Gisela oder: meine Lateinlehrerin


Gisela oder: meine Lateinlehrerin

Gisela
oder: meine Lateinlehrerin
 
 
Ich bin wieder 17, wenn ich an sie denke. Ich sehe sie am Lehrertisch sitzen und ins Klassenbuch schreiben. Sie sitzt und ich stehe im Klassenzimmer, in dem sich außer uns niemand mehr befindet.

Es ist nach der letzten Schulstunde. Alle sind gegangen. Was nicht der Wirklichkeit entspricht. In Wirklichkeit können nicht alle gegangen sein. Annette wäre noch da, wegen des Klassenbuchs. Sie würde darauf warten, dass sie es mitnehmen kann, um es im Sekretariat abzugeben. Robert wäre auch noch da, um mit mir zur Bushaltestelle zu gehen. Aber in meiner Vorstellung sollen alle gegangen sein, bis auf meine Lateinlehrerin und mich.
 
Vielleicht wische ich die Tafel sauber oder stelle Stühle hoch, während sie schreibt. Vielleicht lasse ich mir dabei mehr Zeit, als ich es sonst täte. Und vielleicht lässt sie sich mit dem Schreiben mehr Zeit, als sie es sonst täte. Wir sind uns beide bewusst, dass nur wir beide noch im Klassenzimmer sind. Und wir sind uns beide nicht im Klaren darüber, was aus dieser Situation werden könnte. Ich stelle mir vor, dass die heutige Schulstunde außerplanmäßig gewesen ist. Nur heute haben wir Latein in der letzten Schulstunde gehabt, und nur heute sind wir alleine im Klassenzimmer.
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Ich bin in ihrer Wohnung. Ich stelle mir vor, dass sie in einer nicht besonders großen Wohnung mit dunklen, altmodischen Möbeln lebt.
 
Auf einer Kommode könnten alte Familienfotos stehen. Ansonsten keine Bilder an der Wand. Sie besitzt keine Haustiere. Aber vielleicht Musikinstrumente. Ich könnte mir denken, dass in ihrer nicht besonders großen Wohnung sogar ein Cembalo steht. Kein Klavier, wegen der Nachbarn. Vielleicht spielt sie außerdem in ihrer Freizeit Flöte. Und sicherlich steht in einer Ecke auch ein alter Bücherschrank.
Den schaue ich mir als erstes an. Was liest eine Lateinlehrerin?
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Wir kämpfen beide mit unserer Befangenheit. Ich bin zum ersten Mal in der Wohnung meiner Lehrerin, und sie weiß nicht, wie sie außerhalb des Klassenzimmers mit einem 17-Jährigen umgehen soll.

Wahrscheinlich denkt sie an die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze über den Umgang von Lehrern mit minderjährigen Schülern.

Außerdem bringe ich ihren gewohnten Tagesablauf durcheinander. Normalerweise würde sie sich um diese Zeit wahrscheinlich eine Stunde hinlegen, aber das geht jetzt nicht. Also macht sie sich einen Kamillentee und bietet mir einen Kakao an, weil sie vor vielen Jahren, als ihre 8-jährige Nichte sie besuchte, das auch schon so gemacht hat.

Ein besonderer Tag, denke ich auf meinem Weg nach Hause.
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In den Sommerferien schreiben wir uns. Wir verabreden uns in der Kunsthalle. Die Bilder interessieren mich eigentlich nicht, aber ich bin gerne in ihrer Nähe. Nach der Kunsthalle sitzen wir auf einer Bank am Wasserturm, schauen den Fontänen zu und reden über römische Geschichte. Wir könnten auch über etwas anderes reden. Die Nähe ist das Wichtige.

Ich könnte sie fragen, wie es dazu kam, dass sie Lateinlehrerin geworden ist. Und sie würde mich wahrscheinlich fragen, was ich einmal werden will. Und auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle kaufen wir uns ein Eis.

In meinen Gedanken schreibe ich ihr schon den nächsten Brief.
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Innerlich bin ich die ganze Zeit mit ihr zusammen. Ich fühle mich nicht allein. In meinen Gedanken rede ich mit ihr, erkläre ihr, was ich gerade tue.

Dass ich weiter nichts von ihr will, darin besteht der Zauber, den ich auf sie ausübe. Für sie bin ich ein still in sich ruhendes wunderbares Etwas. Etwas, das ihr den Weg zu ihren selbstlosesten und zärtlichsten Gefühlen öffnet.
 


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Kommentare (11)

Syrdal


Eine sehr hübsche „Rückwärts-Träumerei“, die sich gut vorstellbar wie beschrieben abgespielt haben könnte, wenn...
 
Nun ja, als ich so „ein still in sich ruhendes wunderbares Etwas“ war – etwa so mit 15 – bin ich zaghaft zur Tat geschritten, allerdings nicht mit der Latein-Lehrerein (bei mir war es die Russisch-Lehrerin), sondern mit der mindestens so „wunderbaren“ Tochter, die in der Klasse neben mir saß und mir am Nachmittag bei ihr zuhause in dem gemütlichen Zimmer mit den dunklen, altmodischen Möbeln, dem weichen Plüschsofa, den hohen Schränken mit vielen ledergefassten Büchern und dem schwarzen Stutzflügel wichtige „Nachhilfe“ gab... freilich – das will ich hier betonen – in Form von Vokabeln und Ausspracheübungen. Zumindest manchmal!
Schön war die Zeit mit dem „gewissen Prickeln“, an die ich mich sehr, sehr gerne erinnere...
 
...selbst noch als fast 80jähriger
Syrdal
 

Roxanna

Eine wunderschöne Erinnerung hast du lieber Wolfgang mit dieser bezaubernden Geschichte erzählt. Die Zeit der erwachenden Gefühle, die man in diesem Alter erlebt, die einen aber auch manchmal ganz schön beuteln können, hast du auf eine Art und Weise erlebt, die eigentlich nicht schöner sein könnte.

Gerne habe ich die Geschichte mit einem Lächeln gelesen.

Herzlichen Gruß
Brigitte

felix772

@Roxanna  Liebe Brigitte, heute wünschte ich, es wäre eine Erinnerung. Es ist aber "nur" eine viel später entstandene Vorstellung von etwas, was vielleicht hätte sein können. Mit 17 war ich einfach noch nicht so weit... Andererseits: wäre ich mit 17 schon weiter gewesen, hätte es vielleicht diesen Zauber nicht (mehr) gegeben...Lächeln

Herzlichen Gruß
Wolfgang

Roxanna

@felix772  

Ich hätte es dir wirklich gegönnt Zwinkern.

LG
Brigitte

werderanerin

Wunderschön beschrieben diese allerersten Gefühle..., die man ja manchmal garnicht richtig einzuordnen wusste...ich hatte auch mal einen Lehrer, er war Zeichenlehrer und sah dermaßen gut aus, dass wohl nicht nur ich in ihn verliebt war.

Vieles habe ich vergessen, weil es wohl unwichtig war, dieses Gefühl aber habe ich immernoch in mir...was habe ich mir nicht alles vorgestellt...schön wars !

Kristine

Rosi65

Lieber Felix,

tiefe Verbundenheit, wortloses Verstehen, faszinierendes Glücksgefühl, ja man glaubt fast, die Gedanken des Anderen erahnen zu können, deuten auf eine Art von Seelenverwandtschaft hin.
Man fühlt sich in der Gegenwart des Anderen wohl, ohne es richtig erklären zu können.
Sogar nach so vielen Jahren beschäftigt Dich diese schöne Begegnung immer noch.

Viele Grüße
  Rosi65

Muscari

Wie schön und romantisch. Du hast Deine Gedanken wunderbar in Worte gefasst.
Ich bin sicher, dass das kein Einzelfall war und wohl auch heute noch hin und wieder vorkommt.
Warum nur fällt mir gerade Emmanuel Macron ein ?Lächeln

Als junges Mädchen liebte ich eine Ordensfrau. (s. meinen Beitrag).
Bis auf einen klapprigen Hausgeistlichen gab es in einem Mädchenpensionat damals keine Männer.
Smiley
Danke für Deinen Beitrag, den ich gerne gelesen habe und der mich an alte Zeiten erinnert hat.
Andrea

 

felix772

@Muscari  Liebe Andrea, vielen Dank für deinen Kommentar. Ich habe deinen Beitrag auch gelesen.

Heute wünschte ich, ich hätte, als diese Zeit noch Gegenwart war, mehr wahrgenommen. Aber es hat Jahre gedauert, bis ich mir solche Dinge überhaupt vorstellen konnte. Diese Geschichte sollte ein kleines spätes Denkmal sein, und es freut mich sehr, dass sie dir und anderen gefällt.

silesio

    Wunderbar zart und schwebend geschrieben. So ein Verhältnis war sicher schon damals die Ausnahme und kann ich mir für die heutige Zeit kaum mehr vorstellen
    Silesio, einst Griechisch- und Lateinlehrer

indeed

Schmunzel . . . die ersten zarten Bande, unschuldig und rein - und du träumst evtl. manchmal noch heute davon, von den ersten zarten Gefühlen und Gedanken.
Schön geschrieben. 
Liebe Grüße in den Tag hinein von
indeed

felix772

@indeed  DankeSonne


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