Freund Hein klopfte an


Freund Hein klopfte an
Sieben bis acht Jahre lang hatte ich den Kontakt zu meinen Eltern unterdrückt – ich wollte sie nicht teilhaben lassen an meiner Lebensmisere zu dieser Zeit, denn, wenn Mutter etwas daraus erfuhr, sie war die „Zentrale“ in unserer Familie, wußte es prompt jedes meiner sechs Geschwister sogleich, und die kamen mit Ratschlägen, mit Hilfsangeboten – und das konnte und wollte ich nun gar nicht annehmen.
Jeder wußte dennoch Bescheid. Meine eine Schwester – ich weiß heute nicht mehr, welche es war, die mich anrief – teilte mir mit, daß Vater mit Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus im Koma lag.
Ich raste los, mit ziemlicher Verwirrung und Selbstvorwürfen, hastete ich die zweihundert Kilometer auf der Autobahn entlang zum Krankenhaus. Die Mutter saß am Krankenbett, das von Geräten umstellt war.
Das ist mein Vater ? Jetzt merkte ich, welcher Frevel mein Fortbleiben war. Da lag der Mann, den ich neben diesen acht Jahren und … der zehn Jahre in Krieg und Nachkrieg vermißt hatte. Ich durfte seine Hand nehmen, sie war kraftlos, und doch glaubte ich zu spüren, daß er mir noch etwas sagen wollte – Fantasie oder Glaube ? -
Von Mutter kam ein Brief. Sie bat uns Kinder um Zustimmung, die Maschine abschalten zu lassen. Ein zweiter Schlaganfall war eingetreten. Wir gaben Mutter einmütig unser Einverständnis. Mutter begleitete unseren Vater, mit dem sie 65 Jahre verheiratet war, bis zu seinem letzten Atemzug.
Zur Beerdigung kamen wir Kinder zur Mutter. Eine Schwester organisierte die Unterbringung in Hotels, denn die große Wohnung hatten die Eltern schon Jahre zuvor gegen eine Alten- und Versehrten- gerechte Wohnung eingetauscht. Und doch blieben noch einige von uns übrig, und die fanden bei Mutter noch Platz wie in einem Feldlager – man schlief ganz gut, so, wie wir es auch früher schon geübt hatten.
Dreizehn Jahre später: Mutter rüstete sich auf ihr neunundachtzigstes Lebensjahr. Sie wollte durchhalten, daß sie die hundert Lebensjahre noch erreiche. Wenn man sie im Altenheim besuchte, dann blieb man bei ihr nur etwa eine halbe Stunde, mehr konnte sie nicht aushalten. Sie saß dann da in ihrem Lehnstuhl, hatte sich mit ihrer selbstgehäkelten Patchwork-Decke zugedeckt, schlief, war aber immer hellwach – für die halbe Stunde – und erkannte uns. Sie mußte sich nach der harten Arbeit in ihrem Leben ausruhen.
Eine eMail kam von unserer großen Schwester, die Mutter zu sich in die Nähe geholt hatte. Mutter aß nichts mehr, Mutter atmete schwer, gab keine Antwort mehr. Man setzte Luftbefeuchter ein. Man rechnete …
Ich fuhr wieder die achtzig Kilometer zum Altenheim. Ich saß an Mutters Bett, ich feuchtete ihr den Mund an, nahm ihre Hand. Leichte Zuckungen. Die Augen blieben geschlossen, der Atem ging schwer. Ich pfiff unseren Familienruf „Zieht euch warm an!“, das Wolgalied. Ich hatte das Gefühl, daß Mutter mich wahrnahm. Zwei Stunden blieb ich bei ihr, war ganz alleine mit ihr – sie gehörte mir noch einmal ganz alleine wie damals im Altvattergebirge, als sie mit Schwester Nummer vier unterm Herzen ging, wo ich sie begleiten durfte.
Zwei Tage später kam die Mail, daß Mutter eingeschlafen ist. Tage drauf trafen wir Kinder uns wieder, um Mutter bei der Einsegnung beizustehen. Ich konnte nicht umhin, meine liebe kleine Schwester, die einmal als Letzte aus dem Elternhaus ging, die so ähnlich der Mutter ist, an die Hand zu nehmen und stellvertretend für uns Alle unser Zusammenhalten der Mutter zu bezeugen.


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Kommentare (5)

Traute Es war wieder ein Blick in die Menschenschicksale einer bewegten Zeit.
Es ist immer wieder unglaublich, zu lesen, wie eine große Familie, in den schweren Zeiten nicht nur durchkommt und überlebt, sondern an all dem Gesehenen nicht sozial auseinander-fällt.
Wie alle ihren Weg im Leben finden und ein redliches Leben führen und Verbindung weiter halten.
Besonders hat es mich berührt, als Du schriebst, wie Du Deinem Vater bei seiner letzten Stunde in aller Achtung,
die Hand gehalten hast.
Als Deine Mutter ging, die in ihrem unnachahmlichen Fleiß und Familiensinn ein Bild von einer Mutter war, ihr Einigkeit zeigtet.
Das ist der letzte Trost für eine Mutter, dass ihre Kinder einander helfend zur Seite stehen.
Wir haben viel erlebt, erzählen wir davon.
Mit freundlichen Grüßen, auch an Spatz,
Traute
henryk September(henryk)
....Henryk
ortwin Wenn ich das alles schreibe, dann fühle ich ein "Jetzt" - sehe alles vor mir, spüre alles ganz wach - das wird morgen wieder so sein.
ortwin
ehemaliges Mitglied das hast du sehr gut geschrieben und mit der Vergangenheit deinen Frieden gemacht. Du schreibst es, als wäre es erst gestern gewesen.

Liebe Grüße
Gerd
tilli Lieber Ortwin!
Ich habe viele von deinen Geschichten gelesen, die aber hast du mit großen Herzen geschrieben.Deine kleine Schwester und deine Hand , die gehalten hat. Ja, Zusammenhalten, diese Wort muss man sich täglich wiederholen.In jeder Zeit,aber besonders wenn Traurigkeit kommt.
Tilli

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