Hätte ich nicht warten können?


Hätte ich nicht warten können?
Es war ein Dienstag, ein Tag wie jeder andere auch. Dieser Tag hatte nun wirklich keinerlei politische Bedeutung! Dessen ungeachtet aber gab es in unserer jungen Bundesrepublik umwerfende Neuigkeiten. Dazu gehörte beispielsweise die Abschaffung der letzten Lebensmittelkarten, Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe begann mit seiner Arbeit und die erste Volkszählung der BRD ergab in diesem Jahr mehr als 49 Millionen Menschen!
       Auch in der Weltpolitik gab es Umwälzungen: Der Korea-Krieg war ausgebrochen, man hatte gehofft, nach dem unseligen Weltkrieg würde sich Frieden auf der ganzen Welt einstellen. In Deutschland und Westeuropa war es auch so - in anderen Teilen der Welt gab es eine bewaffnete Auseinandersetzung nach der anderen!
Ehrlicherweise muss ich dazu sagen, dass ich zunächst keine allzu große Meinung zu diesen Themen hatte. Ich war aus ganz anderen Gründen glücklich, ich war wieder daheim im Kreis der Lieben, hatte eine Lehrstelle bekommen; mitten im Jahr fand sich ein Meister, der mich in die Geheimnisse dieses Handwerks einführen wollte! Man stelle sich das vor:
In einem Wohnblock der Hafenstadt Emden gab es einen Vorratskeller einer Wohnung, in dem mein Lehrmeister seine Werkstatt eingerichtet hatte! Dieser Meister - ich nenne ihn einfach Johann - war ein Mensch, den ich von Beginn an ungewöhnlich sympathisch fand und der mich die gesamten zwei Jahre (meiner verkürzten Lehrzeit) nicht enttäuscht hat!
        Ich war nun also Lehrling, genauer gesagt ›Malerlehrling‹. Das Wort ›Auszubildender‹ hatte zu der Zeit noch keinen Eingang in den Wortschatz gefunden. Wozu auch? Was sagt schon ein Terminus allein aus? Der Maßstab bleibt der Gleiche ohne nähere Erläuterung. Und dass ich es besser getroffen hatte als jeder andere meiner Mitschüler in der Berufsschule, das war mir schon nach einigen Wochen klar! In den Betrieben, in denen ein oder mehrere Gesellen vorhanden waren, hatten die jungen Auszubildenden wirklich kein gutes Leben, da ging es sehr oft noch zu wie in den mittelalterlichen Zünften.
      Ich jedoch lernte alles von Beginn an direkt und ohne Umwege über das morgendliche ›Bierholen‹ für die Gesellen und auch ohne die Ohrfeigen, die noch vielfach an der Tagesordnung waren. Johann brachte mir selbst alles bei, was ich lernen konnte, weil er ebenfalls mitarbeitete!
Das ist ein Umstand, den sich viele heute gar nicht mehr vorstellen können. So manches Mal, das muss ich heute ohne Einschränkung gestehen, hätte ich mir selbst wohl ›was hinter die Löffel gegeben‹, dass ich immer mit einem blauen Auge davon kam, hatte ich nur Johanns Gutmütigkeit zu verdanken. Und die war grenzenlos!
    So auch an jenem bewussten Tag, von dem ich berichten möchte. Alle Fenster an einem dreigeschossigen Wohnhaus mussten neu gestrichen werden. Dazu wurden die Farben selbst angerührt, Leinöl, Sikkative und natürlich das Bindemittel, die weiße Farbe in Pulverform, sie hieß seinerzeit ›Lithopone‹. Sowohl die Zusammenstellung wie auch das Mixen der Farben oblag in der Hauptsache dem Lehrling - also mir.
Wie ich schon bemerkte, war der Auftrag, alle Fenster des Hauses mit einem dreifachen Anstrich zu versehen. Das war seinerzeit ein Zeichen von Qualität, der Anstrich hielt mindestens 20 Jahre! Dafür war mein Meister bekannt: Er versprach nichts, was er nicht halten konnte.
Ganz oben, im Giebel des Hauses, befand sich ein kleines Fenster von etwa 50 cm Durchmesser. Da wir kein Gerüst hatten, musste der Anstrich von einer langen Leiter ausgeführt werden; das waren aber nicht etwa Aluminium-Leitern wie heute, sondern schwere Holzgeräte. Man beachte dabei, dass eine 12 Meter lange Leiter aus Holz ein Supergewicht hatte, ein einziger Mann allein konnte sie fast nicht handhaben!
»Schaffst Du das?« Meister Johann fragte mich zweifelnd, indem er nach oben auf das Fenster zeigte. Mein Blick schweifte in die Höhe, irgendwie wurde mir ganz flau im Magen. Alle anderen Fenster konnten wir problemlos von innen öffnen und dann auch streichen, dieses vermaledeite Objekt allerdings ließ sich nicht öffnen, da blieb also keine Wahl.
         »Jaaa, sicher doch!« Es klang ein sicher wenig zaghaft, doch es muss überzeugend gewesen sein, denn Johann sagte kurz entschlossen: »Denn man to!«
Oh je, da hatte ich mir ja was eingebrockt! Aber ein Zurück gab es nicht, sollte ich mich blamieren? Unmöglich. Ich bekam also eine Sicherheitsleine um den Bauch gebunden, die mit der Leiter verbunden war. Ob diese Leine nun wirklich in der Lage gewesen wäre, mich zu sichern, möchte ich heute nicht mehr beschwören. Ich machte mich also an den Aufstieg, Farbtopf und Pinsel mit einem »Fleischerhaken« beim Klettern eingehakt und dann Meter für Meter als Pseudo-Alpinist vorwärts zum Gipfel.
       Mein lieber Klabautermann - mir war ganz schön mulmig da oben, zumal die Leiter schwankte wie der Mast eines Großseglers. Jedenfalls war ich irgendwann oben! Ich machte meine Arbeit - gaaanz vorsichtige Bewegungen, um meinen »Fockmast« nicht in Schwingungen zu versetzen. Und siehe da: Es klappte alles wie am Schnürchen, das Fenster wurde gestrichen, alles sah wieder schnieke aus und ich konnte wieder an den Rückweg denken.
Na ja, wenn ich ehrlich bin, dachte ich schon während meiner Arbeit dort oben an den Abstieg! Ich hatte schon beim Aufstieg ein Gefühl, das ich - gelinde gesagt - schon als Angst bezeichnen würde! Und nun ging es, step by step hinunter, mit jedem Tritt war ich dem Erdboden näher und der Zeiger meines »Furchtometers« neigte sich den untersten Strichen zu. Meister Johann, der die ganze Zeit unten gestanden hatte, klopfte mir auf die Schulter:
»Bravo! Hast du gut gemacht. Jetzt ruh dich mal ein bisschen aus, ich muss noch mal kurz in die Stadt. Bin rechtzeitig vor Feierabend wieder da. Lass aber alles stehen, die Leiter holen wir dann gemeinsam runter! Alles andere kannst du schon wegräumen.«          
Er sagte es und verschwand mit seinem Fahrrad.
       
      Wie meintest Du? Auto? Nee, wir hatten kein Auto, Meister Johann hatte alles im Krieg verloren, das Einzige, was er noch hatte, waren jede Menge Schulden!
Jedenfalls war mein Chef nun weg. Ich setzte mich abseits auf eine kleine Mauer, schaute nach oben, betrachtete mein Werk und war richtig stolz auf mich. Nach einer halben Stunde wurde ich unruhig, ich brachte alle Gerätschaften in den Keller, wartete weiter. Johann kam und kam nicht, es war schon lange nach Fünf, mein Zug fuhr um Sechs und ich hatte noch eine halbe Stunde bis zum Bahnhof Emden-Süd zu laufen.
     Alles war fertig, sauber weggeräumt, der Lehrling saß wie auf heißen Kohlen in der Warteschleife, nur die lange Leiter stand da noch am Haus. Sie schaute mich vorwurfsvoll an, als ob sie mich fragen wollte, warum sie da noch stehen müsste! Sicher, ich fragte mich das auch, die Zeit drängte, der Boss war noch nicht da und ich musste doch zur Bahn. Wie jetzt weiter?
Und da hatte ich eine glorreiche Idee! Ich krieg das lange Biest doch auch allein in die Waagerechte, wäre doch gelacht, oder?
Bin ich nicht stark genug? Hab ich keinen Mut? Hab ich das nicht gerade bewiesen? Ich schaute mir die Leiter an, sie sah mich an, und indem wir uns so anguckten, fasste ich sie mit starken Händen und zog sie etwas aus der Schräge in die Senkrechte! Eine Hand oberhalb meiner Schulter, die andere in Höhe meiner Knie - so ließ ich das schwere Biest langsam in eine Schräglage kommen, die Füße der Holme standen jetzt fast am Haus, ich musste sie nur noch langsam rückwärts Hand über Hand herunterlassen und niemand hätte gemerkt, dass dort je eine Leiter gestanden hätte!
Also, meine Gedanken waren gar nicht so schlecht. Nur die Ausführung nahm ein katastrophales Ausmaß an.
       
       Meine noch sehr jugendlichen Muskeln waren meinen Plänen nicht so ganz hold! Sie konnten das Monstrum von Leiter nicht festhalten. Und so rutschen die unteren Holme langsam aber stetig am Haus empor, sie streiften die Fassade bis fast nach ganz oben und vernichteten unterwegs sämtliche Fenster, die ihnen auf dem Wege begegneten. Und das waren ihrer drei, pro Stockwerk eines!
Daraufhin - ich sah endlich ein, dass ich versagt hatte - ließ ich die Leiter ganz fallen und sprang zur Seite. In diesem Wirrwarr von Glassplittern, Kleinholz, Metallteilen lag nun der kleine Malerlehrling, der alles richtig machen wollte. Da bewahrheitete sich der alte Sinnspruch, dass Wollen noch lange nichts mit Können zu tun hat!
Mir selbst war nichts geschehen. Das war ein Pluspunkt; der zweite Umstand war nun aber, dass Meister Johann im gleichen Augenblick hinzukam, als mehrere Passanten mir Erste Hilfe leisten wollten. Diese Hilfe brauchte ich nicht, aber Meister Johann wurde blass wie ein Leintuch, als er den Schaden sah. Diesen Blick, mit dem er das Malheur betrachtete, vergesse ich nicht mehr. Ich fühlte mich saublöd, hätte mich selbst stundenlang ohrfeigen können.
Der gesamte Schaden belief sich damals - fünf Jahre nach dem Krieg - auf über fünftausend Deutsche Mark. Meister Johann sagte einfach zu mir: »Mach Dir man keine Gedanken, hätte mir auch passieren können, wir kriegen das schon hin!«
      
       So war Meister Johann. Dass er für eine solche verhängnisvolle Notlage in der damaligen Zeit überhaupt nicht versichert war, erfuhr ich erst später. So kam zu seinen vielen Verbindlichkeiten noch dieser fünf-tausendfache Berg hinzu, den ich verschuldet hatte, weil ich pünktlich Feierabend machen wollte!
Er hat es mir bis zu seinem Ende im Jahre 1954 nie nachgetragen ...


©by H.C.G.Lux
 

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Kommentare (1)

Roxanna

Solche Menschen begegnen einem nicht so oft im Leben, lieber Horst, das gehört zu den Sternstunden.

Herzlichen Gruß
Brigitte


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