein nach Jenbach im Inntal, von wo uns die berühmte Zahnradbahn die steile Strecke nach Seespitz am Achensee hochbrachte. Wir machten viele lange Spaziergänge am See entlang, besuchten die eine oder andere Alm auch am Achensee entlang, wo der Weg manchmal recht schmal und nur hintereinander zu bewältigen war. Ich durfte sogar allein an einer Kleinbus-Tour durch Innsbruck über den Brenner nach Cortina d'Ampezzo teilnehmen.

Ich habe immer angenommen, dass unser Vater dieses Land zum Kriegsende auf der Flucht nach Hause kennen und wohl auch lieben gelernt hat. Diese mächtige Natur der Berge ist einfach überwältigend. Davon erzählt hat er nicht. Aber so sicher, wie er sich dort gab, habe ich daran kaum Zweifel.

Viele Jahre später erfuhr ich, als wir den Cousin meines Mannes in Duderstadt/Harz besuchten, dass es auch dort ein Örtchen mit dem Namen Lindau – wie am Bodensee – gibt. Und – als Westdeutsche groß geworden – wurde es aufgrund eines Berufskollegen plötzlich interessant zu wissen, dass es am Vorarlberg eben auch einen kleine Ort mit dem Namen Thüringen gibt. Das mir inzwischen gut bekannte Bundesland Thüringen wurde uns westdeutschen Schülern ja nie nahegebracht.

Das sind für mich so kleine Besonderheiten, die manchmal im Leben überraschen.

 

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