Frühmorgens …



Frühmorgens ...
Sieben Uhr dreißig. 
Meine Gedanken schwirren wie kleine Mücken durch den Morgen. Dabei vergisst man schon die Alltäglichkeiten des Tages. Sie sind ganz einfach unwichtig. So wie der Tag an sich, ist heute Montag oder Donnerstag? Was bitte macht das schon aus? Jahre und Monate sind doch nur eine Aneinanderreihung von Tagen, erfunden nur, weil man sonst nicht wüsste, wie alt man ist. Sonst wüsste ja niemand, wann er Geburtstag hat! Das wäre ja eine gewaltige Katastrophe, es gäbe keine Geburtstagsgäste und vor allem keine Geschenke. Nicht auszudenken, so etwas. Und erst der Handel - ganze Warengruppen würden einbrechen, die Blumenläden als Erste.

Wenn heute Januar wäre, hätte ich ja eigentlich bald Geburtstag. Aber es ist nicht Januar. Ein Blick auf den Kalender zeigt mir: Juni! Habe also noch sieben Monate Zeit bis zu meinem - wievielten? - Geburtstag. Was bitte mache ich jetzt bis dahin?
Ich warte auf irgendetwas, das kommen soll, wie in jedem Jahr. Ich habe auch die anderen Jahre gewartet, aber es kam auch nichts. Es wird auch wieder nichts kommen, woher auch. Jemand sagte mir, ich müsste meine Erwartungen zurückschrauben. Leicht gesagt, nicht?
Wer hat keine Erwartungen, meist sogar übersteigerte, Du doch auch, oder?

Ich habe mich aufgerafft, in der Frühe eine kleine Wanderung zu unternehmen. Durch Feld und Flur, wie es im alten Volkslied heisst. Als ich aus dem Haus ging, war der Himmel noch bedeckt. Graue Wolken, blaue Lücken dazwischen. Inzwischen hat sich das Bild verändert. Vorsichtig schaut die Sonne hinter einer Wolkenwand hervor. Was mag sie wohl sehen, den kleinen Menschen hier auf dem Waldweg, der vergessen hat, welcher Wochentag heute ist?

Gewiss nicht. Sie - die Sonne - hat andere Sorgen. Oder geniesst sie nur den Tag? Ich wüsste gern, was die Sonne auf den bunten Kinderbildern mit dem Strahlenkranz denkt! Dort auf dem Feld die Sonnenblumen jedenfalls begrüßen mich mit strahlendem Lächeln. Sie scheinen ihr Ebenbild aus genau diesen Kinderbildern heraus kopiert zu haben. Oder ist es umgekehrt? Wie schön.

Die Natur zeigt mir, dass ich noch da bin. Der »kleine Fuchs«, der da vor mir hergaukelt, zeigt mir den Weg zwischen zwei Hecken von wilden Rosen, ihr Duft nimmt mir fast den Atem. Zwischen den blühenden Röschen haben schon einige Hagebutten ihre roten Köpfchen inmitten der tiefgrünen Blättchen hinausgestreckt. Die Natur hat eben ihren eigenen Kreislauf. Bald werden auch die Rosen nicht mehr da sein, verblüht und ohne jede Anziehungskraft für alle Insekten.

Wer denkt denn im Sommer schon an den Herbst? Wäre 
das noch normal? Ich weiss es nicht. Und ich weiss auch keine Antworten auf alle nebensächlichen Fragen des Lebens. Muss ich doch auch nicht, wozu gibt es denn Google? Ist doch viel bequemer. Und wenn dort jemand seine Weisheit an den Mann oder Frau bringt - wer kontrolliert eigentlich, ob das auch richtig ist?

Eine These, aufgestellt und oft genug kolportiert, erscheint in der Folgezeit als unumstössliche Wahrheit.
»Ich hab da nachgegoogelt, es ist alles richtig!!« 
Alles nur irgendwie offiziell dargestellte wird ohne Beanstandung übernommen - weil alle es so richtig befinden!
Der Weg führt mich weiter zwischen saftig-grünen Wiesen hindurch. Ein Grünfink knabbert an einer früher Brombeere, sein Schnabel ist rundherum dunkel gefärbt von diesem süßen Frühstück. Er lebt, ohne nach dem Sinn seines Lebens zu fragen? Warum leben wir nicht so unbeschwert?
Oder dort an der Distel die kleine schwarzbraune Raupe mit den tausend Härchen. Sie erklimmt mit all ihren Füßchen unbeirrt den hundertmal so hohen Stängel, ohne danach zu fragen, ob sie überhaupt oben ankommt. Und irgendwann - in einigen Tagen - wird aus der Raupe ein wunderschöner Schmetterling. Fragt er danach, ob er früher so unansehlich war?

Ja, ich weiss das doch auch, blöd bin ich nicht, diese Fragen sind natürlich irreal, weil die Insekten ja nicht denken können.
Moment - wissen wir das nun wirklich oder verlassen wir uns da auch auf Google? Hmm - ich weiss, das sind lächerliche Fragen, aber warum dürfen wir das nicht ausdrücken? Nur weil wir keine Kinder mehr sind, dürfen wir doch einfach ins Blaue hinein solche Fragen stellen. Oder siehst du da irgend einen Verbotsparagrafen?
Vielleicht wird man ja gleich weggesperrt, weil man nicht in das Schema passt, dass manch anderer sich von einem alten Menschen macht. Wäre wahrscheinlich gar nicht so selten. Fragen, die ausserhalb der allgemeinen Denkweise angesiedelt sind, könnten an der Substanz der Realität zehren. Das jedoch rüttelt dann an der festen Übereinstimmung mit den Schulwissenschaften. Welch eine Katastrophe!

Wenn sich immer alle an die allgemeinen Denkweisen gehalten hätten, würden wir heute noch glauben, dass die Erde eine Scheibe ist! Jeder Teilnehmer einer Kreuzfahrt müsste vorher eine Erklärung unterschreiben, dass er alle Risiken eines Absturzes in vollem Umfang auf sich nimmt. Das wären dann tolle Aussichten, alle Reedereien wären alsbald insolvent! Und die Meyerwerft in Papenburg könnte Papierschiffchen falten ...

Die große Erdhummel dort auf dem Margeritenstrauch sucht für ihr kleines Völkchen nach Nahrung. Fleissig und ohne sich stören zu lassen, fliegt sie von Blüte zu Blüte, unermüdlich. Welch ein kleines Wunder ist sie doch. Ich frage mich, was der Schöpfer sich dabei gedacht hat. Wenn ich mir diese Hummel in Großaufnahme betrachte, sehe ich erst richtig dieses Wunderwerk der Schöpfung! Und als ich sie mir auf die Hand setze - sie tut mir nichts, gar nichts. Ich darf sie mir anschauen, sie hat nichts dagegen. Woher weiß sie, dass ich sie mag?

Haben wir etwas anstelle der Natur einzusetzen? Gewiss, wir benutzen Technik, Elektronik, Erfahrung, Geist und Wissen. Dabei vergessen wir oft, dass so manche Bauart beispielsweise aus der Natur übernommen wurde, nur eben in größerer Form. Und die hat sich allemal bewährt. Wie oft wird diese Natur vergewaltigt, bis zur Unkenntlichkeit verändert. Und irgendwann, bei einer Katastrophe, schlägt sie zurück. Dann wundert sich der Mensch, warum dies geschieht!

Ja, nun hat mich mein Weg zurückgeführt, nach Hause, zu meinem Domizil. Dorthin, wo Ameisen und Mücken mir wieder beweisen, dass nichts vollkommen ist. Auch sie haben ihre Daseinsberechtigung. Genauso, wie die Schnecken, die meinen Salat als Leibspeise auserkoren haben!
Jedenfalls war es ein ereignisreicher Morgen, auch wenn er vielleicht sinnlos war. Für mich nicht. Ich liebe die Natur, mit allen Einschränkungen, die sie mir auferlegt. Ich muss nicht alles tun, was mir richtig erscheint; schließlich habe ich meinen Kopf nicht nur für den Friseur ...

©by Pan



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Kommentare (6)

Pan

Natürlich, Du hast Recht, unseren Gedanken schwirren andauernd herum.
Aber muss man ihnen nicht auch einmal Zeit lassen, auf einem sonnenbeschienenen Blatt zu verweilen, sich dem Schmetterling anzuschließen, der gerade vor uns hergaukelt?
    Wir Menschen haben nicht genügend Ruhe in uns, ständig werden wir abgelenkt von Nebensächlichkeiten. Wie schade ist es doch. Ich bewunderte gerade wieder eine  Erdhummel im Garten, wie sie trotz stürmischem Wind ihre Blüten anfliegt, dick bepackt mit den Ergebnissen ihrer bisherigen  Arbeit.
   Welch ein Wunder, dabei könnte sie nach unseren technischen Gesetzen gar nicht fliegen!! Sie ist viel zu schwer dazu, von ihren kurzen Flügeln getragen zu werden!
   Und doch geschieht es, ist das nicht wunderbar?

Schöne Pfingsttage wünsche ich -
Horst
 

Roxanna

@Pan  

Das ist die Kunst, einmal im hier und jetzt zu sein, die Gedanken nicht wild von Baum zu Baum hüpfen zu lassen wie Affen, das hatte mal jemand so formuliert. Ich finde dieses Bild auch sehr passend. Gelingt es wirklich den Augenblick zu leben, kann das sehr entspannend sein. Ich denke da auch an die Achtsamkeit, von der viel gesprochen und geschrieben wird seit einiger Zeit.

Auch dir schöne Pfingstage und herzliche Grüße

Brigitte

Roxanna

So ein Morgenspaziergang, wenn alles noch taufrisch ist, tut richtig gut und man kann seinen Gedanken freien Lauf lassen, während man die Schönheit der Natur genießt.  Du schreibst, sie schwirren wie die Mücken am Morgen. Tun sie das nicht immer? Ständig denkt es doch in einem. Ich frage mich manchmal, woher kommen diese Gedanken eigentlich? Wer oder was denkt denn eigentlich ständig in mir und hüpft von einem Thema zum nächsten? Und es ist wirklich unglaublich viel, was sich immerzu in diesem Kopf abspielt. Du lässt uns teilhaben an dem, was dir während deines Spazierganges in den Sinn kam. Es war, als wäre ich neben dir gegangen und es hat Freude gemacht.

Herzlichen Gruß
Roxanna

Pan

Hmmm! Manchmal hat auch ein alter Mensch sinnvolle (?) Gedanken. 
Das gerade macht das Leben doch so interessant. Der Kampf ums tägliche Dasein
liegt schon weit hinten, das freie Atmen macht auch den Kopf frei.
Leider nicht bei allen alten Menschen. Für viele geht der Kampf immer noch weiter -
und das ist bitter!
Hoffen wir, helfen wir, dass es auch denen gut geht, die im Schatten leben.

Aber, wie sagte Bertold Brecht:
… und die Einen, sind im Dunkeln,
und die Anderen sind im Licht,
doch man sieht nur die im Lichte,
die im Dunkeln
sieht man nicht ...
human_030.jpg

iverson

Ein Morgenspaziergang mit vielen Gedankengängen und Beobachtungen und alles gut erzählt.
Einfach schön zu lesen.
Es grüßt Iverson

Manfred36

Wunderschön formulierte Erlebnis-Gedanken.


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