Ferien in Wien

1953

Ferien in Wien
 
 
Mein erstes Schuljahr ging zu Ende, ich freute mich auf den Sommer und auf meine ersten Ferien. Einige meiner Freunde fuhren mit ihren Eltern auf das Land. Unsere Stadt im obersteirischen Industrieviertel war kein Ort, bei dem man an Erholung oder Sommerfrische dachte. Es war düster und grau. Beißender Rauch qualmte aus den Schloten der Hochöfen und stinkende Laugen aus den Papierfabriken töteten die Fische in unserem Fluss, der Mur. Es ging wieder aufwärts nach dem Krieg, Aufschwung und Wiederaufbau war die allgemeine Devise. Nur am zu Weihnachten und am Jahresende sperrten die Fabriken eine Woche zu. Da gab es für kurze Zeit frische Luft und die Farbe des Flusses wechselte von braunschwarz zu hellgrün. 
Meine Familie konnte sich nur das Notwendigste leisten, von Urlaub konnte keine Rede sein. Ferien bedeuteten für mich, dass ich nicht zur Schule gehen konnte. Das fand ich schade, denn ich ging gern zur Schule, nicht nur wegen einer Milch- und Weißbrotspende, die wir von der britischen Militärbesatzung bekamen.
Für eine Überraschung sorgte gleich nach Schulschluss mein Vater. „Du darfst zur Mizzitant nach Wien fahren und kannst dort die Ferien verbringen”, sagte er. Das klang eher nach Befehl, als nach einer freudigen Botschaft. Der Hintergrund war klar: Kein Geld. „Jeder Esser weniger schlägt zu Buche”, sagte mein Vater. Er brauchte er das Geld für sich. Zum Glück verstand ich den Grund der Misere nicht. Es war normal, dass Alkohol wichtiger war, als Essen. Für mich war die Aussicht, nach Wien fahren zu dürfen, die pure Freude. Ich mochte meine Tante und ihren Mann, den Pepionkel, nicht nur, weil ich von ihnen Geschenke erhielt. Ich spürte die Herzlichkeit und Fürsorge, die aus ihrem herrlich wienerischen Worten sprachen. Meine Vorfreude war groß, ich träumte von den Straßen einer Großstadt, von hohen Häusern und eleganten Geschäften. Das war mein Ding.

Der Tag meiner Reise war schnell gekommen. Tante Mizzi hatte Geld für die Fahrt geschickt. Es war ausgemacht, dass mich meine Eltern in den Zug setzen und dem Schaffner Bescheid geben sollten, dass er mich im Auge behält, bis sie mich am Wiener Südbahnhof abholen würden. Ich fuhr allein im Schnellzug nach Wien. Was für ein Tag! Dass die Fahrt über vier Stunden dauerte, machte mir nichts aus. Meine große Leidenschaft, das Zugfahren, kann nur noch vom Fahren mit einer Straßenbahn übertroffen werden, dachte ich. Eine echte Straßenbahn kannte ich nur von Bildern. Rote Waggons mit großen weißen Nummern auf schwarzem Grund. Oh ja, ich wusste Bescheid.
 
Die Südbahnstrecke wurde mit Dampfloks befahren. Über den Semmering war das ein Kraftakt, trotz einer zweiten Lok als Verstärkung. Die eine zog – die andere schob. Ich konnte mich nicht satt sehen. Bei diesem Schauspiel fiel mir die Geschichte von Peter Rosegger „Als ich noch ein Waldbauernbub war“ ein, die uns Schwester Liesl in der Religionsstunde vorgelesen hatte. Da war auch von Dampflokomotiven die Rede, die sich mit rhythmischen Stampfen und Zischen der Landschaft bemächtigte. Jetzt saß ich voller Freude in diesem Ungetüm, von dem er so spannend erzählte und doch wäre ich gerne außerhalb des Zuges gewesen um die Gleise zu sehen, die Peter Rosegger als eiserne Straße auf der ein kohlschwarzes Wesen fuhr, bezeichnete. Am Scheitelpunkt der Strecke, im Bahnhof Semmering, hielt der Zug. Hier konnte man aussteigen und ganz nahe an die Lokomotive gehen. Jetzt verstand ich die geschriebenen Worte: … ein mächtiges Schnauben und Pfusten kam aus dem Schornstein … wie aus dem Rachen eines Drachen stieg gewaltiger Dampf aus … ein solches Brausen, dass einem der Verstand still stand …
 
Die Aufregung wurde größer, je länger die Fahrt dauerte. Als der Zug durch die Außenbezirke von Wien fuhr, konnte ich in schier endlose Straßenzüge mit Geschäften und Wohnblocks hineinsehen. In Meidling war es dann so weit, ich erblickte meine erste Straßenbahn, noch dazu eine Dreiergarnitur! Es war die Linie 118. Jawohl, genauso hatte ich mir das vorgestellt. Großartig!

Als der Zug in die Halle des halb zerbombten Südbahnhofs einfuhr, begann für mich eine neue Zeit in einer anderen Welt. Ansagen schallten durch unsichtbare Lautsprecher und ein unübersehbares Gewühl von Reisenden schob sich auf den Bahnsteigen durch die riesige Halle. Ich wusste: Das ist meine Stadt!
Der Schaffner nahm mich zur Seite und sagte, ich soll da am Zug stehen bleiben. „Wenn alle Reisenden weg sind, kann dich deine Tante am leichtesten finden.” Dann verschwand er über eine nach unten führende Bahnsteigtreppe. Alle Menschen waren aus dem Zug ausgestiegen, der Bahnsteig leerte sich, nur noch vereinzelt standen Gepäckträger mit leeren Gepäckwagen herum. Sonst war niemand zu sehen. Hatte man mich vergessen? Ich stieg, obwohl streng verboten, auf eine Wartebank am Bahnsteig und hielt Ausschau und Gott sei Dank, da kamen meine zwei Erlöser. Mizzitant, korpulent wie immer und daneben der Pepionkel, kein Mann großer Worte; bei ihm hatte ich immer das Gefühl, gut aufgehoben zu sein. Meine Tante küsste mich überschwänglich und sagte, dass sie auf einem anderen Bahnsteig gewartet hätten und dass sie froh wären, mich doch noch gefunden zu haben.

Der große Moment war gekommen. Meine erste Fahrt mit der Straßenbahn, nämlich mit dem 67er Richtung Favoriten. Vor Begeisterung wäre es mir fast schlecht geworden. Es schien, als würden sich all meine Träume auf einmal erfüllen. Elegante Geschäfte mit chromblitzenden Portalen, Pelze und feinstes Tuch in den funkelnden Schaufenstern. Ich wähnte mich im Märchenland.

Die Mizzitant und Pepionkel wohnten am Laaerberg. Beim Amalienbad mussten wir aussteigen und zu Fuss hinauf gehen bis zu den Ziegelteichen. Pepionkel erzählte mir, dass seine Eltern aus Böhmen stammen und damals - noch zu Zeiten der Monarchie - in den großen Ziegelwerken und Lehmgruben Arbeit gefunden hatten. Sie würden heute noch von den Wienern abschätzig die Ziegelbehm genannt. „Ziegelbehm?, ist das ein Schimpfwort?“, frage ich.
„Naja, wie man´s nimmt. Der Ton macht die Musik - aus Ton werden aber auch die Ziegel gemacht. Wir wissen, dass wir ehrbare Leute sind“, sagte er und lachte. Ich lachte auch, obwohl ich den Sinn nicht verstanden hatte.
Zu mir sagten die Leute nicht Ziegelbehm, ich bekam einen anderen Namen. Sie sagten G'scherter zu mir, so nannten  Menschen aus der Provinz. Der Pepionkel war selten da, er war Polier bei einer großen Baufirma und viel unterwegs. Und Tante Mizzi, die von allen nur Mizzitant gerufen wurde,  war die Schwester meines Vaters. Sie nannte mich Franzi-Burli und arbeitete in der Ankerbrot-Fabrik.
An Wochentagen stand ich unter der Obhut meiner böhmischen Oma, Pepionkels Mutter. Sie wohnte nahe am Ziegelteich in einem winzigen Häuschen mit Garten, ganz in der Nähe meines liebsten Platzes, dem alten böhmischen Prater. Dort konnte man am Sonntag Ringelspiel fahren, es gab auch eine Schiffsschaukel und eine Bude, in der man heiße Würstel kaufen konnte, sowie einige Schießbuden.
Die böhmische Oma nannten alle nur Babička. Sie sprach nur gebrochen Deutsch, ihr Mann, der Wenzel, gar nicht. Bei Babička gab es morgens Kafitschko. Diesen Trunk brachte ich nur mit geschlossenen Augen und mit Todesverachtung durch die Kehle.

In Wien musste ich, ganz gegen meine Gewohnheit, immer Schuhe tragen. Man hatte mir verboten, barfuß zu gehen. Es sei wegen der herumliegenden Glasscherben viel zu gefährlich. Barfuß gehen nur die Zigeunerkinder, sagten sie. So ein Blödsinn. Ich hielt das für Geschwätz der feinen Leute, aber ich fügte mich. Nichtsdestotrotz, die spukten mir von nun an im Kopf herum, die Zigeunerkinder. Ich hatte eine Idee. Ich glaubte zu wissen, wo die Zigeuner wohnen. Manchmal, wenn ich die Tante von der Arbeit in der Ankerbrotfabrik abholte, benützte ich eine Abkürzung, vorbei an Schutthalden und zerbombten Häusern, dahinter war Brachland. Zwischen wildem Gestrüpp und dornigen Hecken standen nur ein paar verkrüppelte Bäume und eine schiefe Wellblechhütte. Das war mein Ziel. Dort vermutete ich die Zigeunerfamilie. Bei diesem Unterstand aus alten Brettern und Teerpappe, hatte ich unlängst spielende Kinder gesehen. Ich pirschte mich an wie beim Indianerspielen und sah, wie eine Frau bunte Fetzen zum Trocknen über die Sträucher legte. Man hängt doch nur Hemden und Hosen in die Sonne, nicht solche Lumpen, dachte ich. Warum tat die Frau das? Meine Neugier trieb mich immer näher an den Schauplatz. Hinter den Schutthügeln spielte ein Bub mit einem komischen Ball. Er war aus Fetzen geformt. Rote Gummiringe, wie ich sie von den Einsiedegläsern kannte, in denen meine Mutter im Sommer aus verschiedenen Früchten Marmelade für den Winter produzierte, hielten den Ball in Form. Es waren die gleichen Gummiringe,. So ein Spielzeug nannte man in Wien Fetzenlaberl. Der Bub lief barfuß und kickte scheinbar ohne Schmerzen den Ball mit den Zehen. War das ein Zigeunerjunge? Auf einmal sah er mich und schoss den Ball mit Wucht in meine Richtung. Ich war nicht sicher, ob das eine Begrüßung war oder ob er mich abschießen wollte. Geschickt fing ich den Ball mit meinen Händen und lächelte ihm unsicher zu. Er ist größer und bestimmt stärker als ich, dachte ich.

Er winkte: „He du! Komm´ her, wenn du dich traust.“
Ich streifte meine Schuhe ab und kickte das Fetzenlaberl mit dem Fuß zurück.
„Was machst du da?“, fragte er.
„Nichts, wollte nur mal schauen, was hinter den Hügeln ist.“ Ich wollte mich auf einen Baumstumpf setzen, aber das ging nicht. Auch hier lag ein Stofffetzen zum Trocknen. „Wohnst du hier?“, fragte ich.
„Nur im Sommer.“
„Und im Winter?“
„Im Winter spiele ich mit Flaschen und Gläsern.“
„Gehst du nicht zur Schule?“
„Ja, aber nicht immer. Viel lieber spiele ich beim Heurigen auf meinem Xylophon. Wenn die Leute in Stimmung sind, bekomme ich Trinkgeld.
“Was ist ein Xylo … dings?“
„Bist du immer so neugierig? Wer bist du eigentlich und wo wohnst du?“
„Ich wohne bei der Babička, gleich hinter dem Ziegelteich. Nur im Sommer. Ich bin der Franz.“
„Ich heiße Berti.“
In dem Moment kam die Frau aus der Hütte. Sie sang vor sich hin und blieb abrupt stehen, als sie mich sah. Sie sprach mit Berti: „Kennst du den? Was will der hier – Zigeunerschauen?“
„Nein, er ist harmlos, heißt Franz und kommt aus …“, Berti schaute mich fragend an: „Woher kommst du? Du bist doch nie im Leben ein Wiener, oder?“ „Ich komme aus der Steiermark und bin immer in den Ferien hier.“
Jetzt lachten sie. Ich lachte vorsichtshalber mit. Die Zigeunerin war jetzt freundlicher gestimmt und sagte: „Die Babička? Das ist deine Oma? Na sowas! Ich kenne sie, sie ist eine großzügige Frau, zweimal schon hat sie mir einen Teppich abgekauft. Komm her, setz dich auf die Bank. Magst du Hollersaft?“
„Ja, bitte.“
Die Zigeunerfrau war gar nicht böse. Mutig fragte ich, was es mit den bunten Fetzen auf sich hätte, die hier überall herumhängen.
„Wir sammeln im Sommer diese Lumpen, reinigen sie und machen im Winter bunte Flickenteppiche daraus. Wir sind Jenische, weiße Zigeuner, verstehst du? Nein, natürlich verstehst du nicht. Zigeuner will niemand verstehen, daher ziehen wir durchs Land, flechten Körbe, knüpfen Teppiche und machen Musik.“
Ihr bitterer Ton machte mich stumm. Ich überlegte, wollte etwas Nettes sagen, etwas, das sie milder stimmen würde – dann platzte ich heraus:
„Ich bin auch ein Sammler!“
„So so, ein Sammler bist du. Und was sammelst du?“
„Auch alles Bunte – so wie ihr. Aber es sind Steine und Scherben, ich mache Mosaikbilder daraus, manchmal sehen sie wie Teppiche aus.“ Stolz zog ich meine Hand aus der Hosentasche und zeigte ihnen meinen schönsten Stein, den Pyrit – das Katzengold. Sie bewunderten den Stein. Beim Herausziehen meines Steins war mir auch mein Haselnusspfeifchen aus der Tasche gefallen. „Was ist denn das?“, fragte Berti.
„Meine Haselnusspfeife“, sagte ich voller Stolz, „habe ich selbst geschnitzt, damit mache ich Musik. Sie klingt fast wie eine Flöte.“
„Umso besser“, sagte Berti. „Warte, ich hole mein Xylophon. Wir spielen miteinander.“ Berti kam mit einem Gestell aus der Hütte, auf dem acht leere Flaschen an Schnüren hingen. Ich staunte, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Wir füllten gemeinsam die Flaschen mit Wasser verschieden hoch auf. Es lief einiges Wasser daneben, aber es machte Spaß. Ich probierte mit einem Schlägel die Klänge aus und Berti blies mit geschürzter Lippe von der anderen Seite seine Atemluft über die Flaschenhälse. Auf diese Art stimmten wir nach Gutdünken das Xylophon. Wir spielten herum und komponierten unsere eigenen Lieder. Ich lernte: Je voller die Flasche war, umso tiefer klang es, wenn ich mit dem Schlägel anschlug. Wenn Berti an derselben Flasche oben am Hals blies, waren es helle Töne.
Berti sagte: „Das sind die unterschiedlichen Schwingungen von Wasser und Luft …, oder so ähnlich.“ Die technische Seite war uns letztlich egal, wir spielten den ganzen Nachmittag. Ich hatte die Zeit vergessen.
Berti meinte, wir könnten Freunde werden. Ich versprach, dass ich wiederkommen würde, obwohl ich nicht wusste, wie ich das der Babička verklickern sollte. Ich hatte einen Zigeunerjungen als Freund gewonnen. Meine Freude war aber gedämpft, ich ahnte, dass man mir den Umgang mit Berti verbieten würde, also würde ich schweigen müssen. Ich trat den Heimweg an. Kurz vor der Wohnung zog ich meine Schuhe wieder an.
 
Als ich ein paar Tage später die Mizzitant von der Arbeit abholte, wurde ich ihrem Chef, dem Direktor vorgestellt. „Ich bin der Leopold – Onkel Leopold –  wenn du willst.” Er lachte mit tiefer Stimme. Ich mochte ihn sofort. Onkel Leopold? Ja, das gefiel mir. Ich spürte, dass er mich mochte. Die Mizzitant erzählte mir, dass er keine Kinder habe und dass seine Frau gestorben sei. Onkel Leopold wurde mein Gönner. Ich war schwer beeindruckt, er war ein wirklicher Herr. Statt Krawatte trug er eine selbstgebundene Fliege, die bei uns Mascherl genannt wurde. Über die Schuhe hatte er Gamaschen gebunden, einfach nur edel. Er war sehr einfühlsam, sprach mit mir wie mit einem Großen und hatte bald mein Herz gewonnen. Er wusste auf alles eine Antwort, schlüssig und verständlich. Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle (sagten die Tanten). Als Witwer war er bei den Damen sehr beliebt, was mir gar nicht passte, ich wollte ihn für mich allein haben.

Mein erster Ausflug mit Onkel Leopold führte in die Ankerbrot-Fabrik. Was für ein Erlebnis! Damals wurde noch mit Pferdefuhrwerken das Brot ausgefahren. Die grauen Wagen waren mit dem berühmten roten Anker auf weißem Grund bemalt. Da waren hunderte Gespanne und noch mehr Pferde und all dies durfte ich besichtigen. Die riesige Expedithalle und die Stallungen waren für meine Kinderaugen ein endloses Paradies. Ich habe heute noch den eigenartigen Geruch von Pferden und frischem Brot in der Nase, wenn ich an Wien denke.

In diese Zeit fiel auch mein Geburtstag. Bei mir zu Hause gab es keine Geburtstagsfeiern oder Ähnliches. Wenn ich Glück hatte, bekam ich neue Schuhe, die ohnehin dringend notwendig waren. Onkel Leopold hat mir eine Überraschung versprochen. Ich war gespannt.

Am Geburtstag holte er mich mit einem Taxi ab. “Das gibt’s ja gar ned, das ist ja der totale Luxus!”, sagte ich. Die Fahrt ging zum Kahlenberg und über die Höhenstraße, es war Kaiserwetter und mein väterlicher Freund übertraf alle Erwartungen, die ich an ihn hatte. Er erzählte mir Geschichten von Wien, von den Habsburgern und dem Prinz Eugen. Ich verstand nicht alles, aber ich war mächtig stolz auf ihn und war gespannt, was wir noch alles unternehmen würden. Da kam auch schon die Frage: „Franzi, magst mit mir zum Wirt'n gehen?” Was für eine Frage, dachte ich. Dass ich überhaupt gefragt wurde, war ungewohnt, so etwas kannte ich nicht. Überrascht hörte ich mich sagen: “Natürlich, eh klar.”

Das Wirtshaus war das Stammlokal der Führungsleute von Ankerbrot, eigentlich war es ein Restaurant, gerade fein genug für meinen Gentleman-Onkel. Der Eingang war dort, wo der 6er immer laut knirschend um die Kurve fuhr. Es gab ein Riesen-Hallo, als ich mit Onkel Leopold das Lokal betrat. Wir gingen - nein - wir schritten durch das Gastzimmer zu einem anderen Raum, dem sogenannten Extrazimmer für besondere Gäste.

Die Tür ging auf und alle die ich kannte standen da, lächelten mir zu und sangen ein Geburtstaglied. Ich konnte nicht glauben, was ich sah: Die Mizzitant, der Pepionkel, die Nachbarin, Freunde, alles vertraute Gesichter, sogar die Babička und ihr Wenzel waren da und sangen im Chor ein Lied für mich. Ich wusste nicht was ich tun oder sagen sollte, es drückte mir den Hals zu. Ich stand am Fußende dieser Tafel, die mit einem, bis zum Boden reichendem Damasttuch bedeckt war. Teures Porzellan und Gläser blitzten und funkelten. Sehr edel. Wie bei den feinen Leuten, dachte ich. Mittendrin stand eine Torte mit brennenden Kerzen drauf – meine Geburtstagstorte! Als Erstes musste ich die Kerzen ausblasen - sieben Stück. Alle Leute drückten mich, busselten mich ab. Einen Moment lang dachte ich sogar an Flucht, aber dann spürte ich die feste Hand von Onkel Leopold. Ich hatte heimlich mit dem Ärmel ein paar Tränen weggewischt und begab mich auf Entdeckungsreise. Mitten auf der Tafel stand ein Korb, voll mit Südfrüchten. Die meisten kannte ich aber nur vom Sehen. Herausragend waren die Bananen, ein ganzer Bund, absolut exotisch. Ich hatte sie lange angeschaut. Onkel Leopold machte mir Mut: „Nimm sie dir, das alles gehört jetzt dir, Franzi. Es ist mein Geschenk an dich!”

Ich war stolz wie nie zuvor. Unfassbar, ich war Besitzer eines ganzen Bundes Bananen geworden. Man hatte mich aufgefordert eine Banane zu essen. Natürlich hatte man bemerkt, dass all das neu für mich war. Trotz zahlreichen und gut gemeinten Aufforderungen rührte ich die Früchte nicht an. Nicht jetzt. Ich sagte, dass ich sie bis zu meiner Heimreise aufsparen möchte. Meine Freunde zu Hause in der Steiermark hätten so etwas bestimmt noch nie gesehen. Sie sollten mich beneiden, danach würde ich großzügig wie ein König mit ihnen teilen. Allerdings waren bis dahin noch vier lange Wochen. Die Tanten und Onkels zerkugelten sich vor Lachen. Das konnte ich nicht verstehen, hatte ich etwas übersehen? Ein leichtes Unbehagen überfiel mich, ich traute dem Frieden nicht, denn meistens, wenn es feierlich wurde, kam unweigerlich der Aufruf zum Gedicht aufsagen. In der Aufregung hatte ich vergessen, dass es ja meine Feier war und für sich selber braucht man kein Gedicht aufsagen, oder?. Glück gehabt, dachte ich.
Meine Bananen lagen sicher auf meinem Nachttisch. Ich träumte dem nächsten Tag entgegen. Morgen ist Sonntag und Stephansdom-Tag mit Onkel Leopold.
 
 Es war noch ruhig in der Wienerstadt, das Wetter angenehm, als ich mich auf den Weg machte, meinen Onkel Leopold bei ihm zu Hause in der Favoritenstraße abzuholen. Auf dem Weg malte ich mir im Gedanken aus, was wir zwei heute alles unternehmen würden. Ich benutzte ausnahmsweise nicht die viel interessantere Abkürzung durch die Schutthalden, denn es war Sonntag und ich wusste, dass Onkel Leopold auf sauber geputzte Schuhe achtete.
Die Babička hatte mich, auch weil Sonntag war, in ein weißes Hemd gezwängt, das fürchterlich am Hals kratzte. Wenigstens musste ich heute nicht ihren Kafitschko trinken - ich war ja beim Onkel zum Frühstück eingeladen. Ich ging brav auf dem Trottoir, um nicht dreckig zu werden. Die Wiener sagen Trottoir zum Gehsteig. Ein komisches Wort, aber es gefiel mir.

Onkel Leopold wohnte in einem wunderschönen Haus. Von der Mizzitant wusste ich, dass es ein Jugendstilhaus war, aber was Jugendstil genau bedeutete, konnte sie mir nicht sagen. Komisches Wort, dachte ich und nahm mir vor, Onkel Leopold zu fragen. Ich stand vor dem hoch aufragenden Haus und staunte. Da bevölkerten Drachen und Löwenköpfe die Fassade, schauten Frauen mit blinden Augen aus steinernen Gesichtern und riesige Männerköpfe rissen den Mund auf, als würden sie singen. Ich betrat das Stiegenhaus durch eine doppelte Flügeltür, deren Scheiben wie ein buntes Bilderbuch aussahen. Die grünblauen Gläser zeigten einen Pfau, der ein Rad schlug. Eine Wendeltreppe schraubte sich Stockwerk für Stockwerk nach oben, die Wände waren mit Kacheln verkleidet. Ich war so vertieft in diese Farbenpracht, dass ich gar nicht bemerkte, dass mich Onkel Leopold am Stiegenpodest vor seiner Wohnung erwartete. Ich hatte ja unten bei der Haustür seine Klingel gedrückt.   Er führte mich in seine, wunderbar nach richtigem Kaffee riechenden Wohnung und kredenzte mir ein Frühstück mit Kipferl, Butter und Marillenmarmelade aus der Wachau. Im Vorraum schaute ich mich verstohlen um, ob ich nicht irgendwo seine Gamaschen entdecken könnte. Mein Onkel Leopold war nämlich ein feiner Herr, der trug solche Sachen. Natürlich hatte er meine suchenden Blicke bemerkt und fragte sogleich, was mich denn so interessieren würde? Es war mir peinlich und ich druckste herum – von wegen schöne Schuhe und so – da hatte er begriffen und öffnete seinen Schuhschrank (was es nicht alles gibt). Er zeigte mir seine eleganten Schuhe, die hellbraunen, die mit den vielen kleinen Löchern, die auf der Schuhkuppe ein Muster bildeten. Nur zu diesen Schuhen trug er die feinen, in Beige gehaltenen, edlen Gamaschen. Ich versicherte ihm, dass mir dieses Schuhwerk sehr gefiel und dass ich so schöne Schuhe noch nie zuvor gesehen hätte. Darauf kam sofort die Aufklärung – so war er eben, mein geheimer Held – die Gamaschen stammten aus dem vorigen Jahrhundert, aus der Zeit des Biedermeier und seien ein Erbstück seines Vaters, der seinerseits Offizier in Diensten des Kaisers war.
Ich hatte tausend Fragen, Onkel Leopold beantwortete sie alle, nie hatte ich den Eindruck, dass er mich beschwindelte, denn wenn er, was selten genug der Fall war, etwas nicht wusste, wurde das dicke, schwere Lexikon befragt.
Dann zogen wir los, mein Onkel und ich an seiner Hand. Bei der Haltestelle Staatsoper verließen wir die Straßenbahn und spazierten die Kärntnerstraße entlang bis zum Stephansplatz. Da stand er nun – hundertmal so groß wie ich – der Stephansdom. Wir betraten den ehrwürdigen Dom durch das Hauptportal. Es war kühl in der großen Säulenhalle, ein leichter Windhauch zog von oben herab, wahrscheinlich waren noch nicht alle Bombenschäden aus dem Krieg beseitigt, sagte ein anderer Besucher. Wir standen ehrfürchtig vor den wieder aufgestellten Heiligenfiguren, sie hatten den Krieg Gott sei Dank gut überstanden, erklärte mir Onkel Leopold. An einer Tafel am Seitenausgang stand mit Kreide geschrieben, dass man für ein paar Groschen, die Türmerstube besuchen könne. Neben dem Aufgang zur Türmerstube wurden glasierte Dachziegel angepriesen, die man komischerweise „Bausteine” nannte. Die waren richtig teuer, das verstand ich nicht. Wieso kostet so ein Ziegel so viel Geld? Onkel Leopold hatte natürlich auch darauf die richtige Antwort parat:
„Das ist symbolisch, Franzi. Diesen schön glasierten Dachziegel kannst du mit nach Hause nehmen und an die Wand hängen, damit jeder sehen kann, dass du mit diesem „Baustein” beim Wiederaufbau unseres Steffl mitgeholfen hast.”
Weil der Baustein so teuer war, fragte ich nur mehr kleinlaut:
„Gehen wir jetzt trotzdem noch hinauf in die Türmerstube?”
Onkel Leopold überlegte kurz, dann nickte er zustimmend und wir stapften hinter dem Führer die 343 Stufen über eine endlos scheinende Wendeltreppe hoch zur Türmerstube. Anfangs war es schwierig, diese ungleich hohen Stufen zu bewältigen, aber mit der Zeit kam ich drauf, wie es am besten zu schaffen ist. Meinem eleganten Onkel ging es nicht so gut. Je länger der Aufstieg dauerte, umso deutlicher traten die weißen Knöchel seiner Hand heraus, wenn er sich am Geländer hochzog. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie er sein edles Taschentuch (mit Monogramm) zückte, um sich die Schweißperlen von der Stirn zu wischen und tat so, als ob ich es nicht bemerkt hätte. Ich verdrängte den leisen Verdacht, dass Onkel Leopold gar Schwächen haben könnte. Nein, das musste andere Gründe haben und ich wollte es gar nicht wissen.

Endlich oben angekommen, wurden wir mit einem gigantischen Blick über Wien belohnt. Unser Türmerstubenführer war ein pensionierter Feuerwehrmann, der früher einmal hier Dienst verrichtete. Ein blitzblank poliertes Schild auf seinem Revers wies ihn als Josef Kresina – Fremdenführer der Stadt Wien, aus. Ein Besucher bekundete Respekt vor dem alten Mann und sagte:  
„Sie sind aber no gut beinander, Herr Kresina!”
Ein Grinsen huschte über sein Faltengesicht, dann sagte er, mit Blick auf den Bauch des Besuchers: „Ja ja, jeden Tag ein paarmal auf und ab und der Bauch ist weg, so einfach ist das.”
Josef Kresina erzählte uns die Geschichte der Türmerstube. Seit Jahrhunderten halte von hier aus ein Mann als Brandmelder Wache über die Stadt hielt. Der Wächter war immer ein Wiener Feuerwehrmann. An Hand eines Fernrohrs demonstrierte Herr Kresina die Aufgabe des Beobachters. Die Türmerstube hatte vier Spitzbogenfenster, an jeder Fensterbank war eine Vorrichtung eingebaut, in die er das Fernrohr einklinken konnte. Wasser gab es keines hier oben, auch keine Toilette, die war zweihundert Stufen tiefer. Der Türmer hatte immer zwölf Stunden Dienst und dann vierundzwanzig Stunden frei.
„Und ich habe jetzt auch Feierabend”, sagte Herr Kresina, sperrte die Türmerstube zu und ließ uns beim Abstieg vorrausgehen.

Ich wollte auch die neue „Bummerin” sehen, die alte Glocke war ja in den letzten Kriegstagen in das Kirchenschiff abgestürzt. Aus den Teilen der kaputten Glocke war eine neue Bummerin gegossen worden. Das neue Geläut war zwar schon in Wien, aber es hat noch nicht den neuen Platz im Nordturm eingenommen. Schade, aber beim nächsten Besuch in Wien würde ich sie bestimmt sehen und hören können.  Das war ein schöner Tag in der Wiener Innenstadt, mir hat es gefallen, trotz der vielen kaputten Häuser.
„Irgendwann, wenn es meine Zeit zulässt und das Wetter passt, besuchen wir den Wiener Prater mit dem Riesenrad und fahren mit der Liliput-Bahn. Vielleicht besuchen wir noch Schloss Schönbrunn und das Palmenhaus (wo echte Bananen wachsen sollen) und den Tiergarten”, sagte Onkel Leopold.
 
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© Ferdinand Franz


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Kommentare (8)

Roxanna

Es freut mich, Ferdinand, dass du wieder deine schön erzählten Geschichten hier einstellst. Ich habe mich mit dem kleinen Jungen über die wunderbare Reise nach Wien mit so vielen schönen Erlebnissen gefreut und ganz besonders über die Zuwendung, die ihm geschenkt wurde. Es ist eine anrührende Geschichte, die neugierig macht auf mehr. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass der kleine Ferdinand einen guten Schutzengel hatte.

Hezrlichen Gruß
Roxanna

EisenweinZwei

Ich freue mich, wenn du dich freust.
Meine Geschichten sind ja Auszüge aus meinem Projekt, das einmal ein Buch werden soll. Ich arbeite daran, aber es ist mühsam. Vor allem dann, wenn ich sechzig Jahre und mehr zurückdenken muss. Manchmal sind es nicht mehr als Fragmente von Gedankengängen und Erinnerungen die haften geblieben sind. Na ja, dann ist halt Fantasie gefragt …
Liebe Grüße aus Salzburg
Ferdinand

Muscari

Lieber Ferdinand,
jetzt konnte ich mir endlich die Zeit nehmen, den kleinen Jungen mit Onkel Leopold durch Wien zu begleiten. Schon aufregend und wieder wunderbar beschrieben.
Köstlich auch das improvisierte Konzert mit Xylophon und Wasserflaschen.

Und so wie Rosi und auch ich Dir schon sagte, muss Du unbedingt diese Erlebnisse in ein Buch packen. Ich werde mal Ausschau halten, wo ich einen günstigen Verlag finde.

Ansonsten lese ich weiterhin auch hier Deine Geschichten.
Vielleicht ein wenig kürzer gefasst, damit andere Leser nicht zurückschrecken.emoji_wink
Mit herzlichem Gruß,
Andrea

EisenweinZwei

Danke für deine Zeit, den kleinen Franzi durch die Wienerstadt zu begleiten. Und ja, es soll ein Buch werden, aber kein Jugend- oder Kinder buch, sondern ein Entwicklungsroman. Ich habe einen vorläufigen Arbeitstitel: 

"UNSTET - Das Leben des Franz Fink”

Es geht um die Entwicklung eines Jungen der in einer Alkoholikerfamilie aufwächst und letztlich selber einer wird, obwohl er als Kind sehr unter den Rausch-Eskapaden seines Vaters gelitten hat. Also eine dramatische Erzählung, die zeigen soll, wie und wann und unter welchen Umständen ein Mensch, der eigentlich den Alkohol hasst (vor allem seine Auswirkungen), in eine Abhängigkeit rutscht. Freilich merkt er nichts von seiner Sucht, er begreift die Droge als Glücksbringer … mehr will ich im Moment nicht vorwegnehmen.

Mir bei der Verlagssuche zu helfen, ist eine schöne Aussicht für mich. Danke!

Herzlichst
Ferdinand
 

ehemaliges Mitglied

Hallo  Ferdinand  Franz,

ein sehr schöner Beitrag , er beschreibt  Erinnerungen die wir alle in uns tragen .
Mit  deinem Talent zu schreiben stimme  ich Rosi  65 zu.
Es sind  Geschichten  so wie diese , die wir  lesen möchten  in der  Hektik  des Alltags .
Dir ist es wiederum sehr gut gelungen.

einen schönen Tag  wünscht  jochen Daumen hoch

EisenweinZwei

Hallo Jochen,

danke für dein Feedback. Es tut gut, wenn einem wer Talent bescheinigt :-)
Ich hoffe, bald wieder eine derartige Geschichte zum besten geben zu können. 

Bis dann
Ferdinand

Rosi65

Lieber Ferdinand Franz,

es wäre schön, wenn aus dieser fruchtbaren Saat einmal ein wertvolles Buch wachsen würde.
Hut ab!

Gruß
Rosi65

EisenweinZwei

Liebe Rosi65,

ich hege und pflege die aufgehende Saat. So gesehen, bin ich ein angehender Gärtner, der mit seinen Pflänzchen spricht und inständig hofft, dass sie einmal groß und stark werden. 

Liebe Grüße
Ferdinand


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