Herr Kaulbach sucht eine letzte große Liebe


Die Frühlingssonne hatte die Menschen erwärmt. Mit jedem Sonnenstrahl kehrte Aufbruchsstimmung und neue Lust am Leben zurück. Vögel zwitschern zwischen den noch nackten Ahornbäumen und sauber renovierten Fachwerkhäusern. Die Obstbäume blühen bereits. Bei Kaulbach gegenüber ist eine Wohnung freigeworden. Im Café Florian am Marktplatz sind die Gartenstühle draußen; die kroatische Kellnerin Jana ist noch eine Spur freundlicher als sonst. Auch der alte Kaulbach sehnt sich nach Wärme und mehr. Er grübelt über einem Stück Papier.

„Gut erhaltener Endsechziger sucht eine letzte große Liebe. Oder eine liebe Nachbarin!“ Soll er das so polemisch formulieren? Oder doch besser mit mehr realen Angaben? Vielleicht auch ein paar allegorische Garnierungen dazu? Wie wäre es mit „Mann, 69/184/95, Bart- und Brillenträger, nach langer Berufstätigkeit jetzt Rentner und finanziell unabhängig, zuverlässig, humorvoll, tolerant, begeisterungsfähig, allem Schönen aufgeschlossen, was man eben so schreibt, vielseitig interessiert mit besonderer Vorliebe für Musik und Natur, möchte sich noch einmal verlieben und sucht Dame passenden Alters und mit ähnlichen Interessen für gute Nachbarschaft oder gemeinsamen Lebensweg!“

Kaulbach überlegt: Kann man sich mit solchen banalen und abgedroschenen Phrasen, die alles und nichts bedeuten, kann man sich damit öffentlich in einer Zeitungsannonce anpreisen? Peinlich, oder? Aber vielleicht muss man jetzt solche Plattheiten benutzen, um Erfolg zu haben? Der Zweck heiligt die Mittel. Was in der Werbung für Tütensuppen, Haarspray oder Autos erfolgreich angewendet wird, müsste doch auch für eine Werbebotschaft bei der Partnersuche gelten?! Besonders im fortgeschrittenen Alter, wenn man den Nachteilen auf die Sprünge helfen und sie mit gut gewählten Worten in Vorteile umwandeln muss. Warum sollten solche Phrasen nur Parlamentsdebatten und Wahlwerbung oder den Werbespots im Fernsehen vorbehalten sein? Wir sind doch längst auf allen Ebenen auf Worthülsen konditioniert.

Vielleicht bei der Altersangabe ein bisschen mogeln und das Passfoto von vor fünf Jahren schicken? Jenes gelungene Foto mit dem lustigen, unbeschwerten Lächeln, das noch Optimismus, Zuversicht und positive Lebenseinstellung ausdrückt und nichts von der schleichenden und unbarmherzigen Fortschreitung des Alterns zeigt. Aber was passiert dann beim ersten Rendezvous? Wenn die Neulackierung zur Besichtigung ansteht?! Die grauen Haare bräunlich tönen? Und was macht man mit den Krähenfüßen um Augen und Mundwinkel und dem beginnenden Doppelkinn? Einfache Behandlung mit Nivea hilft da nicht mehr. Scheißspiel! Unzufrieden legt Kaulbach den Kugelschreiber hin. Schreibt man gleich die Wahrheit, sinken die Chancen auf null. Trägt man aber zu dick Kosmetik auf, muss man nachher zittern, weil auch der schönste Kitt irgendwann abbröckelt. Niemand kann in einem potemkinschen Dorf ewig den Blender spielen. Ganz abgesehen von dem Stress, der mit dieser Lügerei verbunden ist.

„Letzte große Liebe!?“ Wie sich das anhört! Ist das oberflächlich oder tiefsinnig? Kann eine Frau daraus eine Schlussfolgerung ziehen? Wird sie ahnen, welche subtile Bedeutung, welche realistische und gleichzeitig beängstigende Erkenntnis hinter diesem Satz steht? Oder wird sie in unerfüllbare Träume verfallen, wie die Leserin einer jener bunten Zeitschriften, die beim Arzt im Wartezimmer ausliegen? Klingt „letzte“ gar wie eine Drohung, eine Mahnung, eine Erinnerung daran, dass wir den Zenit überschritten haben und es in ein paar Jahren oder schon morgen zu Ende sein wird; ein letztes Aufbäumen vor dem Abschied für immer? Eine Hoffnung, rührend und verzweifelt zugleich.

Du bist zu zimperlich, denkt Kaulbach. Warum lege ich alle Worte auf die Goldwaage? Lerne doch erst mal eine kennen, und dann wird man irgendwie weiter sehen. Es muss ja nicht gleich für immer und für den Rest des Lebens sein. Muss ich gleich eine ganze Kuh kaufen, nur weil ich ab und zu mal Appetit auf ein Glas Milch habe? Kaulbach grinst in sich hinein.
Was bedeutet denn diese ganzen Phrasen?

„Gut erhalten?!“ Noch einigermaßen in Schuss? Vorzeigbar? Vielleicht sogar „handwerklich geschickt“, sollte die angepeilte Dame ein Häuschen haben, an dem der verstorbene Ex bis zu seinem Tod gebastelt und noch ein paar Ausbesserungslücken für den Nachfolger gelassen hat.
Oder 'Erotisch noch gut drauf'? Wie „erotisch“ denn bitte? Was für die eine Frau Erotik ist, wird von anderen als aufdringlich oder gar als sexistisch oder pervers bezeichnet. Da soll sich einer bei den Frauen auskennen. Die Weiber wissen doch selbst nicht, was sie wollen. Oder soll er schreiben: "Ein gestandenes Mannsbild in den besten Jahren?" Was sind denn „die besten Jahre“? Nicht mehr ganz taufrisch, aber verlässlich und ein guter Gesellschafter?

Ist er in seinem Alter überhaupt noch als „gut erhalten“ zu bezeichnen? Die Phrase ist ja so was von abgedroschen! Ist er wirklich noch der Traumprinz für eine Frau? Oder wenigstens sein Abziehbild? Oder nur ein Schutz vor Einsamkeit, wo man auf Äußerlichkeiten und sexuelle Potenz nicht mehr so achtet? Wäre doch ein denkbarer Weg? Ein Arrangement für den praktischen Lebensalltag zweier einsamer Herzen? Sind solche Überlegungen nicht sinnvoll und Grund genug für einen Zusammenschluss zweier Menschen? Auch wenn es nicht mehr die große Liebe, sondern eine auf Vernunft und Toleranz basierende Partnerschaft wäre? Warum also Superlative im Bewerbungsschreiben, die sowieso niemand über einen längeren Zeitraum einhalten kann?

Kaum ein Mann stellt sich ehrlich diese Frage, und wenn, dann hat er auch gleich die Antwort: „Logisch bin ich noch ein Pfundskerl! Was denn sonst?“ Oder soll er zugeben, dass schon hundert Wehwehchen an ihm nagen? Lieber wird er den Bauch einziehen und mit der Hand die Halsfalten bügeln und ein spitzbübisches, keckes Lausbubengrinsen versuchen, dass er vor über dreißig Jahren in einem Robert-Redford-Film gesehen hatte. Wenn er nicht gerade zu den schüchternen Zweiflern und Weicheiern gehört, denen es ohnehin krankhaft an Selbstbewusstsein mangelt. Im Gegensatz zu jenen, die nach dem Motto „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“ anbaggern. Aber wo ist die gesunde Mitte? Selbstkritische Betrachtungen gehören selten zu unseren Stärken. In der eigenen Selbstüberschätzung liegt die Schwäche gleich zu Beginn von Partnerschaften. Kaulbach lacht in sich hinein. Eine ironische Selbsterkenntnis überkommt ihn; wie bei einem Trinker, der noch nicht völlig betrunken ist, aber bereits so viel intus hat, dass er Wahrheiten viel deutlicher erkennt als jeder Nüchterne.
Kaulbach ertappt sich dabei, wie er sich mehr und mehr in diese in Sarkasmus übergehende Ironie flüchtet. Als würde sie helfen, den Übergang ins Altern zu erleichtern und ihn vor dem großen Frust bewahren, der die meisten von uns befällt, egal ob wir’s wahr haben wollen oder verdrängen. Wir spielen noch mannhaft August den Starken, obwohl wir schon fast in der Kiste liegen und bilden uns ein, niemand würde es bemerken.

Aber spielen Frauen nicht das gleiche Spiel? Sind bei denen Eitelkeit und der Jugend- und Schönheitswahn nicht noch ausgeprägter als bei uns Männern? Nicht das Sein, sondern der Schein bestimmt das Bewusstsein. Was erwartet Frau denn noch in diesem Alter? Was kann man mit Siebzig überhaupt von einer Partnerschaft erwarten? Kribbeln im Bauch? Schmetterlinge? Jeden Tag zweimal auf die Matratze? Noch mal richtig den Tiger herauslassen? Oder gemeinsam vor der Glotze hocken? Sich zusammen besaufen? Durch Museen latschen? Über die Nachbarn tratschen? Über Gustav Mahler und Franz Kafka diskutieren oder über Thomas Gottschalk und die Fürstin von und zu Dingsbums? Kreuzworträtsel lösen oder eine Fernreise mit dem Kreuzfahrtschiff?

Was will ER eigentlich? Nicht mehr alleine sein? Streicheleinheiten? Eine Haushälterin mit Hang zum Sentimentalen; halb brave Küchenfee, halb Femme fatal und Blauer Engel?! Ein unverbindliches Techtelmechtel mit der Nachbarin? Oder gar endlich wieder mal richtigen Sex mit allem Drum und Dran? So wie früher. Wie denn das, wo die Kraft schon seit einer Weile nachlässt? Und mit wem? Mit einer Dreißigjährigen? Die lacht sich krank! Oder mit einer Gleichaltrigen? Als ob die es noch bringen würden. Die sind doch eingetrocknet, jenseits von Gut und Böse. Schau dir doch einmal diese grau melierten Dauerwellenzombies an, diese vernarbten und verhärteten Frührentnerwitwen mit ihren braven Blusen aus dem Versandhauskatalog und den Gesundheitsschuhen mit Fußstütze. Da sind die Mundwinkel Programm und das Goldene Blatt ersetzt den Brockhaus…
Und die anderen im Seniorenalter? Die modern Gestylten, Gelifteten, mit der kastanienroten Glanzhaartönung, die jetzt bei H & M junge Mode einkaufen oder sich sogar Paris oder Mailand als Wochenendtrip leisten? Die sind doch genauso alleine oder auf der Suche, dafür aber problematischer und anspruchsvoller als jede Aldi-Kassiererin. Vor den Gestylten, die auf ihr Äußeres achten und bewusst attraktiv sind, vor denen haben die Männer noch mehr Angst, als vor biederen Hausmütterchen. Oder holen sich die Gestylten heute jüngere Kerle? Kerle, die’s bringen? Und er, Kaulbach, bringt ER es denn noch? Ein verdammt heikles Thema für Männer seines Alters. Da helfen keine großkotzigen Kneipensprüche weiter und kein Viagra. Alles Jägerlatein!

Kaulbach geht ins Badezimmer und räumt die Waschmaschine aus. Die Annonce erst einmal auf Eis legen, beschließt er. So etwas muss wachsen, sich ergeben, es wird ihm schon noch ein Text einfallen. Er könnte auch mal ins Internet schauen. Aber sind Frauen in seinem Alter im Internet? Liebe per Email? Ist das nicht etwas für Verbalerotiker, die Angst vor Berührung haben? Er, Kaulbach, braucht die Berührung, hat Sehnsucht nach Zärtlichkeit, ja, er träumt sogar von richtigem Sex, und wenn es nicht mehr in der einen Form so gut geht, da gibt es doch zig andere fantasievolle Möglichkeiten; ja verdammt, darüber muss man doch mal reden, auch als Mann, so stark sollte man sein, um sich diese süßen Schwächen einzugestehen.

Aber kann man das in einer Zeitungsanzeige so deutlich schreiben? Kann man schreiben, ich bin Siebzig, aber die Lust auf Sex und Zärtlichkeit habe ich nicht verloren?! Na, die Frau möchte ich erleben, die sich auf sowas meldet. Wann gibt es schon mal einen Sechser im Lotto? Meistens sind es doch nur ein oder zwei Richtige mit oder ohne Zusatzzahl, wenn überhaupt. Was soll er denn mit Nieten? Die letzte große Liebe deines Lebens darf kein Trostpreis sein! Sie muss dir einfach so über den Weg laufen und dann muss es aus heiterem Himmel krachen. „Bumm und Woww!“.
Diesen Treffer kann man nicht mit ein paar banalen Worten einfangen. Weder im Internet noch in einer Zeitungsanzeige. Oder gar beim Seniorenschwof auf dem Ball der einsamen Herzen, Donnerstagabend beim Disco-Fox, wo Scheidungsopfer aller Altersklassen eine zweite- oder dritte Ehe anpeilen. Halb Zeitvertreib mit Nervenkitzel, halb Zeitverschwendung mit Frust. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Auch wenn sie aus Phrasen und Schablonen besteht.

Was drücken ein paar Millimeter Anzeigentext aus? Wie kann man einen Menschen in wenigen Worten beschreiben oder erkennen? Es mag für den Anfang reichen; aber wie geht’s dann weiter nach dem ersten Rendezvous? Kinobesuch und Blumen? Jeder Depp kann Blumen schenken! Je größer der Strauß, umso größer die Zuneigung? Im Restaurant französisch speisen? So tun, als ob man etwas von Wein versteht und Süßholz raspeln? Mit der Wahrheit und unseren kleinen Fehlern warten bis zuletzt? Hoffen, dass die Schmetterlinge flattern, lange bevor die Dame am Lack der Realitäten kratzt?

Kaulbach hängt die nassen Klamotten auf den Wäschehalter an der Wand. Der Kram wird über Nacht trocknen; morgen oder irgendwann in den nächsten Tagen wird er die Hemden kurz überbügeln, den Rest wird er ungebügelt in den Schrank legen oder in die Regale hineinstopfen, ganz wie ihm danach ist. Niemand kann ihm in seinen Alltag hineinreden.

Nein, ein Hausmütterchen braucht er nicht! Er ist die letzten drei Jahre seit Annas Klinikaufenthalt gut alleine über die Runden gekommen, ist weder verhungert noch im eigenen Dreck erstickt, hat seinen Haushalt im Griff. Anna ruft seit ein paar Wochen wieder an. In immer kürzeren Abständen. Er ist freundlich mit ihr, versucht sogar freundschaftlich zu sein. Er hat Mitleid mit ihr, leidet mit, im wahrsten Sinn des Wortes. Aber Mitleid ist keine Liebe und auch keine Grundlage dafür.
Anna will zu ihm zurück. Sie hat es nicht direkt gesagt, aber Kaulbach spürt es und er hat Angst davor. Er wird es nicht mehr schaffen. Die Liebe ist weg, und auch die Kraft. Alkohol ist eine Katastrophe für alle Beteiligten und unheilbar. Auch wenn Anna zuletzt von der geschlossenen Abteilung in die halb offene verlegt worden war und jetzt auf Wohnungssuche ist. Kaulbach wird sie nicht mehr bei sich aufnehmen. Anna weiß es. Sie haben darüber gesprochen. Aber ob Anna es auch einsieht? Wenn Seele und Kopf angefressen sind, gehört die Unberechenbarkeit zum Überraschungsprogramm.

Kaulbach schaut in seinem Arbeitszimmer auf den Computer. Bunte Fenster schweben über den Bildschirm und lösen sich in den Ecken auf. Er geht in die Küche und blickt suchend in den Kühlschrank. Er könnte die Pellmänner von gestern in dünne Scheiben schneiden und als Bratkartoffel knusprig rösten und vielleicht ein Schnitzel aus dem Gefrierfach und eine Tomate als Salat aufschneiden und etwas Mayo hinzu und eine Flasche Bier. Das Leben kann so unkompliziert sein.

Viktor ist noch einfacher zu befriedigen. Kaulbach öffnet eine Büchse und kratzt das Futter in den Fressnapf. „Komm Viktor! Hamham!“ ruft er. Viktor kommt träge aus seiner Ecke hinter dem Fernseher hervorgeschlichen. Er schaut Kaulbach an, wedelt mit dem Schwanz und reibt seine Schnauze an Kaulbachs Knie. Kaulbach grault der Promenadenmischung den Hals. Dann beugt sich Viktor über den Napf und beginnt zu schmatzen. Um Acht schielt Kaulbach mäßig interessiert ins Wohnzimmer auf das Flimmern der Fernsehnachrichten.

Das Leben ist träge geworden wie zäher Teig. Was haben wir aus den Jahren gemacht? Welche Möglichkeiten haben wir noch? Es ist, als würden wir auf das Sterben warten und zwischendurch zum Zeitvertreib noch ein bisschen Theater spielen, auch wenn sich das mehr und mehr zur Schmierenkomödie entwickelt. Kaulbach ist verbittert und auch ungerecht und flüchtet sich in Sarkasmus. Er weiß es. Aber es gibt solche Stunden. Und sie werden zahlreicher! Was kann man dagegen tun?

Kaulbach ordnet das Geschirr in das Gitter der Spülmaschine, säubert mit einem Schwamm das Abflussbecken; er mag die matten Fett- und Wasserflecken auf dem silberfarbigen Aluminium nicht, obwohl er sonst auch mal alle Fünfe gerade sein lassen kann. Aber heute ist ihm nach Ordnung und Aufräumen zumute, als würde es ihm helfen, Ordnung in seine Gedanken zu bekommen. Er trocknet seine Hände, schaut sich noch einmal prüfend in der Küche um, schaltet das Licht aus und geht ins Wohnzimmer. Als er sich unschlüssig vor den Computer setzen will, klingelt es an der Tür. Kaulbach blickt verwundert auf die Uhr und öffnet.

„Anna!“
Kaulbach ist erstaunt und irritiert.
„Störe ich?“ fragt Anna und bleibt unsicher vor der Tür stehen.
„Nein!“ Ein langgezogenes, zögerndes Nein. Dann fügt er hinzu: „Das heißt, ich meine …“. Kaulbach findet keine klaren Worte. Anna hatte sich halb um-gedreht, so als wollte sie wieder gehen. „Doch, ich störe! Man sieht es dir an!“

„Nun komm’ erst einmal herein!“ sagt Kaulbach und greift wie automatisch nach Annas Arm. Zögernd folgt Anna und setzt sich an den Küchentisch. Sie ist müde, denkt Kaulbach mit einer wieder aufkeimenden Zuneigung. Erschrocken fragt er sich, ob es Mitleid oder noch Liebe ist. Tränen tropfen aus Annas Augen. Kaulbach holt ein Taschentuch und tupft sie ab. Mit der anderen Hand berührt er ihre Haare; erst zögernd, fast hilflos nähert er sich, aber dann greift er zu und seine Hand streichelt warm und fest über Annas Kopf, wie hundertmal zuvor und Kaulbach erschrickt und gleichzeitig überkommt ihn ein Gefühl von Vertrautheit.

„Ich habe gehört, die Wohnung bei dir gegenüber ist frei geworden“, sagt Anna leise. Kaulbach denkt einen Augenblick nach, dann antwortet er: „Ja, sie ist frei. Die beiden jungen Leute sind ausgezogen. Die Wohnung ist zu klein für zwei, aber ausreichend für eine Einzelperson…!“
Sie schauen sich an, schweigen und wissen nicht weiter…

Michael Kuss (Berlin)

Anzeige

Kommentare (5)

MichaelKuss Lieber Horst, danke für deinen Kommentar zu meiner Kurzgschichte "Herr Kaulbach sucht...". Ich bin glücklich, dass du den tieferen Sinn dieser Geschichte erkannt hast. Dabei hat deine eigene Lebenserfahrung wahrscheinlich auch eine Rolle gespielt.

Wie ich lese, bist du auf der Suche nach einer Partnerin und sehr offen berichtest du von den Kratzern an Leib und Seele und von der Einsamkeit. Ich hoffe, dass eine Frau den Mut aufbringt, mit dir zu korrespondieren und dass dann mehr daraus wird. Aber es sollte doch bei den vielen einsamen Frauen möglich sein, dass eine darunter ist, die dein offenes Profil und deine Aufrichtigkeit zu schätzen weiß. Jedenfalls wünsche ich dir Erfolg bei der Suche.
Einen lieben Gruß aus Berlin sendet dir
Michael Kuss
Silberhaar Diese Geschichte trifft haargenau ins Schwarze. Das kann man erst dann beurteilen, wenn man altersmäßig (80), mental und aus einem gelebten Leben heraus in so eine (einsame) Situation geraten ist. Große Zustimmung zu dieser realen Beschreibung. Silberhaar
MichaelKuss Liebe Haselmaus, erstmal danke für deine Anmerkung. Aber die Geschichte geht aus wie sie ausgeht und endet für mich, wo ich sie habe enden lassen. Ich habe das Ende bewusst offen gestaltet und überlasse es den Lesern, sich für eine abschließende Interpretation zu entscheiden. Unter den Lesern wird es wahrscheinlich die unterschiedlichsten Meinungen dazu geben, zumal die Geschichte ja auch dermaßen zahlreiche Nuancen und Vielschichtigkeiten enthält, dass die Fragen nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantwortet werden können.

Danke auch an Christl, die in der Geschichte zahlreiche Nuancen erkannt und mit ihrer Meinung versehen hat. Allerdings möchte ich anmerken: Es geht nicht nur um Anna, nicht um Alkoholismus, nicht um Stehaufs zerbrochenes Verhältnis mit Anna (das sind alles Nebenbei-und Rand-Aspekte); es ging mir primär um den Umgang von Wahrheit und Heuchelei, in diesem Fall am aktuellen Beispiel, eine einigermaßen ehrliche Bekanntschaftsanzeige zu gestalten.
christl1953 Deine Geschichte mit den Inseraten ist wunderbar erzählt und man könnte fast sagen,wie im richtigen Leben.
Was geht einem Menschen doch so alles durch die Gedanken.
Alleine zu sein hat sein Gutes aber nicht immer ist es gut.
man kann allerdings auch zu zweit ganz schön alleine sein,wenn sich unterschiedliche Bedürfnisse darstellen.
Es ist wie es ist,dass Mann und Frau unterschiedlich über manches denken.Zum Beispiel die Sache mit dem Sex.
Während bei vielen Männern ,gerade im vorgerückten Alter dieses Thema meistens vordergründig ist;so kann das bei uns Frauen leicht zu den abgehakten Dingen des Lebens zählen.
Wenn gleich das nicht den Verzicht auf Zärtlichkeit und liebevolles Miteinader ausschließt.Oft sind es jedoch gesundheitliche Gründe,die dieses Thema gezwungenerweise
ausschließen wollen.Ichdenke aber ,es gibt viele andere Dinge,die ein Zusammenleben für beide zu einem erfüllten Dasein gestalten können.Schon das Gefühl dass man zusammen aufwacht ,zusammen frühstückt und viele Dinge einfach gemeinsam macht ,verbindet und läßt Nähe als Glücklichsein
fühlen.Und außerdem,wer möchte nicht,wenn er krank ist auch
den guten Zuspruch und die liebevolle Betreuung spüren dürfen. Leider wird es mit zunehmendem Alter aber auch schwieriger den richtigen Partner zu finden,da ja jeder
ein gelebtes Leben und oft auch anhängende Familien Lasten oder Probleme hinter sich her schleift.Das kann dann auch nicht einfach abgehakt werden.Aber zu allem Schluß möchte ich der geschichte folgen und wünsche dem Titelhelden,dass er sich mit seiner alten Liebe auf ein gutes Nebeneinander in getrennten Wohnungen einigt und dann wird es die Zeit bringen,ob siech diese Anna trocken halten kann und zu einer richtig guten Partnerin für ihn wird-die frühere Liebesbeziehung hat vielleicht noch eine gute Chance auf Neuanfang.das war mein Kommentar zu dieser sehr realen Gaschichte hier.
ehemaliges Mitglied Ich mußte lächeln bei deinen Worten. Manchmal hast du direkt mir aus dem Herzen gesprochen. Ja, ich gehöre zu den kastanienrot gefärbten 70igerinnen. Aber auf der Suche bin ich schon lange nicht mehr (oder doch???).
Ich hoffe, deine Geschichte geht gut aus und er nimmt Anna als Nachbarin auf.

LG Haselmaus

Anzeige