Fast schon ein "richtiger" Hund - das böse Stadtleben


Seit dem ersten Ausflug ist ja nun mehr als ein viertel Jahr vergangen. Auto fahren und laufen an unbelebten Orten machen keine Probleme, aber in der Stadt mit den vielfältigsten Umweltreizen ist es für Rena immer noch sehr aufregend. Ich bin immer noch dabei, ihr zu zeigen, das die Welt gar nicht so schlecht ist wie es ihr erscheint. Begegnungen mit Menschen, ob nun mit oder ohne Hund, sind kein Problem mehr aber die Flut der Reize darf nicht zu groß werden, dann ist es vorbei.
Aus hundischer Sicht ganz natürlich. Für uns steht am Straßenrand ein Auto, heute ein grauer Kombi, morgen ein gelbes Coupe, eine rot Limosine, ganz klar, das hier täglich andere Autos stehen. Für den Hund ist es aber jeden Tag eine andere Welt. Die geringste Veränderung ist für den Hund ein neu zu bewältigendes Problem. Ein normaler Hund hat als Welpe nach drei bis fünf "Autobekanntschaften" begriffen, ein Auto ist und bleibt ein Auto, ganz egal wie es aussieht. Ein Hund der zwei Jahre unter Deprivationsbedingungen gelebt hat, benötigt etwa das zehnfache an solchen Begegnungen um die entsprechenden Synapsen bilden zu können. Für einen Hund der sieben Jahre so gelebt hat gibt es keine Erfahrungswerte. Die Forschung geht von dem Hundertfachen bis unmöglich aus.
Mittlerweile gehe ich auch davon aus, daß es mir nicht gelingen wird, Rena zu einem fröhlichen Spazierhund zu machen. Selbst wenn ich davon ausgehe, das sie wenigstens 18 Jahre alt wird wie ihre Vorgängerinnen, reicht die Restlebenszeit nicht aus. Ich kann sie ja nicht pausenlos trimmen und trainieren bis sie umfällt. Nach über 80% ihres Lebens im "Gefängnis" soll sie sich nun vor allem wohlfühlen. Im Haus ist das vollends der Fall und um das nicht zu zerstören geht es eben nur kleinstschrittig vorwärts.
Natürlich haben wir trotz allem Fortschritte im Stadtleben gemacht, für den Hund gewaltig, für uns zufriedenstellend, für die Anwohner sicher lächerlich. Hier habe ich erst einmal massive Aufklärungsarbeit leisten müssen. Entgegen meiner Art mußte ich dabei manchmal recht pampig werden, bis die Menschen begriffen, dass man solch einen "besonderen" Hund nicht einfach anstarren, anquatschen oder gar betatschen und lieb haben darf. Heute wird im Wohngebiet Renas besonderer Status akzeptiert und anerkannt, womit unsere Straßenlaufversuche wesentlich leichter geworden sind.
Mit dem ausklingenden Winter änderte sich Renas Verhalten wieder fast täglich Rückwärts, so dass wir Mitte März wieder dort standen, wo wir vor Jahesfrist begonnen hatten, zumindest wenn es an das Verlassen des Hauses ging.
In dieser Zeit habe ich auch versucht, das Nahrungsergänzungsmittel Zylkene auszuschleichen, dann aber sofort wieder die volle Menge gegeben und innerhalb von neun Tagen war das ürsprüngliche Verhalten wieder da. Wir konnten wieder unsere kurzen Strecken laufen und dies bis auf reichlich 1 km ausdehnen und gleichzeitig an der Leinenführigkeit arbeiten.
Bis zum 14. April ging alles gut und wir wollten langsam den ersten Stadtparkbesuch in Angriff nehmen, doch wieder kam alles anders. Am Folgetag verhielt sich Rena bereits bei ihrer morgendlichen "Geschäftsrunde" irgendwie anders, ohne dass ich es genau definieren konnte. Im Laufe des Tages wurde das so schlimm, dass ich nach Verhaltenspsychologen gegoogelt habe, die im näheren Umkreis tätig sind. Ihre Körpersprache, mit der ich mich ja nun intensiv befasst hatte, zeigte mit deutlich schwersten Stress und zeitweise pure Angst, wie ich es eigentlich noch nie an ihr gesehen hatte.
Die Erklärung brachte dann der Folgetag. Während des Frühstücks fing unser Haus plötzlich an "mit uns zu reden". Es knirschte und polterte, als wäre jemand vom Dachboden gefallen, während gleichzeitig ein Zug durch den Keller fuhr und Rena setzte einen Angsthaufen in die Küche. Das Erdbeben vom 16. April war zwar nicht von besorgniserregender Stärke, aber das Epizentrum quasi direkt unter dem Haus erzeugte eine einzigartige Atmosphäre. Durch meine Kontakte zu anderen Angsthundhaltern habe ich noch am gleichen Tag erfahren, dass sich in diesen zwei Tagen gleichartig "vorbelastete" Hunde bis in die Region um Regensburg auffällig bzw. merkwürdig verhalten haben.
Wieder galt es, einen Rückschlag aufzuarbeiten, aber mit dem Hintergrundwissen, dass das Zeit ihres Lebens immer wieder passieren kann, gewöhnt sich Mensch allmählich daran und richtet sich entsprechend darauf ein. Die Rückschläge sind schnell wieder aufgeholt und meist gibt es danach noch einen kräftigen Vorwärtsschub, so dass sich Renas Bedürfnisse und unsere allmählich immer besser in Übereibstimmung bringen lassen und wenn einen dann glückliche Hundeaugen anstrahlen, sind sowieso alle Mühen vergessen.

PanTau

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Kommentare (2)

Seija Ich kann nur immer wieder Deine Ausdauer und Geduld bewundern.
Die glücklichen Hundeaugen entschädigen Dich!
Liebe Grüße
Seija
Medea Was Du und Deine Frau für Rena tut, ist einmalig und ich lese
aufmerksam über den Fortschritt, über den ich mich mit Euch freue. Es ist ja bekannt, daß Tiere mit ihrem "sechsten Sinn" ein Erdbeben erspüren und ein beunruhigendes Verhalten an den Tag legen. Wenn es den Tieren möglich ist, fliehen sie regelrecht und Vögel in großen Schwärmen ebenfalls.
Rena hat sich also situationsgerecht verhalten.
Was sie in ihrer vieljährigen Gefangenschaft alles erlebt hat, vermag ich mir nicht vorzustellen.

Bei Euch ein Zuhause gefunden zu haben, ist doch Glück pur.
Einen lieben Gruß von mir.

Medea.

Vor Jettchen, meinem franzosischen Bully, war jede geöffnete
Autotür unwiderstehlich, egal ob bei mir oder nachbarns. Sie sprang in den Wagen und setzte sich hinters Steuerrad.

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