Horst

Fast jeden Tag begegne ich ihm. Horst ist so was wie ein Original für mich. Im Sommer sitzt er in seinem abgeschabten Jeansanzug auf dem Marktplatz. Meist hat er eine Dose Bier in der Hand, und sein Kofferradio ist immer dabei. Winters zieht er mit tausend Tüten und Taschen bepackt durch die Stadt, hin und wieder sehe ich ihn bettelnd an einer Straßenecke sitzen.

Was mich an Horst fasziniert sind seine Augen. Sie entsprechen nicht seinem Äußeren. Er geht gebeugt, ein wenig schleppend. So, als hätte er stets eine Last zu tragen die ihn erdrückte. Doch die Augen sind kraftvoll und beweglich. Staunend beobachte ich oft, wie der Film der Trunkenheit, der fast immer über ihnen liegt, das Leuchten von Liebe zu verstärken scheint. So blickt er geradezu zärtlich zu mir auf, wenn er mich um eine Zigarette bittet.

Mich fasziniert dieser Blick, weil er für mich so unerwartet aus diesem Menschen kommt. Horsts Augen blicken so liebevoll, so offen und so treu, wie ich es nur von einem Hund kenne. Oder von einem Kind.
Horst ist nicht unglücklich. Sagt er. Er wäre unabhängig.

Horst ist nicht arm. Sagt er. Gerade weil er nichts besäße, was man ihm nehmen könnte, wäre er einer der reichsten Menschen.

Horst ist nicht einsam. Sagt er. Nirgends sonst könnte er auf so viele warme Menschen treffen wie in seiner Situation. Den kalten widmet er keinen Gedanken.

Horst hat keine Sorgen. Sagt er. Und er sagt das in der Gewissheit eines Menschen, der den nächsten Tag kommen lässt, um – wie an jedem Morgen – sein Leben neu zu beginnen.

Horst denkt nicht an die Zukunft. Sagt er. Er lebt im Jetzt. Und im Jetzt gibt's auch keine Vergangenheit.
Dabei ist seine Vergangenheit erstaunlich. Chefarzt einer Privatklinik, Haus und Familie in Hamburgs Elbchaussee. Dann der Vorwurf des Drogenhandels. Gefängnis. Danach der gesellschaftliche Abstieg, dann der Ausstieg. Und mit dem Ausstieg wurde er zum Gewinner. Sagt Horst.

Wenn Horst spricht, spricht er wie ein "Penner" – wenn er redet, redet er gepflegt. Seine Klugheit und seine Weisheit machen staunen. Man hat das Gefühl, er hätte die ganze Welt gesehen. Dabei sind es nur die Menschen, die er kennt.

Es ist leicht, Horst eine Freude zu machen. Eine Zigarette, 'n Euro oder auch nur ein freundliche Lächeln oder Winken über die Straße. Horst nimmt, was man ihm gibt. So zufrieden ist er.

Das, was Horst nicht nimmt, ist meine Hand.

Die braucht er nicht.

Sagt Horst.


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Kommentare (6)

Zwergohreule

Als ich noch jung und hübsch war, bin ich in der Mittagspause mal in die Kantine gegangen, der Weg dahin führte durch einen kleinen Park.

Auf einer Bank saßen mehrere "Horsts", die mir nicht etwa nachgepfiffen haben, obwohl das zur damaligen Zeit noch nicht als Beleidigung, sondern als Kompliment aufgefasst worden wäre.
Nein, einer von ihnen grüßte mich freundlich. Ich habe ihn angelächelt und zurückgegrüßt und bin weitergegangen. Dann habe ich hinter meinem Rücken den Satz gehört: Das war aber eine Nette!
Das freut mich bis heute, obwohl es keine besondere Leistung ist, jemandem eine Zigarette, einen Euro, ein Lächeln oder einen freundlichen Gruß zu schenken.

Eine andere Qualität ist es schon, Asylbewerbern Sprachunterricht zu geben, eine Flüchtlingsfamilie in sein Haus aufzunehmen oder eine einsame Witwe zu einem Ausflug mit einzuladen ... (kein Anspruch auf Vollständigkeit!)

ehemaliges Mitglied

Ich bin auch einmal einem "Horst" begegnet.
Ich habe ihn gefragt, ob ich sein "Hundi" fotografieren dürfte. Er hat es - wie man sehen kann - erlaubt. Danach war dann sein Becher nicht mehr leer, weil ich ihm dankte.
Bettelhund.jpg

Ernu

@NearBy  
Ja, ihre Hund verdienen das Geld ;-)

Matthias M.

Habe gerade vor ein paar Tagen so einen "Horst" kennengelernt ...

Ich war mittags mit meinem Hund unterwegs und "mein Horst" saß auf einer Bank, trank an einer Dose Bier und kaute an einem Brot.

Bevor ich es richtig wahrnahm war mein Hund am betteln und Horst ließ ihn wie selbstverständlich von seinem Brot abbeißen ...

Auf meine "Entschuldigung" reagierte Horst ...:
"Is´ doch ok ... wir haben beide Hunger, und da teile ich gerne ...!"

Wir haben uns beide nur kurz angelächelt und ich bin sehr berührt weitergegangen ...

Ich habe mir für die nächste Begegnung vorgenommen mich zu ihm zu setzen und ihn zu befragen ..., was er für ein Horst ist ... war ... 

Danke für deinen Beitrag Ernu 

Ernu

So hab' ich auch "meinen" Horst kennengelernt. Er hat mich lange Zeit und öfter  um etwas Geld gebeten. Irgendwann hab' ich mich mal zu ihm gesetzt, als er allein war.

Mary-Lou99

Eine Geschichte, die nachdenklich macht. Ich kann Horst ein Stück weit verstehen, wenn ich auch nicht mit ihm tauschen möchte...

Auch gut in Worte gefaßt!


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