Hugo, mein Onkel in der Fremde


Hugo, mein Onkel in der Fremde

Parallel verlaufende Stein-Moränen, neben Traubengärten, die zur Tauber hinabfließen kennzeichnen den Landstrich, in den ich mit zwölf Jahren schicksalhaft gespült wurde. Flucht durch den Odenwald vor den Amerikanern in einer der letzten Kampfhandlungen mit deutschen Truppen, die für den Endsieg fochten, an den nur noch glaubte, wer seine Sinne verloren hatte.
Auf steinreichen und ausgedorrten Böden wurde ich beim Weiterziehen gebremst. Mein Wunschziel waren die bayrischen Alpen und Bergseen. Wie bei der Kinder-Land-Ver-schickung.
Keinen Zoll breit weiter, sagt meine Mutter. Hier gibt es kein Davonlaufen mehr. Es wäre total sinnlos.
Die Administration des kleinen Bauerndörfchens mit seinen vierhundert Einwohnern an der östlichen Begrenzung des Odenwaldes gibt mich wie einen Findling in die Hände von Hugo.
Plötzlich steht er vor mir, die linke Hand in der Hosentasche vergraben und mit den Fingern der rechten seine kurzborstigen und leicht ergrauten Haare kämmend. Er fragt, wie alt bist du und wie heißt du? Woher kommst du?
Ich heiße Franz. Zwölf Jahre. Bin aus Jugenheim zusammen mit meinem Bruder und meinen Eltern vor den Amerikanern geflohen und zu Fuß bis hierher gekommen.
Beachtlich! Dein Schuhwerk muss erneuert werden. Da hängen die Fetzen davon. Du stehst beinahe auf deinen Strümpfen. Die Füße schmerzen bestialisch. Ich werde dir neue alte besorgen von Karl, von meinem Sohn. Deine Hosen sind zerschlissen. So kannst du nicht rumlaufen. Müssen auch ein paar ordentliche her. Vielleicht ein bisschen zu groß für dich. Komm mit ins Haus! Seine Frau blickt misstrauisch aus den Augen. Ich will keinen Ton hören, sagt er zu ihr und schiebt mich an ihr vorbei. Wie mir das peinlich ist!
Hugo ist wirklich etwas Besonderes. Ein drahtiger Kerl von feingliedriger, aber fester Statur. Gut aussehend. Mit markantem, aber gütigem Gesicht, hinter dessen Augen sich eine gewisse Schläue verbirgt. Er wird meine Wesensart mehr prägen, als dies mein Vater oder meine Mutter je gekonnt hätten. Ein athletischer Typ ist er, der seinen Bauernhof allein betreibt. Wie auch immer, Hugo versteht sich selbst weder als Landwirt noch als Künstler, der er viel lieber wäre. Kunstgärtnerei, Musik, auch klassische und Literatur steckten ihm im Kopf. Er trägt Gedichte vor, spielt Klavier, dirigiert die örtlichen Musikkapelle und spielt in ihr die Kontrabasstuba aus spiegelndem Messingblech.
Die Dorfbewohner waren in der Zeit seiner Eltern in zwei feindliche Lager gespalten: in das bürgerlich-katholische, die „Frommen“ und in das bürgerlich-liberale, die „Liberalen“. Verursacht durch die Bigotterie des einstigen Dorfpfarrers. Der legte sich allsonntäglich zur Überprüfung sittlicher Verfehlungen als oberster Moralhüter mit dem Feldstecher auf die Lauer, über alle jungen, sich liebenden und über die Felder spazierenden Pärchen – auch wenn er dazu in die Astgabelungen eines Apfel-, Zwetschgen- oder Kirschenbaumes kraxeln musste.
Hugos Mutter gehörte dem bürgerlich-katholischen Lager an, das ihm stets zuwider war, und das der bürgerlich-liberalen Bewegung feindlich gegenüberstand. So schwebte Hugo zwischen zwei Stühlen.
Denn: Seine wahre und einzige große Liebe gehörte Karoline, einer jungen hübschen Frau, die er bis ans Lebensende tief liebte, aber in seinem Herzen verbergen musste. Es ist kaum fassbar. Ich erfuhr dies erst nach Jahren von ihm, als ich selbst verheiratet war.
Hugo konnte die dem liberalen Lager zugehörende Karoline wegen der Konventionen zwischen den beiden örtlichen Parteien nicht ehelichen. Seine Mutter hätte, das schwor sie ihm, für alle Zeiten mit ihm gebrochen. Obwohl sein Vater auf seiner Seite stand und sogar eines Sonntags zur Messfeier die Jagdflinte unter seinem Sonntagsmantel in die Kirche mit nahm, um den Moralapostel, wie er den Pfarrer nannte, „vom Altar zu fegen.“ Nur gegen seinen Widerstand sei er davon abgehalten und vor den Richter gebracht worden. Dieser sei aber gnädig mit ihm verfahren und habe ihn, außer eines geringen Bußgeldes sowie einer eindringlichen Verwarnung, laufen lassen.
So kam es, dass wegen der Verbindlichkeiten mit vielen ihm zugetanen Dorfbewohnern, das Schicksal Hugo die Loyalität mit den „Frommen“ abtrotzte.
Er musste zwar nicht, heiratete aber unter einem inneren Zwang, die dem bürgerlich- katholischen Lager angehörende Victoria, ein sittsames und gestrenges Frauenzimmer. So konnte die Contenance bewahrt werden und die Besitzverhältnisse von Land und Viehzeug stimmten. Ein kapitaler Fehler, wie sich später noch herausstellen wird, obwohl sich durch die Heirat sieben Hektar karger Boden durch den zugeheirateten Besitz auf zwölf Hektar mit all den Apfel- und Zwetschgenbäumen vermehrten.
Mit Victoria zeugte Hugo einen Sohn. Den einzigen Menschen, den sie abgöttisch liebte. Weitere Kinder konnten nicht kommen.
Dieser, jetzt siebzehnjährige Junge, Karl, darbt noch in den letzten Kriegstagen in tschechischer Gefangenschaft. Es dringt einige Jahre keine Nachricht von ihm nach Hause. Aber es wird sich nach seiner Rückkehr zeigen, in der Zeit seines Grfangenendaseins verkümmerte seine Seele und machte aus ihm einen Grobian.
Man muss sich das nur einmal vorstellen! Hugo verkehrte, wie er mir Jahre später gesteht, als Siebenundzwanzigjähriger nur ein einziges Mal, in einer einzigen Nacht, mit Victoria. Zu dem alleinigen Zweck, einen Sohn zu zeugen.
Danach nicht mehr? Wirklich nie mehr? Sie war doch erst zweiundzwanzig? Gewiss, vielleicht hätte es ein Jahr später einen weiteren Verkehr gegeben, wenn es beim ersten Mal kein Junge, sondern ein Mädchen geworden wäre.
Victoria widerstand Hugos anfänglichen Begehrlichkeiten, indem sie ihre Körpermasse auf über Hundert Kilo anhob und ihr Umfang den einer Regentonne annahm, in dessen fataler Folge sie schwer zuckerkrank wurde und handtellergroße offene Wunden in den Beinen davon trug. Kaum, dass sie sich noch fortbewegen konnte. Geschweige denn, dass sie zum Lieben fähig gewesen wäre.
Die Besonderheit dieses Einschnittes in Hugos Leben, bestimmten dieses bis zu seinem Tod, und im erweiterten Sinne meines mit.
Ich sage Onkel zu ihm, verehre und liebe ihn. Keine der Arbeiten im Stall und auf den Feldern ist mir zu viel. In den folgenden vier Jahren besuche ich vormittags die Schule, transportiere die im Frühjahr von den Kleeäckern aufgelesenen Steine zu den Steinmoränen über der Tauber, füttere täglich die Kälbchen und vier Kühe, die ich am Abend melke, bringe die Milch zur örtlichen Milchzentrale, pflüge, wenn es sein muss, mit den vier Kühen, die steinigen Böden auf den Höhen überm Taubertal und stecke im Frühjahr die Saatkartoffeln, mähe mit der Mähmaschine für die Heuernte Wiesen, und den Klee, ernte mit der Sichel Grünkern, röste diesen in Darren zu Dinkel, mähe mit der Sense Korn und Weizen, die mit dem Handflegel auf der Tenne gedroschen werden, reiße Futter-Rüben aus für die Kühe, und ernte im Spätjahr zu meines Onkels Zufriedenheit neben ihm. Für ihn wird meine Hilfe immer mehr zu einer großen Entlastung, weil ihm im Ersten Weltkrieg ein Granatsplitter seinen rechten Arm zertrümmert hatte, an dessen Folgen er später sterben wird.
Dann kehrt sein Sohn Karl zurück, womit das eigentliche Drama, das mit der einst verbotenen Lieb Hugos zu Karoline seinen Anfang genommen und nun einem Höhepunkt zustrebt. Denn Karl verliebt sich in deren Tochter Lioba und heiratet diese.
Hugo wird ein anderer. Er verkraftet dieses schicksalhafte Ereignis nicht. Seine Schwiegertochter meidet er wie der Teufel das Weihwasser. Denn diese ist ja das Kind seiner über alles geliebten Karoline, die er einst, wegen einer als sinnlosen Animosität zu bezeichnenden Lagerbildung im Dorf hatte nicht heiraten dürfen.
Hugo dreht regelrecht durch. Er plärrt durchs Haus, ich werde Karl enterben und das Gehöft mit allem drum und dran Franz übereigenen. Was überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Er hätte es wissen können, aber die Ereignisse verblenden ihn und rauben ihm jeden klaren und vernünftigen Gedanken. Ich erschrecke zutiefst über sein Ausrasten, das mir bis dahin fremd geblieben war.
Dann verlässt er an einem Sommerabend heimlich den Hof und zieht über drei Hügel hinweg in die Ferne. Nach vierstündiger und fast verzweifelnder Suche – die Sonne ist bereits untergegangen - finde ich ihn am Waldrand in Tränen aufgelöst, gut fünfzehn Kilometer von seinem Zuhause entfernt. Es gelingt mir nur mühsam, ihn von seinem Vorhaben, einen Suizid zu begehen, abzubringen.
Danach fliehe ich in meine pfälzische Heimat und beginne eine Ausbildung.
Erst drei Jahre später findet Hugo die Versöhnung mit sich selbst und der Welt wieder, wenn er seine Enkel, ein Mädchen und einen Jungen auf seinen Knien wiegt.
Wenn er bei der Fronleichnamsprozession seine Kontrabasstuba bläst, oder ein Tag vor Allerheiligen die schönsten weißen Astern und Chrysanthemen des Ortes zum Friedhof trägt, liegt ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht und er ist wieder der alte.

© Horst Ditz, November 2008

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Kommentare (2)

harfe so kann Heimat auch in der Fremde Wirklichkeit werden und die Erinnerungen leben als ein Stück davon in uns weiter.
pelagia sind unsere Erinnerungen, die unser Leben prägen, begleiten und weiterleben dürfen.

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