Familie Bayer

„Mama, die Frau Bayer ist doch ganz lieb.“
Frau Bayer hatte das kleine Mädchen mal wieder geknuddelt und stundenlang mit ihm gespielt.

Die Mama winkte ab und meinte leise, zum Vater gewandt: „Es reicht jetzt, ich will nicht, dass die noch einmal zu uns kommen.“

Familie Bayer wohnte in Hessisch-Lichtenau. Das Ehepaar wohnte mitten im Ort, hatte ein kleines Häuschen und eine Tochter namens Waltraud. Ob Waltraud damals auch mit zu Besuch nach Brühl kam, weiß ich nicht mehr.

Ich kann nur annehmen, dass Familie Bayer aus Dankbarkeit in unser Haus nach Brühl eingeladen worden war. Wobei Dankbarkeit wohl auch nicht so ganz der richtige Ausdruck war. Ich sollte es „Verpflichtung“ nennen. Jemand, der einem unter Einsatz des eigenen Lebens das Überleben gesichert hat, den „muss“ man doch dann mal zu sich nach Hause einladen. Oder?

Ich weiß nicht, mit welchen Gefühlen meine Mutter die Familie in ihr neues Zuhause eingeladen hatte, das sie mit meinem Vater und mit meiner Großmutter, Mutters Mutter, bewohnte. Das selbst gebaute Haus, berechtigter Stolz aller….

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Als im Sommer 1944 in Brühl auch die letzten jüdischen Mitbürger aufgefordert wurden, sich im Sammellager Köln-Müngersdorf einzufinden, schlug auch die Stunde für meine Mutter, die so genannte Halbjüdin, für meine Großmutter Alice und für ihren Mann Jakob (den Katholiken). Sie hatten schwere Zeiten hinter sich, nicht nur durch die Gefahren und Entbehrungen des Krieges. Jakob war zwei Mal zum Amt bestellt worden und wurde aufgefordert, sich als Arier von seiner Frau Alice scheiden zu lassen. Dann würde ihm nichts passieren. Jakob lehnte ab.

Nun aber war an einem bestimmten Tag das Haus zu verschließen, der Schlüssel beim Amt abzugeben, und man hatte sich des Morgens im Sammellager einzufinden. Oma Alice war am Ende ihrer Kraft und schnitt sich die Pulsadern auf. Allerdings quer, worüber später noch zu berichten sein wird. Die Familie bekam einen Aufschub von wenigen Tagen. Die wichtigsten Dinge, Schmuck, Möbel und Porzellan hatte man bei Verwandten und Bekannten eingelagert. Man sprach von „eingelagert“ und wusste doch, dass man nicht wiederkommen würde. Die Verwandten und Bekannten wussten es wohl ebenso.

In Müngersdorf wurde die Familie getrennt. Jakob kam – durch Fürsprache seines Vorgesetzten – nach Unterlüß bei Celle. Denn für ihn galt nun: Er hatte den „Gau Köln“ zu verlassen, weil er sich der Scheidung widersetzt hatte. Was Jakob dort vorfand, ist nicht überliefert. Er war jedoch nicht in einem Lager inhaftiert, sondern arbeitete bei einer Firma.

Inge und Alice blieben zusammen und kamen mit einem Transport von Köln-Deutz nach Kassel. Nach drei Tagen in einem dortigen Lager wurden sie weiter geschickt nach Hessisch-Lichtenau, wo sie zur Zwangsarbeit in einer Weberei eingesetzt wurden.
Während Alice schwere Arbeit am Webstuhl verrichten musste, hatte Inge das große Glück, im zentralen Büro der Weberei bzw. des Lagers eingesetzt zu sein. So war sie, was Informationen anging, „an der Quelle“. Was ihr und der Großmutter ein halbes Jahr später das Leben retten sollte. Das Leben konnte aber nur mit Hilfe von Familie Bayer gerettet werden.

Herr Bayer war ursprünglich der „Dorfpolizist“ gewesen. Nun hatte die SS ihn mit in den Wachdienst in der Weberei genommen. Es ist niemals darüber gesprochen worden, wie und auf welche Weise meine Mutter und Herr Bayer sich näher kamen. Er war „einer der guten“, erzählte mein Vater einmal, was immer er damit meinte, denn er war ja nicht dabei gewesen. –

Es gab jedenfalls eine Absprache, derzufolge im äußersten Notfall Inge und Alice zum Haus der Bayers laufen könnten und dort versteckt würden.

Im Büro erfuhr Inge eines Tages, dass das Lager binnen 3 Tagen zu räumen sei und alle Insassinnen (hauptsächlich ungarische und italienische Jüdinnen) nach Bergen Belsen gebracht würden.
Inge rannte in die Weberei, zerrte ihre Mutter vom Webstuhl weg und lief – nach eigenem Bekunden – mit ihrer Mutter an den Wachen vorbei in den Ort hinein. Die Wachen hätten sie zwar gefragt „wohin“, und ihre Antwort sei gewesen „wir sind gleich wieder da“, aber niemand habe sie wirklich gehindert. –
Mir ist bewusst, wie unglaubwürdig dies klingt, aber so hat es mir meine Mutter berichtet. Das ist das sehr wenige, das sie immer wieder sagte, wenn ich nachfragte.

Sie rannten zum Haus der Familie Bayer und wurden mehrere Tage lang auf dem Dachboden versteckt. Dann war das Lager tatsächlich geräumt, und die Amerikaner kamen. – Inge arbeitete ein halbes Jahr für die Amerikaner, bevor sie nach Brühl zurück konnten.

Am liebsten hätte Inge sicherlich keinen Kontakt zur Familie Bayer gehabt. Dieser Kontakt schlief auch irgendwann ganz ein.

Als ich vor einigen Jahren in Hessisch-Lichtenau war, war meine Suche nach Familie Bayer oder ihren Nachfahren leider erfolglos. Ich bin durch den kleinen Ort gegangen und habe versucht, nachzuspüren…wer war wo? Wo das Lager, wo die Weberei? – Nicht weit entfernt gab es auch eine Munitionsfabrik mit Zwangsarbeiterinnen. Inge und Alice haben noch Glück gehabt, dass sie nicht dort gelandet waren. Über die Textilwerke Hentschel ist relativ wenig überliefert. Nur Arbeitskarten zeugen von der Beschäftigung dort.

Inge hat, wenn sie bruchstückhaft vom Lager erzählte, gesagt: Es war unendlich dreckig und kalt. Tja, und das war es schon. Glaubhaft ist es auf jeden Fall, denn sie hat sich dort Gelenkrheuma geholt, das im Lauf ihres Lebens u.a. zu einem schweren Herzmuskelschaden führen sollte.

Zurück zu Familie Bayer: Ich als kleines Mädchen habe Frau Bayer unendlich geliebt. Sie war laut und anstrengend, aber sie war voller Leben, daran erinnere ich mich noch gut, Sie war eine quirlige Oma, während meine wirkliche Oma eher verhalten und ruhig war.
Ich bedauere sehr, dass ich als Erwachsene keinen Kontakt mehr zu Familie Bayer und ihren Nachkommen herstellen konnte.
 

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Kommentare (7)

Dnanidref

Eine schicksalhafte Geschichte aus den letzten Kriegstagen, danke dafür! Ich bin Anfang 1947 geboren, doch habe ich noch sehr viele schrecklichen Dinge dieser grauenvollen und unseeligen Zeit mitbekommen, zumal wir in Niederschlesien unter Polen aufwuchsen. Trotzdem wurde meine deutsche Mutter und mein slovenischer Vater bei den Polen sehr beliebt und es entstanden mit der Zeit viele schöne Freundschaften, denn wir hatten alle nichts, weder "Sieger" noch "Besiegte" und waren auf gegenseitige Hilfe angewiesen - eine lange schrecklich-schöne Geschichte, wie ich sie erleben durfte! Und noch heute bestehen herzliche Kontakte, obwohl wir im Mai 1956 unsere Heimat verlassen haben - verlassen "mußten".

Über all dies gebe es sicher viel zu erzählen ...
3 Schau Mutter.jpg
 

nnamttor44

Es ist offensichtlich eine Tatsache, dass wir Menschen auch schreckliche, traumatische Erlebnisse - wie Du, liebes Tannenmütterchen, sie in Deinem Bericht erzählst - tatsächlich über Generationen "vererben"! Es wäre eine Erklärung für viele, warum sie dies oder das irgendwie ablehnen oder bevorzugen. Oft wird über verschiedene Geschehen gar nicht geredet oder erzählt, aber irgendwann zeigen sich dann Zusammenhänge, die Erklärungen bringen.

Danke für Deine Geschichte, die ich sehr gerne gelesen habe

Uschi

 

Tannenmuetterchen

@nnamttor44  
Dankeschön für deinen Kommentar. Gestern abend hatte ich plötzlich Zweifel, ob es richtig und gut ist, das in einem Seniorenportal zu veröffentlichen. Es kann sein, dass ich Wunden aufbreche mit solchen Erzählungen. Gleichzeitig will ich nicht mehr "schweigen". Schweigen gab es in unserer Familie genug. Aber das Schweigen ist die schlechteste bzw. gar keine Lösung.

Ich wünsche dir einen schönen Tag.

nnamttor44

@Tannenmuetterchen  Tja, erst einmal Danke für Deinen Wunsch für mich zu einem schönen Tag.

Das ist auch so eine Sache: nach einer Stanzbiopsie erhielt ich heute die Bestätigung meines Brustkrebses. Das ist für viele eine schockierende Nachricht.

Ich verlor mit gerade sieben Jahren meine leibliche, 36--jährige  Mutter an Brustkrebs, hatte viele Jahrzehnte Angst, ebenfalls diese Diagnose zu bekommen. Nun steht diese, aber ich bin einfach nur zufrieden. Ich durfte Kinder bekommen, obwohl man mir weisssagte, dass das nicht möglich sei. Ich habe sie erwachsen werden erleben dürfen und in den letzten neun Jahren auch noch miterleben dürfen, dass meine Tochter - ebenfalls wider aller medizinischen Aussagen einen Sohn bekam, meinen einzigen Enkel.

40 Jahre älter geworden zu sein als meine Mutter und die Chance zu haben, heutzutage besser behandelt werden zu können als nach dem Krieg - mehr will ich nicht ...

Es gibt eben so einige Dinge im Leben, über die früher tunlichst geschwiegen wurde. DAS will ich nicht mehr und das hast Du mit Deinem obigen Bericht auch nicht mehr gewollt. Das finde ich richtig. Sicher gibt es andere, die die schrecklichen Kriegserlebnisse oder der Nachkriegszeit nie verwinden konnten, keine Chance bekamen, weil alles immer totgeschwiegen wurde. Aber solche Entscheidungen muss jeder für sich selbst treffen.

Auch Dir einen schönen Spätsommertag.

Syrdal


Es ist eine von zigtausend Geschichten über das Schicksalhafte der „letzten Jahre“, die im Mai ‘45 zu Ende kamen, gottlob… Doch die Wunden der Schrecknisse sind den Überlebenden geblieben, bis heute und sie erstehen immer wieder neu beim Lesen dieser Berichte. Vieles kann man nicht vergessen!

Syrdal

Tannenmuetterchen

@Syrdal  
Ich danke dir für deine Worte. Ja, man kann es nie vergessen. Ich bin jetzt 64, meine Eltern sind längst verstorben. Dass sie meistens geschwiegen haben zu dem Thema, konnte ich nie verstehen. Verdrängen setzt sich fort in den Generationen, und ich habe lange gebraucht, das Schreckliche zur Sprache zu bringen. - Ich hatte ein wunderbares Seminar bei Sabine Bode, die viel zum Thema Kriegskinder und Kriegsenkel geforscht und veröffentlich hat. Das hat mir geholfen, "meine" Sprache zu finden und mich freier zu fühlen. - Dennoch kommen immer wieder die Ängste. Manchmal denke ich, ich habe auch die Angst "geerbt". Und dann schreibe ich dagegen an :-)

Syrdal

@Tannenmuetterchen

Ich habe das letzte Kriegsjahr noch in sehr bewusster Erinnerung. Kürzlich gab es den „Warntag“. Als die Sirenen heulten, war alles wieder da… allles!

Syrdal  


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